Keine Erholung ohne Strukturreformen? Beispiel Japan der 1990er Jahre – Teil 3: Mangel an Produktionsfaktoren?

In den Teilen Eins und Zwei wurde versucht zu belegen, dass nachlassende Produktivität gemäß der neoklassischen Wachstumstheorie nicht als Grund für tiefschürfende Strukturreformen zur Bekämpfung der Krise in Japan nach den 1990er Jahren herangezogen werden kann.

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Allgemein gibt es aber noch ein weiteres Argument, um die wachstumstheoretische Basis der Strukturreformtheorie zu unterlegen: neben mangelnder Produktivität könnte auch eine Knappheit bei den Produktionsfaktoren für ein zu niedriges Wirtschaftswachstum verantwortlich sein.

Teil 3: Angebotsengpässe aufgrund der Knappheit der Produktionsfaktoren?
Um diese Behauptung zu überprüfen, ist es notwendig festzustellen, ob in den 1990er Jahren die japanischen Produktionsfaktoren Boden, Arbeit, Kapital und Technologie weniger wurden oder ihr Wachstum sank.

Da Japan in dieser Zeit weder Land gewann noch verlor, kann eine Verringerung des Faktors Boden von vornherein ausgeschlossen werden. Ähnlich sieht es mit der Bevölkerungsentwicklung aus: die Anzahl der Bewohner nahm während der 1990er Jahre nicht ab. Obwohl das Wachstum geringer wurde, gab es in den zwei Jahrzehnten zuvor viel größere Einschnitte bei der Zunahme der Bevölkerung, ohne das diese Entwicklung sich auf das Wirtschaftswachstum auswirkte.

Was für die Wirtschaft tatsächlich zählt, ist die Anzahl der potenziellen Arbeitskräfte. Hatte die demografische Zeitbombe auf dem japanischen Arbeitsmarkt zugeschlagen? Während der 1990er Jahre stieg allerdings die Anzahl der Universitätsabsolventen, die den Firmen zur Verfügung standen, rapide an.

Ein weiterer Hinweis darauf, dass das Angebot an Arbeitskräften nicht zurückgegangen ist, wird von den Statistiken über die Lohnentwicklung zur Verfügung gestellt. Die Löhne standen, gemessen am Gehaltsindex des japanischen Arbeitsministeriums, in den 1990er unter ständigem Abwärtsdruck und verringerten sich beispielsweise um mehr als 1 Prozent in den Geschäftsjahren 2000 und 2001.

Dies lässt sich kaum mit dem Argument in Einklang bringen, dass das Angebot an Arbeitskräften zurück- gegangen wäre und damit das Wirtschaftswachstum beschränkt hätte – was vielmehr einen nach oben gerichteten Druck auf die Löhne hätte erwarten lassen.

Bleibt noch die Frage nach dem Kapital: Die japanischen Ersparnisse stiegen während der 1990er Jahre kontinuierlich weiter an, auf neue Weltrekordhöhen. Daher kann man davon ausgehen, dass der Mangel an Anlageinvestitionen eher nicht mit der Knappheit an Kapital zusammenhängen konnte.

Letztlich sind wir bei der Technologie angekommen. Hier kann man feststellen, dass beispielsweise die Zahl der japanischen Patentanmeldungen während der 1990er Jahre besonders stark anstieg, und ebenfalls neue Rekordhöhen für Japan erreichte.

Oder war es doch eher die schwache Nachfrage?
Da die neoklassische Theorie in ihren Gedankenmodellen immer von Vollbeschäftigung ausgeht, gibt es noch einen letzten Test für die Gültigkeit des Reformarguments:

Wenn entgegen dieser Annahme nicht immer alle Produktionsfaktoren vollständig ausgelastet sind, wäre die Synthese der Neoklassiker irrelevant bei der Problemlösung und es müssten andere Auswege als nur Strukturreformen und Angebotspolitik gefunden werden.

Mit anderen Worten: bei einer Unterauslastung der Ressourcen ist die neoliberale Theorie schlicht und einfach nicht zuständig, da sie stets vom Gegenteil ausgeht und für einen solchen Fall keine Lösungen anbietet. Somit wäre auch erwiesen, dass die Rufe nach immer mehr Strukturreformen an den eigentlichen Problemen vorbeigehen und stattdessen Nachfragepolitik erforderlich wäre, um die Wirtschaft wieder näher an die Vollbeschäftigung zu bringen.

Die Arbeitslosenquote in Japan stieg zwischen 1992 und 2001 von 2 auf über 5 Prozent. Dies muss als erster statistischer Hinweis gesehen werden, dass in dem fraglichen Zeitraum nicht jeder im Land der aufgehenden Sonne durch Arbeit voll ausgelastet war.

