In den Teilen Eins, Zwei und Drei dieser Serie haben wir festgestellt, dass auch die neoklassische Wachstumstheorie nicht als Rechtfertigung für Strukturreformen als Lösung für die Rezession im Japan der 1990er Jahre herangezogen werden kann.
Warum aber sollte dann überhaupt ein Land mittels Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung seine Wirtschaftsstruktur verändern und neoliberale Märkte schaffen?
Teil 4: Analyse der These der effizienten Märkte
Einen weiteren Ansatzpunkt für eine mögliche Beantwortung dieser Frage bildet die neoklassische Effizienztheorie als Grundlage der sogenannten Wohlfahrtsökonomik. Diese baut auf einem Satz von speziellen Annahmen auf, nach denen die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft pareto-effizient ist.
Zu diesen Annahmen gehören die perfekte Information aller Wirtschaftssubjekte, stets perfekte und komplette Märkte, der Wegfall jeglicher Transaktionskosten und -gebühren sowie das Nichtauftreten externer Effekte. Nur unter diesen Bedingungen können Eingriffe, beispielsweise durch die Regierung, die allokative Effizienz beeinträchtigen.
Zu keinem Zeitpunkt während der gesamten Nachkriegszeit glich Japans Ökonomie einer solchen neoliberalen Wirtschaft. Im Gegenteil gab es bis zum Ende der 1980er Jahre eine Wirtschaftsstruktur mit eingeschränkten und unvollständigen Kapitalmärkten, die das Vertrauen der Unternehmen in Bankfinanzierungen verstärkten, dagegen nur geringen Einfluss der Aktionäre, eine große Anzahl von staatlichen Vorschriften bis hin zu direkten Regierungsinterventionen sowie eine große Anzahl von formellen und informellen Kartellen, die das „Spiel der freien Märkte“ erheblich begrenzten.
Ferner verhinderten unflexible Arbeitsmärkte, in denen viele Vollzeitkräfte in großen Firmen eine enorme Arbeitsplatzsicherheit, Beförderungen aufgrund der Betriebszugehörigkeit sowie die spezielle Vertretung durch eigene Unternehmensgewerkschaften „genossen“, die Weitergabe des Wettbewerbsdrucks auf die Beschäftigung.
Für einen neoklassischen Ökonom legen diese enormen Marktbeeinträchtigungen aufgrund seines oben beschriebenen Theorieaufbaus den logischen Schluss nahe, dass eine solche Wirtschaft, wie es die japanische während dieser Dekade war, natürlich nicht effizient sein kann. Für ihn sind dann grundlegende Strukturreformen, mit denen man sich klar in Richtung freier und unreglementierter Märkte orientiert, die erste Wahl bei der Krisenbekämpfung. Denn, so legt es ihm seine Ideologie nahe, nur eine Ökonomie, der man mehr Spielraum für ungehindertes Wirtschaften gibt, wird besser funktionieren und effizienter sein und so auch mehr Wachstum hervorbringen.
Dieser Ansatz soll nun anhand zweier Hypothesen auf seine Wirksamkeit überprüft werden. Dabei prüfen wir zuerst die Verbindung zwischen der Struktur der Wirtschaft und dem Wirtschaftswachstum. Danach klären wir, ob und wie sich Reformen, die die Funktion der freien Märkte erhöhen, auf die Konjunkturentwicklung auswirken.
Überlegenheit der angelsächsischen Marktwirtschaften?
Bei der Prüfung der Verbindung zwischen der Wirtschaftsstruktur Japans und seiner gesamtwirtschaftlichen Leistung ist ein Vergleich mit anderen Ländern nützlich. Es existieren in der Tat einige große Volkswirtschaften, die ähnliche Wirtschaftsstrukturen wie Japan haben und es gibt auch einige Staaten, deren ökonomische Struktur mehr dem marktorientiertem Modell der neoklassischen Wohlfahrtsökonomie ähnelt.
