Auszüge aus dem Vortrag „Neoliberaler“ Kapitalismus versus Demokratie von Wolfram Elsner, gehalten in Linz 2011, aber immer noch von erschreckender Aktualität:
Graffito „Destroy Capitalism!“ (Zerstört den Kapitalismus!) auf einer Fabrikmauer
…Im Ergebnis wird heute die Welt nach einer im Oktober 2011 erschienenen Schweizer Studie der ETH Zürich regiert von insgesamt etwa vierzig internationalen Kapitalgruppen, die sich wechselseitig besitzen und kontrollieren und so ein geschlossenes Herrschaftssystem bilden, das keine Macht der Welt mehr kontrollieren kann.
Sie kommandieren fast alle der dort untersuchten 47.000 größten international tätigen Unternehmen, ein Mega-Club der mächtigsten Finanzeinheiten, Banken, Schattenbanken, Investmentfonds, Hedge Fonds und Versicherungen, unter ihnen nur noch einige wenige herkömmliche Industriekonzerne, und alle mit Bilanzsummen, die größer sind als die Sozialprodukte ihrer Herkunftsländer…
…Der „Markt“ (was immer das konkret sein soll; sagen wir: ein spontanes dezentrales System vieler Akteure, in dem Preise eine gewisse Rolle spielen) hat naturgemäß stets eine Dynamik der Selbst-aufhebung, und die „neoliberale“ (De-)Regulierung hat diese Gesetzmäßigkeit praktisch in ihr Extrem getrieben – und die Menschheit dabei gleichzeitig mit einem weiteren säkularen ideologischen Paradigma, dem des „selbstregulierenden“, inhärent gleichgewichtigen „Marktes“ versehen.
Die Tendenz solcher preis-, geld-, profit- und damit macht-basierter dezentraler Systeme, die ja lokal immer Oligopole sind, zur Selbstaufhebung kannte schon der gute Adam Smith im 18. Jahrhundert.
…
Der „neoliberal“ enthemmte Markt – weil er eben etwas anderes ist als jene ideale mathematische Kopfgeburt „Markt“ – hebt sich selbst schneller auf und pervertiert sich selbst schneller, als wir realisieren können, (selbst zwischen den Unternehmen, vom internen Machtsystem der privaten Unternehmung ganz zu schweigen) zu einem oligarchischen und hierarchischen Macht- und Befehlssystem, zum extremen Gegenteil dessen, was er vorgibt zu sein, was er laut seinen Chef-ideologen ist…
…Und für die „normalen“ Menschen bleiben in diesem Globalisierungsregime im politischen Angebot: konkurrenzlicher Nationalismus, Regionalismus und Lokalpatriotismus und der internationale Existenzkampf untereinander um die Lohn- und Sozialstandards – unter den hergestellten Bedingungen faktisch immer und überall ein „race to the bottom“.
Da gibt es eben keine durch die Staatsmächte sorgfältig geordnete Vereinheitlichung der Bedingungen, keinen einheitlichen „europäischen Sozialraum“, keinen international hergestellten bequemen einheitlichen Handlungsraum für Arbeitnehmer und Gewerkschaften.
Im internationalen Raum dürfen die Menschen nur Touristen sein, Studenten oder spezialisierte Experten-Arbeitnehmer, vereinzelt oder in kleinen Gruppen, aber z.B. keine ganzen, handelnden Belegschaften oder nationale Arbeitnehmerschaften.
Und das hat System: Die globale Ebene wurde und wird eben exklusiv für das Kapital, seine Handlungs-logiken und seinen unaufholbaren sozialen Machtvorsprung bereitet…
…Die Strategie der systematischen Staatszerstörung und des systematischen Ausblutens des Staates mit dem Ziel, den Staat (sozial, kollektiv) handlungsunfähig zu machen und seine Finanzierung abhängig zu machen vom Geld der privaten Spekulationsindustrie (vulgo: „Finanzmärkte“), also den wenigen hundert Top-Entscheidern im o.g. herrschenden Finanzoligopol sowie ihrer weltweit wenigen hundert super- und megareichen privaten Aktionäre und Gläubiger (die dafür in der Post-2008-Welt bisher von den Regierungen systematisch daran gehindert wurden, zu den negativen Folgen der von ihnen verursachten Krise beizutragen, so wie es unter „marktlichen“ Bedingungen vom „Markt“ erzwungen worden wäre).
