Keine Erholung ohne Strukturreformen? Beispiel Japan der 1990er Jahre – letzter Teil: Kartelle und Wachstum

Im vierten Teil dieser Serie hatten wir festgestellt, dass in der Verbindung zwischen der Struktur der Wirtschaft und dem Wirtschaftswachstum die weniger marktorientierten Volkswirtschaften deutlich besser als die stärker marktorientierten abschnitten.

Shinkansen E2 at Tokyo station

Auch bei dieser Betrachtungsweise als Form der komparativen Statik bleibt demnach die Forderung nach Strukturreformen zur Lösung der Rezession im Japan der 1990er Jahre weiterhin unbegründet. Eine zweite Hypothese im Sinne der neoliberalen Effizienztheorie hat stattdessen die dynamische Performance der Wirtschaft im Auge.

Teil 5: Führen Deregulierung und Liberalisierung zu mehr Wachstum?
Es gilt also die Frage zu klären, inwieweit sich Strukturreformen auf die Wirtschaftsleistung auswirken. Dies ist natürlich eines der Hauptargumente der gängigen orthodoxen Ansichten: Strukturveränderungen hin zu mehr unreglementierten Märkten werden das wirtschaftliche Wachstum erhöhen.

Doch wie wir bereits festgestellt haben, halten viele Glaubenssätze der Neoklassik dem Zusammentreffen mit der Empirie nicht stand. So sollten wir auch diese Theorie auf den Prüfstand stellen.

Hierbei wollen wir uns auf die Daten von Japans Nachkriegserfahrung bis hin zu der besagten Dekade zwischen 1990 und 2000 beschränken. Nach dieser Phase war es vor allem das Kabinett der Regierung Koizumi, welches den Ruf nach tiefgreifenden Strukturreformen erneut hervorbrachte. Doch diese Forderungen waren nicht wirklich neu im Land der aufgehenden Sonne. Während der 1990er Jahre hielten sowohl die Regierungen Hashimoto als auch Hosokawa ähnliche Strukturreform-Agenden für unabdingbar.

Geht man weiter in der japanischen Geschichte zurück, so fällt auf, dass seit 1970 oft unter dem unmittelbaren Druck der Amerikaner eine erhebliche und sehr weitreichende Strukturveränderung durchgeführt worden ist. Demnach wurde schon vor der Regierungszeit von Premier Koizumi schrittweise an einer Deregulierung der japanischen Wirtschaft gearbeitet. Wenn auch die Reformen zwar meistens nur langsam und selten zur vollen Zufriedenheit der US-Unterhändler durchgeführt wurden, so bleibt trotzdem die Feststellung, dass Japan seitdem allmählich auf einen Kurs der Strukturveränderungen umschwenkte.

Da diese Reformen anfangs vor allem auf einzelne Sektoren beschränkt blieben und damit vor allem branchenspezifische Auswirkungen hatten, lassen sich ihre Wirksamkeit und ihre sonstigen Folgen für die Gesamtwirtschaft nur schwer ermitteln. Richard Werner fand allerdings über den Umweg der Anzahl der Kartelle, einem der wichtigsten Kritikpunkte der amerikanischen Ökonomen an der ursprünglichen Verfassung der japanischen Wirtschaft nach dem Ende des 2. Weltkriegs, eine Möglichkeit, um den ständig voranschreitenden Prozess der Strukturreformen messen zu können.

Mit dem Voranschreiten der Entwicklung zu immer mehr „freien Märkten“ sank auch die Anzahl der Kartelle und Monopole, so dass folgende Hypothese zur Überprüfung des „Erfolgs“ der Strukturreformen herangezogen werden kann: sollte die Idee der verbesserten wirtschaftlichen Leistung durch mehr Privatisierung, Liberalisierung und damit der Zerschlagung von Kartellen tatsächlich positive Auswirkungen haben, so müsste es logischerweise eine direkte Korrelation zwischen diese Variablen geben. Demnach führen weniger Kartelle zu mehr Wachstum, während ein Anwachsen der Monopole mit einer geringeren Konjunkturentwicklung verbunden wäre.

Doch auch bei diesem Test entspricht die Empirie leider nicht den Vorstellungen der neoliberalen Ideologen. Gleichzeitig mit dem Anstieg auf die größte Anzahl an Kartellen nach dem Krieg erreichte auch das wirtschaftliche Wachstum in Japan um 1966 seinen Höchststand. Im Zuge der Einführung von Strukturreformen und des Umschwungs der ursprünglich gelenkten japanischen Wirtschaft hin zu einem System der weitgehend freien „Marktprozesse“ sank auch die Anzahl der Kartelle und Monopole immer weiter, bis zur völligen Zerschlagung nahezu aller Syndikate in den 1990er Jahren. Parallel zu dieser Entwicklung schmolz allerdings auch die Wachstumsrate der japanischen Wirtschaft immer mehr dahin.

Gemäß der neoklassischen Effizienztheorie hätte aber genau das Gegenteil eintreten müssen. Nach den auch heute immer wieder aufgenommenen Thesen der Strukturreformer müsste mit dem frühen Anstieg der Monopole in den 1950ern und 1960ern das Wachstum spürbar nachgelassen haben, während es danach gemäß dem gedachten Sinn der durchgeführten Maßnahmen mit dem Verschwinden der Kartelle hätte zunehmen müssen.

So aber beweisen die empirischen Belege auch hier die Nichtigkeit der Theorie, dass Strukturreformen das Wirtschaftswachstum beschleunigen würden. Die Tatsachen legen stattdessen den entgegengesetzten Schluss nahe: die größere Marktorientierung führt zu niedrigerem Wachstum und eine Abkehr von den Märkten zu einer besseren Konjunkturentwicklung. Die japanische Wirtschaft lieferte zweistellige Wachstumszahlen, als es noch über 1.000 Kartelle gab, nach ihrer Abschaffung sank auch die Performance fast auf den Nullpunkt.

Fazit: Die These der angeblich so notwendigen Strukturreformen war damals in Japan nicht haltbar und ist es auch heute nicht
Zum Abschluss dieser Serie müssen wir aufgrund der breiten Untersuchung und ihrer empirischen Ergebnisse festhalten, dass es keinerlei Beweise dafür gab, dass Japan in den 1990ern Strukturreformen benötigte, um ein höheres Wirtschaftswachstum zu erzielen.

Die Angebotstheoretiker argumentierten damit, dass der Ausfall von Zins-Interventionen, fiskalischer Stimulation und der Währungsinterventionspolitik bewiesen hätten, dass prozyklische Maßnahmen gescheitert wären. Jedoch zeigten die obigen Ergebnisse eindeutig an, dass nahezu nur die Probleme auf der Nachfrageseite die Hauptursachen für die Rezession darstellten.

Und auch aus heutiger Sicht muss das Ergebnis jedweder Untersuchung über die Notwendigkeit von Strukturreformen negativ sein, wenn die Ursachen für das Entstehen der Krise hauptsächlich auf der Nachfrageseite zu finden sind. Überbordende Massenarbeitslosigkeit, nicht ausgelastete Kapazitäten, stagnierende oder sinkende Löhne und Gehälter sowie eine niedrige Inflation (oder gar Deflation) sind genug Indizien, um die Forschungsergebnisse über die japanische Rezession der 1990er Jahre auch auf die Gegenwart anwenden zu können.