In der Nachkriegszeit haben die japanischen und koreanischen Wirtschaftssysteme beispielsweise viele Gemeinsamkeiten mit der Struktur der deutschen Wirtschaft geteilt, einschließlich unvollständiger Kapitalmärkte, Abhängigkeit von Bankfinanzierungen, ein Fehlen eines flexiblen Arbeitsmarktes sowie das Vorhandensein von Kartellen und einer Vielzahl von Regierungsvorschriften.
Auf der anderen Seite waren die britische und amerikanische Volkswirtschaft im gleichen Zeitraum stark geprägt von der Unterstützung freier Märkte in Form von Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung, während ihre Finanzsysteme sich sehr viel mehr an den Aktienmärkten und dem Einfluss der „Shareholder“ orientierten.
Folgt man den neoliberalen Ansätzen, so müsste die Untersuchung ein klares Resultat ergeben: die Wirtschaftsstruktur der „Wohlfahrtsökonomien“, wie sie damals in Japan, Korea und auch Deutschland vorherrschten, hätte weniger gute wirtschaftliche Leistungen hervorbringen sollen als die der USA und Großbritanniens, die ja den theoretischen Prämissen für wirtschaftliche Effizienz sehr viel mehr entsprach.
Doch entspricht diese Annahme tatsächlich der Wirklichkeit? Um das herauszufinden, untersuchen wir die effektiven Wachstumsraten der betroffenen Staaten über einen längeren Zeitraum, damit kurzfristige zyklische Entwicklungen das Bild nicht trüben können.
Zwischen 1950 und 2000 betrug das Wirtschaftswachstum der USA und Großbritanniens gemessen an der durchschnittlichen Zunahme des realen Bruttosozialproduktes (BSP) im Mittel respektable 3,2 bzw. 2,4 %. Sollte die neoklassische Effizienztheorie zutreffend sein, so müssten Japan, Korea und Deutschland als nicht „pareto-optimale“ Volkswirtschaften für diesen Zeitraum ein eindeutig geringeres Wachstum vorweisen.
Doch die Empirie hält sich (wieder einmal) nicht an ökonomische Glaubensbekenntnisse: entgegen der Vermutung erreichten die drei „regulierten“ Länder in dem Betrachtungszeitraum einen erheblich höheren realen Zuwachs. In Japan stieg das BSP um 6,3 %, fast doppelt soviel wie in Amerika und nahezu das Dreifache der britischen Wachstumsrate.
Trotz einer in der gesamten Nachkriegszeit geltenden Einschränkung der freien Märkte durch Staatsregulierungen, Kartelle, Eingriffe in die Arbeitsmärkte und eines geringen Einflusses der Aktionäre erreichten sowohl Korea (mit über 7 % Wachstum) als auch Deutschland (4 %) ein durchschnittlich höheres Wirtschaftswachstum als die beiden angelsächsischen Staaten.
Dies bedeutet, dass die empirischen Fakten nicht die Behauptung der neoklassischen Effizienztheorie unterstützen. Im Gegenteil, die Tatsache, dass die eher weniger auf unregulierte Märkte ausgerichteten Volkswirtschaften in einem so gewaltigen Zeitraum ein so viel höheres Wachstum des BSPs abliefern konnten, erfordert eine offensichtlich andere Erklärung, insbesondere auch deshalb, weil sich z. B. Japan im letzten Jahrzehnt dieser Phase in einer großen Rezession befand.
Wenn überhaupt, so muss also angenommen werden, dass die Wirklichkeit der Tatsachen weitere Forschungen nötig machen, um herauszufinden, warum die weniger marktorientierten Volkswirtschaften deutlich besser als die stärker marktorientierten abschnitten. Auch bei dieser Betrachtungsweise bleibt demnach die Forderung nach Strukturreformen weiterhin unbegründet.
In Teil 5 dieser Reihe soll nun anhand der wirtschaftlichen Performance geklärt werden, ob sich Strukturveränderungen positiv oder negativ auf das Wirtschaftswachstum der Staaten auswirkten.