Damit wird die staatliche soziale Handlungsfähigkeit und Kompetenz systematisch in Richtung null gedrückt. Der „neoliberale“ Staat wird sozial, kulturell, ökologisch und zukunftsbezogen komplett inkompetent gemacht, von der Spekulationsindustrie abhängig und finanziert – von ihr jederzeit beliebig zu Tode spekulierbar und (davor und danach) von ihr beliebig an die Kandare zu nehmen…
…Seitdem es Statistiken über Einkommens- und Vermögensverteilungen gibt (in einem der Welt-sozialberichte der UNO konnten vor wenigen Jahren Verteilungsdaten seit etwa dem Jahre 1800 rekonstruiert werden) hat es eine Ungleichheit wie heute, sowohl in räumlicher als auch sozialer Hinsicht, noch nicht gegeben.
Einige wenige hundert Megareiche besitzen heute fast so viel wie die unteren 50% der Weltbevölkerung, also wie 3,5 Mrd. Menschen. Davon hungern heute so viele wie noch nie, über 1 Mrd. Menschen, ein weiterer der sich häufenden traurigen „neoliberalen“ Weltrekorde. Die Reichen wurden von den „neoliberalen“ Regierungen aller Couleur seit Jahrzehnten gezielt zu Superreichen gemacht, die Superreichen zu Megareichen, und die Megareichen zu Gigareichen. Das ungleichste System seit Menschengedenken!
Im Ergebnis haben wir heute private nominale Vermögenswerte, die selbstverständlich reale Einkommensversprechen sind, die reale Einkommensansprüche generieren, die mithin wie verrückt (in jedem Sinne des Wortes) renditeträchtige Anlagen (oder zumindest vorübergehende Parkmög-lichkeiten) suchen müssen – und damit es ganz klar ist: die Rendite- und damit Zahlungsansprüche an uns und unsere Nachkommen haben –, im geschätzten Umfang von etwa dem 100-fachen des Weltsozialprodukts (letzteres sind heute etwa 35 Billionen $).
Wir reden hier also von vierstelligen Billionenbeträgen, darunter z.B. 700 Billionen $ Derivatpapieren plus 60 Billionen $ Wettpapieren (CDS), dreistelligen Billionenbeträgen von Aktien, plus zweistellige Billionen-beträge an sonstigem Geldvermögen, soweit es spekulativ verwendet werden muss, weil es als „Vermögensstock“ Einkommens-Ansprüche hat. Dabei wird im Grundsatz ein bestimmter Bestand an Realvermögen aller Art in Gestalt der „Blase“ durch z.T. mehrstufige „Derivat“-Bildungen zu einem multiplikativen nominalen Finanzvermögen aufgeblasen (sog. „fiktives Kapital“ – K. Marx).
Und diese leicht handelbaren Nominalwerte schlagen sich zudem an den Spekulationsplätzen im Durchschnitt mehrmals im Jahr um: Das Transaktionsvolumen und die damit verbundene Kaufmacht des globalen Casinos und Wettbüros bewegt sich geschätzt im zweistelligen Trillardenbereich.
Dass über diese fiktiven multiplikativen nominalen Vermögens- und Anspruchsvermehrungs-Mechanismen die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen nur noch verstärkt wird, liegt auf der Hand, denn v.a. die großen Vermögen werden zur Blase aufgebaut – und über den gigantischen Mechanismus der Blase zur weiteren Umverteilung genutzt…
…Ich will deutlich machen, dass der „Neoliberalismus“ aufgrund der historischen Lüge über die Effektivität der „Märkte“ – Lügen, die ihm heute selbst um die Ohren fliegen –, die Zukunft eines dynamischen Kapitalismus selbst verhindert.
