Saldenmechanik und die Frage der Moral

Für viele Medien und Politiker war von Anfang an klar:

Die Eurokrise sei verursacht worden von einigen „Sünderstaaten“, die über ihre Verhältnisse gelebt hatten. Sie hatten sich etwas zu Schulden kommen lassen, hatten zu gut auf Kosten anderer gelebt, seien anfällig für Korruption und zu wenig produktiv gewesen. Besonderes Ziel dieser Anschuldigungen waren natürlich die Griechen, die aufgrund ihrer extrem hohen Staatsverschuldung die größten Sündenböcke darstellten.

2011 Greece Uprising
2011: Griechische Proteste gegen den IWF in Athen

Und weil diese Ansichten auch von Ökonomen und Beamten der europäischen Organisationen, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Gläubigerstaaten sofort übernommen worden waren, so entstand für einen großen Teil der Öffentlichkeit der Eindruck, die Frage nach der „Schuld“ für diese Krise sei klar erkennbar und eindeutig.

So war es auch klar, dass nun die braven und fleißigen Staaten als Richter auftreten mußten, um diese Sünder abzuurteilen. Auf diese Weise wurden die Schuldner ohne zu Zögern von vornherein als Schuldige ausgemacht, ohne über weitere mögliche relevante Zusammenhänge überhaupt erst nachdenken und sprechen zu müssen.

Vor allem die Volkswirtschaftler der klassischen Schule gehörten zu denen, die von Anfang an andere Erklärungsmöglichkeiten und Deutungen offenbar gar nicht zulassen wollten.

Was aber ist wirklich dran an solchen Vorwürfen bzw. wie sollte eine gesamtwirtschaftliche Analyse eines solchen Krisenfalles tatsächlich aussehen?

Wie beurteilt man die Ursachen und Bedingungen, die für die Ursachenforschung und die Bewertung durch die Nationalökonomie notwendigerweise zu beachten sind?

Saldenmechanik als Modell wirtschaftstheoretischer Ursachenforschung
Nun, auch zu dem Thema der Ursachenforschung durch wirtschaftstheoretische Modell-Analysen (denn um nichts anderes handelt es sich bei den Erklärungsversuchen von Ökonomen der verschiedenen volks- wirtschaftlichen „Schulen“) hat uns der deutsche Ökonom Wolfgang Stützel in seiner Abhandlung über die volkswirtschaftliche Saldenmechanik wertvolle Hinweise hinterlassen.

Gegenstand der Saldenmechanik sind demnach nur die „trivial-arithmetischen“ Zusammenhänge, die nicht durch menschliches Verhalten verursacht werden und nicht auf den Annahmen und Vorausetzungen eines volkswirtschaftlichen Modells beruhen (siehe auch Saldenmechanik – erklärende und vertiefende Beispiele, Wettbewerb der Nationen als saldenmechanisches Paradoxon sowie Sparen und Investieren – Versuch einer Richtigstellung).

Durch ihre Natur als Gleichungen ähnlich mathematischer Formeln sind diese Grundsätze ohne Einschränkungen allgemein gültig, sie bestehen in jedem Fall, gleichgültig wie sich die Menschen verhalten oder welche Theorien gerade mal wieder „modern“ sind. Daher bilden diese „Sätze“ der Saldenmechanik natürlich den Rahmen, den jede wirtschaftstheoretische Aussage und Analyse zu beachten hat, um nicht von vornherein wegen des Verstoßes gegen arithmetische Grundregeln der Volkswirtschaft generell unbrauchbar zu sein. Durch die Allgemeingültigkeit dieser Zusammenhänge sind sie bei Überlegungen zur Ursachenforschung volkswirtschaftlicher Problemstellungen zwingend und selbstverständlich zu berücksichtigen.

In seinem Buch “Volkswirtschaftliche Saldenmechanik” (1978, S. 88) beschreibt Stützel dies treffend so:

Wo auch immer bei nationalökonomisch-theoretischen Aussagen oder auch bei Aussagen zur rückblickenden Beschreibung der Zusammenhänge in historischen wirtschaftlichen Verläufen an Stelle des vollständigen Gefüges aller notwendigen und hinreichenden Bedingungen gewisse Faktoren hervorgehoben werden und dadurch ausgezeichnet werden, daß man sie zur Ursache oder zur Mitursache bestimmter Verläufe stempelt, wird notgedrungen der strenge Funktionalismus der reinen Theorie verlassen und eine in gewissen Grenzen willkürliche Bewertung vorgenommen.

Ist wertfreie Ursachenforschung überhaupt möglich?
Über die immer gültigen Grundsätze der Saldenmechanik hinaus weist Stützel damit allen anderen Ursachen und Bedingungen den Wert von „nachrangigen“ Variablen zu.

