Keine Erholung ohne Strukturreformen? Beispiel Japan der 1990er Jahre – Teil 2: Die neoliberale Wachstumstheorie

Wie in Teil 1 bereits erörtert, ist der Ruf nach „Strukturreformen“ eine der zentralen Forderungen neoliberaler Wirtschaftspolitik. Anhand der „verlorenen Dekade“ im Japan der 1990er Jahre soll hier versucht werden, die Gültigkeit dieser These zu überprüfen.

Japan real GDP growth rate
Durchschnittliches reales Wachstum des japanischen Bruttoinlandsproduktes je Dekade,
Daten aus: Edward C. Prescott (2002), „The 1990s in Japan: A Lost Decade“

Teil 2: Das Argument der neoklassischen Wachstumstheorie
Gemäß dieser Theorie wird das ökonomische Wachstum auf zwei Variablen zurückgeführt: die Quantität der Produktionsfaktoren (Land, Arbeit, Kapital, Technologie) und die Gesamtproduktivität dieser Faktoren. Dabei muss berücksichtigt werden, dass für die Gültigkeit dieser These eine ganze Reihe von Annahmen vorausgesetzt werden.

So gehen die neoliberalen Theoretiker davon aus, dass stets alle Marktteilnehmer ein gleiches und vollständiges Wissen aller notwendigen und erhaltbaren Informationen haben, stets flexible Preise gegeben sind, es keine Transaktionskosten gibt, perfekte Märkte ohne Einschränkungen durch Monopole und Oligopole vorherrschen.

Nur wenn alle diese Voraussetzungen zutreffen, sind Märkte gemäß dieser Theorie immer im Gleichgewicht und alle Faktoren immer vollbeschäftigt. So kann man auf Grundlage diese Modells dann auch den Schluss ziehen, dass das tatsächliche Wirtschaftswachstum gleich dem potenziellen Wachstum ist.

Logischerweise kann es nach den Prämissen dieser Theorie demnach nur zwei Gründe geben, warum eine Wirtschaftskrise entstehen kann:
1. die Menge der verfügbaren Produktionsfaktoren oder ihr Wachstum ist gesunken, oder/und
2. die Produktivität dieser Produktionsfaktoren ist gefallen (respektive das Wachstum der Produktivität hat sich entsprechend verlangsamt).

Im Falle der wirtschaftlichen Rezession Japans nach dem Absturz des Nikkei Anfang der 1990er wurden beide Argumente angeführt, um die Probleme der damaligen Wirtschaftsstruktur zu belegen und die Durchführung tiefschürfender Strukturreformen zu fordern.

Um die Stichhaltigkeit dieser Argumente zu überprüfen, ist es daher notwendig, zu verifizieren, ob
1. die Produktivität der tatsächlich beschäftigten Produktionsfaktoren im Jahrzehnt vor der Krise wirklich gesunken ist,
2. das Angebot an vorhandenen Produktionsfaktoren in diesem Zeitraum tatsächlich gefallen ist und
3. ob es nicht auch Produktionsfaktoren gegeben hat, die nicht vollständig beschäftigt waren (in diesem Fall wäre nämlich die neoklassische Wachstumstheorie nicht zutreffend und daher gar nicht anwendbar).

Erkenntnisse über den Rückgang der Produktivität in Japan
Die Messung und der akkurate Vergleich der Produktivitätsentwicklung stellt an sich schon keine leichte Aufgabe dar. Da sie in der Regel auch nur in der lokalen Währung erfasst wird, ist es notwendig, die Produktivität für internationale Vergleiche in komparable Werte zu konvertieren. Aufgrund ihrer hohen Volatilität sind Wechselkurse dazu allerdings denkbar ungeeignet.

Alternativen wie etwa der Vergleich von Kaufkraftparitäten haben ebenso ihre Schwächen, da sie vor allem auf Annahmen beruhen und entscheidend von der Auswahl der Warenkörbe abhängen.

In den 1990ern wählte man hingegen noch andere fragwürdige statistische Vergleichswerte, um ein angebliches Hinterherhinken der Produktivität in Europa und Japan gegenüber der in den USA zu behaupten. Die EZB postulierte so für den Zeitraum seit Anfang 2000 lediglich einen Anstieg um 0,9 %, während das US Bureau of Labor Statistics für die Vereinigten Staaten einen Wert von 7,9 % angab.

