Von der Ruhrbesetzung zur Eurokrise: das ökonomische Transferproblem – Teil 1

Weltkriegs-Reparationen und grosse Depression
Das Ende des Ersten Weltkriegs führte zu einer der wichtigsten ökonomischen Fragestellungen des 20. und 21. Jahrhunderts: dem Transferproblem.
Aus der Thematik, wie man eine durch einen gigantischen Weltkrieg verschuldete Volkswirtschaft in die Lage versetzt, Reparationszahlungen in dreistelliger Milliardenhöhe leisten zu können, ohne selbst dabei in einer Rezession zu versinken, entstanden damals wichtige Grundzüge neuer wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse.

Ruhrbesetzung

Diese Problematik, heute auch unter dem Begriff Ungleichgewichte der Leistungsbilanz bekannt und durchaus in der Eurokrise wieder sehr aktuell, ließ z. B. John Maynard Keynes damals nicht ruhen, bis er in völligem Gegensatz zur auch zur damaligen Zeit schon herrschenden klassischen Lehrmeinung seine eigenen Gedanken zum Versailler Vetrag und der Reparations-Problematik entwickelte, die schließlich zur Formulierung seiner „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ führte.

Nimmt man heute oft an, dass es die Depression und Deflation in der Weltwirtschaftskrise waren, die Keynes an den Antworten und Modellen der klassischen Ökonomie zweifeln ließen, so ist das wohl nicht ganz zutreffend.

Es war bereits das Problem der deutschen Reparationszahlungen, das Keynes als Chefunterhändler des britischen Finanzministeriums bei den Verhandlungen in Versailles als „ökonomisch unverantworlich“ bezeichnete und seine wirtschaftspolitische Denkweise entscheidend prägte.

Auf der anderen Seite, beim damaligen Kriegs-Verlierer Deutschland, beschäftigte man sich ebenfalls mit den Auswirkungen von Reparationszahlungen auf die deutsche Wirtschaft.
Die Ruhrbesetzung, mit der die Franzosen und Belgier nichts anderes als Reparationen in Naturalien erzwingen wollten, ebenso wie die deutsche Hyperinflation in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verdeutlichten die massiven Probleme, die die Politik und die Wirtschaft des deutschen Reiches mit der Ableistung dieser Zahlungen hatten.

Da verschiedene Regierungen auch aufgrund der umstrittenen Kriegsschuldfrage eher die Absicht vertraten, die zu leistenden Reparationen zu verzögern, verringern oder gar nicht zu leisten, überdeckten die politischen Auswirkungen größtenteils noch bis heute die eigentliche wirtschaftswissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema.

War die Mehrheit der deutschen Ökonomen eher der Ansicht, mittels Sparprogrammen und Lohnsenkungen im Inland den Export anzukurbeln, um so an die dringend benötigten ausländischen Devisen zu kommen, vertrat eine Minderheit um Wilhelm Lautenbach, damals Referent im Reichswirtschaftsministerium, eine ganz andere Position.

Im Gegensatz zur Deflationspolitik der damaligen Regierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning entwickelte Lautenbach mit dem nach ihm benannten Plan eine Alternative, die vor allem auf konjunkturpolitische Maßnahmen mittels staatlicher Kreditexpansion setzte.

Beide, Keynes und auch Lautenbach, waren überzeugt davon, dass Deutschland, belastet mit hoher Verschuldung aus dem ersten Weltkrieg und gefangen im Goldstandard, nur durch großzügige Kredite überhaupt in die Lage versetzt würde, eine Wirtschaftskrise zu verhindern und Reparationszahlungen zu leisten.

Unabhängig voneinander entwickelten sie die ersten Grundzüge der volkswirtschaftlichen Saldenmechanik, die erstmals gesamtwirtschaftliches Denken auf ein logisches Fundament allgemeingültiger Regeln setzte.

Das Transferproblem veränderte die makroökonomische Sichtweise entscheidend
Für die Leistung der Reparationszahlungen hätte Deutschland dauerhafte Exportüberschüsse gegenüber den Siegerländern erzielen müssen, da aus obigen Gründen eine weitere Verschuldung nicht möglich war, während Sparen und Lohnsenkungen nur zu höherer Arbeitslosigkeit und Krisenverschärfung führten.

Die Saldenmechanik liefert aber auch hier die Begründung dafür, warum solche Leistungsbilanzungleichgewichte (Exportüberschüsse gehören dazu) letztlich untragbar sind:

Länder, die sich über längere Zeiträume gegenüber ihren Handelspartnern verschulden, geraten früher oder später in eine Situation, in der Fragen hinsichtlich der Tragbarkeit ihrer angehäuften Auslandsschuld, d.h. ihrer Fähigkeit, diese Schuld zu bedienen und zurückzuzahlen, auftauchen.

Eine Nettoschuldentilgung durch ein Schuldnerland ist jedoch nur möglich, wenn es einen Leistungsbilanzüberschuss erzielt.