Während also die trivial-arithmetischen Funktionen strengsten Anforderungen gerecht werden (sie sind immer erfüllt), ist dies bei anderen Ursachenerklärungen gerade nicht der Fall. Es müssen dann andere „Parameter“ gefunden werden, um über die Gültigkeit solcher Aussagen urteilen zu können. Mit der Auswahl dieser Parameter aber wird dann oft der Bereich einer „wertfreien“ wirtschafts- wissenschaftlichen Ursachenforschung verlassen.

Denn Stützel stellte auch fest, dass eine solche wertfreie Wirtschaftstheorie eben nur im Rahmen von gleichrangigen Bedingungen (= Grundsätze der Saldenmechanik) möglich ist, alle darüber hinausgehenden „Ursachen“ sind im Prinzip beliebig beurteilbar. Eine eindeutige Abgrenzung ist dann nur noch durch moralische Werturteile möglich. Aber selbst, wenn eine solche Abgrenzung aus pragmatischen Gründen vorgenommen wird, liegt trotzdem oft der Verdacht nahe, dass diese nur den Vorwand für die Verbreitung und Anerkennung von ganz spezifischen moralischen Urteilen als allgemeiner Sprachregelung liefern sollen.

Beliebigkeit einzelwirtschaftlicher moralischer Werturteile
Ein solcher Fall ist z. B. die Zuweisung der angeblich unhaltbar gestiegenen Staatsschulden als einer der Gründe für die Eurokrise. Die Grafik weiter unten widerlegt diese Behauptung aber eindeutig und zeigt auf, dass in dieser Frage eine eindeutige Schuldzuweisung aus dieser Richtung nur dem allgemeinen einzel- wirtschaftlichen Werturteil „wer Schulden macht ist immer schuld“ entspricht.

Gesamtwirtschaftlich sind die Zusammenhänge, die letztlich zur Finanz- und damit auch zur Eurokrise geführt haben, wesentlich komplizierter und nur unter Berücksichtigung saldenmechanischer Grundsätze erklärbar. Die Höhe der Staatsschulden hat damit erst einmal so gut wie nichts zu tun, sie ist lediglich ein Verteilungsbegriff, der über die Aufteilung von Vermögen und Schulden in einer Volkswirtschaft informiert.


mit freundlicher Genehmigung von diekriseverstehen.net
Grafik ursprünglich aus Flassbeck, H. (2012): Zehn Mythen der Krise, Berlin.

Ähnliches gilt übrigens auch für die Korruption, die oft für den wirtschaftlichen Niedergang der europäischen Krisenländer verantwortlich gemacht wird. Es ist sicherlich unstrittig, dass eine ausufernde Korruption große ökonomische Schäden hervorrufen kann. Aber wie ist dann zu erklären, dass andere Länder wie Venezuela oder Mexiko, die nach internationalen Maßstäben noch mehr unter Filz und Vetternwirtschaft litten als die Südeuropäer, in den letzten Jahren zu den wirtschaftlich stärksten Nationen der Welt gehörten?

Auch hier zeigt sich, dass die Korruption allein nicht die einzige oder die bestimmende Ursache der folgenden Entwicklung sein kann. Die Festlegung dieses Parameters als einen der Hauptgründe für die Eurokrise beruht wieder auf einem bestimmten Werturteil, dass hauptsächlich aus moralischen (einzelwirtschaftlichen) Beweggründen erfolgte. Auch in diesem Fall werden die saldenmechanischen Grundsätze, die unabhängig von solchen bewertenden Urteilen immer gültig sind, zugunsten einer großen Beliebigkeit zumeist nicht beachtet.

Die politische Diskussion muss wieder gesamtwirtschaftlich werden
Diese und andere nicht wertfreie moralische Beurteilungen erfordern dann aber auch nichts anderes, als das die Volkswirte die gesamtwirtschaftliche Logik wieder in die politische Diskussion einbringen müssen, um diese nicht zu einem Diskurs über Ideologie oder einzelwirtschaftliches Kalkül verkommen zu lassen.

Denn für den Großteil der Bevölkerung, für Unternehmer ebenso wie für Politiker und Medien, ist im Allgemeinen das Verständnis von ökonomischen Abläufen in der Wirtschaft durch ihre einzelwirtschaftliche, haushälterische Erfahrung geprägt, die aber häufig in die Irre führen kann, wie die oben gezeigten Beispiele der Eurokrise eindrucksvoll beweisen.

Auf die Frage, ob der Schuldner gesamtwirtschaftlich tatsächlich immer „schuld“ ist und ob nicht unter Berücksichtigung der salbenmechanischen Grundsätze nicht auch ein „Zwang zur Kreditaufnahme“ bestehen kann, gehe ich in einem gesonderten Beitrag noch einmal genauer ein. Denn auch hier hilft Wolfgang Stützels Vermächtnis zur Geld- und Konjunkturtheorie weiter.

Einen ersten Hinweis dazu gibt der Artikel Leistungsbilanz und Kapitalbilanz – wer dominiert?