Der größte Feind eines funktionierenden Kapitalismus ist also der „neoliberal“ degenerierte Kapita-lismus, der nur noch das kürzestfristige Raffinteresse der Megareichen und Megamächtigen, der „Systemrelevanten“, der „Too-big-to-fails“ bedient, bedienen will und unter gegebenen Umständen bedienen muss, aber kein allgemeines, längerfristiges Systeminteresse mehr verfolgt.
Niedergang perfekt. Der Kapitalismus hat damit jegliche vorantreibende, also jegliche historische Funktion verloren, wenn die myopische „Rationalität“ des Einzelkapitals statt die des Gesamtkapitals dominieren.
Realökonomisch, ökologisch, sozial, politisch oder moralisch, – keinerlei historische Perspektiven sind mehr erkennbar, bestenfalls noch ein Vor-sich-Hindümpeln, schlimmstenfalls chaotische Zusammen-brüche…
…Und die traditionelle zyklische Krise ist lebenswichtig für den Kapitalismus: Nur in der zyklischen Krise konnte die aufgeblasene (überakkumulierte, dabei zum guten Teil auch immer rein „umverteilte“) Kapitalmenge, die sich klassischerweise im investierten Sachkapital und heute überwiegend im fiktiven nominalen Spekulationskapital aufhäuft, so radikal entwertet werden, dass die Profitrate wieder auf normale Werte steigen konnte und für die übriggebliebenen und einige neue Kapitalisten sich das Investieren und Produzieren, und heutzutage: das Spekulieren („Finanzinvestitionen“) wieder lohnten.
Eine neue Dynamik des Kapitalismus konnte nach sozial mehr oder weniger schlimmen, mehr oder weniger lang anhaltenden und mehr oder weniger gewalttätigen Krisen (mit oder ohne Kriegen) beginnen. Die ersten investieren dann schon wieder, wie es in Spekulantenkreisen heißt, „wenn das Blut auf der Straße liegt“…
…Am Ende aber werden sie im Industrie- und Finanzwesen weich aufgefangen: Hunderte ehemaliger Abgeordneter, Minister und Staatssekretäre verdienen in ihrer Post-Politik-Karriere bei Industrie, Beratungsunternehmen und Finanzkonglomeraten als „Frühstücksdirektoren“, die nur noch ihre alten politischen Connections spielen lassen müssen, dann auch noch mal richtig großes Geld.
So lohnt sich das vorangegangene Leiden als Politiker (bei relativ geringer Bezahlung) im Nachhinein. Man wird noch einmal Teil der richtig Reichen und Mächtigen. Beteiligt sind übrigens Politiker aller regierungszugelassenen Parteien.
Wo immer wir hinschauen, wo immer wir ein neues dramatisches Problem entdecken, wo immer in uns die Hoffnung auf eine funktionierende, nachhaltige, sozial verträgliche, vielleicht sogar demokratisch-diskursive und demokratisch-partizipatorische Lösung aufkeimt – die Banken sind schon da und haben ihre Schäfchen schon ins Trockene gebracht.
Dass da Gesetze direkt vom Großkapital „vor“-geschrieben werden und Recht wieder zunehmend mit feudalem Oberklassen-Bias gesprochen wird, ist da nur noch einer der kleineren Skandale.
Wo immer die Hoffnung auf eine nationale Befreiung irgendwo auf der Welt aufkeimt, die „Finanz-märkte“, ihre Industriekonzerne, ihre Militärs und ihre politischen Geschäftsführungen sind schon da und haben die Ressourcen schon verplant, in Beschlag genommen, das Volk schon in lokale Interessen-gruppen fragmentiert.
Die Nationen und die Menschheit sind in ihrer Geiselhaft. Und die Chancen selbst revoltierender Völker auf nationale und soziale Unabhängigkeit und Selbstbestimmung stehen ausgesprochen schlecht…