Doch diese Zahlen erwiesen sich schlicht als nicht vergleichbar, da die amerikanische Statistikbehörde ein gänzlich andere Berechnungsmethode auf der Grundlage potenziell geleisteter Arbeitsstunden (und nicht die der tatsächlich beschäftigten Arbeitskräfte) anwendete. Angebliche amerikanische Produktivitätssteigerungen waren also in Wirklichkeit nur die Darstellung sinkender Arbeitslosigkeit.

Ebenso problematisch stellte sich die Messung der Produktivität als Steigerung des Pro-Kopf-BIPs dar. Ohne eine Berücksichtigung der Arbeitszeiten (US-Arbeitnehmer waren im Vergleichszeitraum wesentlich länger pro Jahr beschäftigt als ihre Kollegen in Europa und Japan) wurde auch hier kein Produktivitätsanstieg, sondern nur eine höhere Beschäftigungsrate ermittelt. Bei der Produktivität als BIP pro Arbeitsstunde lagen die Amerikaner dagegen hinter vielen europäischen und asiatischen Ländern zurück.

Da diese Methode wegen mangelnder Vergleichbarkeit die Behauptung des stärkeren amerikanischen Produktivitätsanstiegs nicht belegen konnte und andere Messungen über längere Zeiträume für fast alle anderen Staaten (u. a. auch Japan) eine höhere Produktivität als die USA ermittelten, musste 2002 mit einer Studie von Fumio Hayashi und Edward Prescott eine andere Begründung für das angeblich schwache Produktivitätswachstum Japans gefunden werden.

Die beiden Ökonomen erklärten das schwache Wachstum in den frühen 1990ern als Folge eines externen Produktivitätsschocks und nicht bedingt durch schwache Nachfrage. Doch auch diese Behauptung ließ sich nicht aufrecht erhalten. Da Hayashi und Prescott in ihrer Analyse schlicht von der Vollbeschäftigung aller Produktionsfaktoren ausgegangen waren, stellte sich der angebliche Produktivitätsabfall als nachlassende Faktorauslastung durch steigende Arbeitslosigkeit heraus.

Berücksichtigte man bei ihren Berechnungen diesen Faktor, so zeigte sich, dass die Produktivität Japans in diesem Zeitraum keineswegs so stark zurückging, wie Hayashi und Prescott ursprünglich dargelegt hatten. Eine andere Studie mit besser vergleichbaren Statistiken (Jorgenson und Motohashi 2003) fand sogar das Gegenteil heraus und zeigte ein stärkeres Produktivitätswachstum in den 1990ern als in der Dekade davor.

So gelangte Richard A. Werner zu folgender Feststellung:


Es gibt keinerlei Belege, dass die japanische Rezession durch mangelnde Produktivität erklärt werden kann.

Forscher, welche einen Rückgang der Produktivität aufzudecken glaubten, führten irrige Analysen durch, da sie Beschäftigungsgrad mit Produktivität verwechselten.

Korrekt gemessen stellte sich sogar heraus, dass das japanische Produktivitäts- wachstum in den 1990er Jahren anstieg.

Auch die neoklassische Handelstheorie, nach der internationale Warenströme durch die unterschiedliche Produktivität der Volkswirtschaften erklärbar wären, lieferte keine empirische Fakten zur Unterstützung des Strukturreform-Arguments.

So ging man davon aus, dass die japanische Handelsbilanz ein zuverlässiger Indikator für die Produktivität Nippons darstellte. Dies war vor allem auch in Amerika bekannt und bewusst, da bereits in den 1980ern viele US-Ökonomen damit beschäftigt waren, den Produktivitätsvorsprung Japans zu erforschen.

Wie aber kam man darauf, dass das Land der aufgehenden Sonne damals einen Vorsprung bei der Ertragsfähigkeit hatte? Die Experten verglichen schlicht die Handelsbilanz der beiden Länder und erkannten, dass Japan hier sehr viel erfolgreicher war als die USA.

Demnach führt auch der Vergleich der Handelsbilanzen als Begründung für eine Verringerung der japanischen Produktivität nicht weiter. Im Gegenteil wuchs die Produktivität in den 1990ern mindestens genauso schnell, wenn nicht noch schneller als vorher. Damit aber kann mangelnde Produktivität nicht als Ursache für die Rezession gedeutet werden und es dürfte damit auch klar sein, dass strukturelle Maßnahmen zu ihrer Steigerung die Krise auch nicht beendet hätten.

In Teil 3 dieser Serie soll dann geprüft werden, ob ein Mangel an den Produktionsfaktoren Boden, Arbeit, Kapital und Technologie für das geringe Wirtschaftswachstum vor der Krise verantwortlich gemacht werden kann.