Auch die Lohnentwicklung in dieser Phase deutet auf ähnliche Probleme hin: das Wachstum der Löhne und Gehälter sank in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, danach gaben die Arbeitsengelte sogar absolut nach. Ein Arbeitsmarkt nahe der Vollbeschäftigung sähe normalerweise anders aus und würde eher einen Aufwärtsdruck auf die Löhne erzeugen.

Ähnlich signifikant stellte sich die Entwicklung der japanischen Selbstmordrate dar. Diese wuchs von ca. 22.000 Fällen in 1992 auf eine traurige Rekordhöhe von knapp 33.000 in 1999. Nach Angaben der National Police Agency traten die meisten der zusätzlichen Selbstmorde in der Altersgruppe der 50- und 60-jährigen auf und ständen in direktem Zusammenhang mit der schwachen Wirtschaftsentwicklung in dieser Phase, die zu einer beispiellosen Welle von Entlassungen, finanzieller Not, Schulden bei Kredithaien und Insolvenzen geführt habe.

Unnötig zu erwähnen, dass eine solche Zerstörung von menschlichen Ressourcen ein klares Indiz dafür ist, dass die Produktionsfaktoren nicht vollständig ausgelastet wurden und dass die neoklassische Konzeption der Markträumung und das rationale individuelle Verhalten zynischerweise als eher unzureichend angesehen werden muss.

Auch die Kapazitätsauslastung der japanischen Industrie sank in diesem Zeitraum: nach dem Index der Industrieproduktion des Handelsministeriums von 117 Punkten auf nur noch 87. Trotz vorübergehender Aufschwünge blieb der Index in dieser Phase auf einem stabilen Abwärtstrend. Auch diese Datenreihe deutet eher darauf hin, dass ein erheblicher Teil des japanischen Kapitalstocks unausgelastet blieb, was der Grundannahme des neoklassischen Modells und des Arguments für Strukturreformen, dass alle Ressourcen immer vollbeschäftigt seien eindeutig widerspricht.

Ein weiterer Indikator für die nicht vollständige Auslastung des Sachkapitals während der 1990er Jahre ist die Anzahl der Konkurse. In dem fraglichen Zeitraum zwischen 1990 und 2000 sind etwa 200.000 Unternehmen in Japan Pleite gegangen. Konkurse beinhalten häufig Abschreibungen von Vermögenswerten, verlorenes Kapital und Diskontinuität in der Nutzung von Einrichtungen. Ferner können Geschäftsaufgaben häufiger in Zeiten schwacher Nachfrage als in Phasen des Nachfrageüberhangs und des Mangels an Angeboten beobachtet werden.

Ebenso widerspricht die Preisentwicklung Japans der neoklassischen Annahme von der Gleichheit des aktuellen und potenziellen Outputs. Die Inflation sank in den 1990ern und ging seit 1999 in Deflation über. Dieser Befund ist schwer mit dem Argument in Einklang zu bringen, dass Japans Rezession hauptsächlich aufgrund von Lieferengpässen entstanden sei, die in der Regel eher zu einem Aufwärtsdruck auf die Preise sorgen würden.

Fazit:
Die Ergebnisse unserer Untersuchungen zeigen eindeutig, dass die neoklassische Wachstumstheorie nichts zur Unterstützung der Strukturreformthese beitragen kann. Dieser Schluss muss daher gleichzeitig auch schwerwiegende Auswirkungen auf das Argument zur Forderung von Strukturreformen im allgemeinen haben:

Da die Nachfrage in einer Krise zu schwach ist, muss eher Nachfragepolitik als Strukturreformen durchgeführt werden. Dies bedeutet dann aber auch, dass jede Strukturreform sich sogar negativ auf die Wirtschaft auswirken muss:

Wenn eine Volkswirtschaft, die durch schwache Nachfrage in Rezession geraten ist (wie Japan in den 1990ern), der Strukturreformpolitik ausgesetzt wird, könnte dies zwar im Idealfall die potenzielle Wachstumsrate erhöhen.

Da aber die tatsächliche Wachstumsrate bereits weit unter der potenziellen liegt, wird der Abgrund zwischen potenziellem und tatsächlichem Wachstum nur noch größer. Und weil Überproduktion zu Deflation führt, und die aktuelle Nachfrage schon weit geringer ausfällt als die potenziell mögliche Angebotsproduktion, muss man davon ausgehen, dass Strukturreformen keine positiven Resultate hervorbringen werden.

Dies muss dann stattdessen zu mehr Deflation führen. Bestenfalls werden Strukturreformen dann also die Deflation noch vergrößern und damit die Krise weiter verschlimmern, anstatt zu ihrer Bereinigung beitragen zu können.

Im nächsten Teil werden wir uns mit dem Argument der neoklassischen Effizienztheorie beschäftigen, welches die Wohlfahrtsökonomik heranzieht, um die These der Strukturreformen zu unterstützen.