Das bedeutet, dass das Gläubigerland bereit sein muss, seine Überschussposition in eine Defizitposition zu verwandeln.

Einzelne Unternehmen oder Haushalte mögen in der Lage sein, ihre ausstehenden Schulden zu reduzieren, indem sie „den Gürtel enger schnallen“ oder ihre Einkommensströme erhöhen; das hat keine Auswirkung auf das laufende Ein-kommen des Gläubigers.

Bei den meisten Gläubiger-Schuldner-Beziehungen zwischen Ländern ist dies jedoch nicht möglich. Wenn ein Gläubigerland mit allen Mitteln seinen Leistungsbilanzüberschuss verteidigt, wird es für das Schuldnerland sehr schwierig oder sogar unmöglich, ein Leistungsbilanzdefizit in einen Leistungsbilanzüberschuss zu verwandeln, der für eine Nettotilgung seiner Auslandsschuld erforderlich ist.

Auf der Grundlage dieses Gedankenkonstrukts kam Keynes 1929 zu dem verblüffenden Schluss, dass Deutschland, welches gezwungen war, die Reparationen in Sachleistungen zu zahlen, während eines längeren Zeitraums Leistungsbilanzüberschüsse erzielen und Marktanteile auf Kosten der Alliierten, also der Begünstigten der Reparationen, gewinnen müsste.
Würden diese Länder sich weigern, Deutschland diesen Spielraum zu geben, so wäre die Zahlung von Reparationen unmöglich.

Es war also unbedingt notwendig, dass die Alliierten, hier vor allem die USA als die große Gläubigernation der europäischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg, sich gegenüber Deutschland verschulden und Kredite gewähren mussten, um das Deutsche Reich überhaupt in die Lage zu versetzen, Leistungsbilanzdefizite abbauen zu können, ohne hohe Realeinkommensverluste hinnehmen zu müssen.

Der Lautenbach-Plan wird abgelehnt
Lautenbach, der durch seine theoretischen Überlegungen zu makroökonomischen Paradoxa diese Problematik erkannt hatte, entwarf damals einen Plan, mit Kreditexpansion durch die Reichsbank bei gleichzeitiger Lohnkürzung mit staatlichen Beschäftigungsprogrammen aus eigener Kraft ähnliche Überschüsse zu erreichen und die ausländische Kreditnutzung dabei in möglichst engen Grenzen zu halten.

Dieser Lautenbach-Plan, 1931 ausgearbeitet, verband damit eine Doppelstrategie aus nachfrage- und angebotstheoretischen Teilen, es handelte sich dabei erstmals um eine systematische Verbindung von Expansions- und Deflationspolitik.

Die Erfahrungen der Super-Inflation, die darauf wieder eingeführte Golddeckung der Rentenmark mit der Verpflichtung zur Rückzahlung ausländischer Kredite in Gold, Geldverknappung durch hohe Zinsen und der Versuch, das Ausland mit dem Elend der Krise und der Massenarbeitslosigkeit zu zeigen, dass Deutschland wirtschaftlich nicht in der Lage war, die Reparationsforderungen zu erfüllen, verhinderten die Annahme des Plans durch die Regierung Brüning.

Die Weigerung der Amerikaner, neue Kredite zu gewähren bzw. der Abzug vieler bereits erfolgter Darlehen führten schließlich zusammen mit Brünings Deflationspolitik Deutschland in die Depression und Wirtschaftskrise, die erst mit der Niederlage nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig beendet werden konnte.

So ist es nicht übertrieben, im Rückblick die Unmöglichkeit der Umgestaltung des deutschen Zahlungsbilanzdefizits sowohl durch eine Ausweitung expansiver Liquiditätspolitik mit gleichzeitigen Lohnsenkungen und Steuererhöhungen oder/und den direkten Import von Auslandskapital als einen der wichtigsten Gründe für die desaströse Wirtschaftsentwicklung und ihre weiteren Folgen auch im politischen Bereich (Ablehnung der Weimarer Republik und dem Aufstieg Adolf Hitlers) zu verorten.

Wäre man 1931 zur Behebung der weltweiten Depression diesen Weg gegangen, vor allem den der wechselseitigen Kredithilfe der Notenbanken und Regierungen, so hätte sich der Leidensweg der „autonomen“ Konjunkturpolitik mit all ihren tragischen Konsequenzen wohl vermeiden lassen.

Der einzige Trost, den man aus diesem unsäglichen Scheitern von Wirtschaftspolitik und Ökonomie ziehen kann, ist der, dass die modernen Regierungen in der Finanz- und anschließenden Eurokrise zumindest die gröbsten Verwerfungen vermeiden konnten.
Und dies vor allem dank der aus diesem Transferproblem entstandenen neuen wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse, die immer mit den Namen von John Maynard Keynes und Wilhelm Lautenbach verbunden bleiben werden.

Im zweiten Teil geht es weiter mit: Der deutschen Wiedervereinigung und dem erneuten Auftreten des Transferproblems…