Wilhelm Lautenbach – der „deutsche Keynes“

Wilhelm Lautenbach (* 26. August 1891 in Zwinge; † 24. Mai 1948 in Davos) war Referent für Finanzfragen im Reichswirtschaftsministerium in den 1930er Jahren, wo er sich vornehmlich mit Währungsfragen, der deutschen Bankenkrise, den Auswirkungen der Reparationszahlungen und der damals vorherrschenden Massenarbeitslosigkeit beschäftigte.

Lautenbach zählte damals zu den führenden deutschen Konjunkturtheoretikern und gilt heute als der bedeutendste unter den Vorläufern des Keynesianismus.

Nach ihm ist der Lautenbach-Plan (1931) benannt, dem eine Doppelstrategie zugrunde liegt, einerseits deflatorische (Lohnsenkungen) Maßnahmen, andererseits inflatorische (ausgleichende), konjunkturpolitische Maßnahmen (Erhöhung der Beschäftigung auch mittels staatlicher Kreditexpansion). Lautenbach war völlig klar: „Nur wenn neuer Kredit zusätzlich geschaffen wird oder brachliegende Gelder in Bewegung gesetzt werden, könnte eine solche Aktion der Wirtschaft insgesamt einen belebenden Auftrieb geben.“…

Bundesarchiv Bild 183-T0706-501, berlin, Armenspeisung
Armenspeisung während der Weltwirtschaftskrise 1931 in Berlin

So beginnt bei Wikipedia der Beitrag über den deutschen Ökonomen Wilhelm Lautenbach.

Vergessene Alternative zur Deflationspolitik
Nachdem in Folge der Weltwirtschaftskrise auch im Deutschen Reich Anfang der 30er Jahre nach massenhafter Kapitalflucht und Beinahezusammenbruch des Bankensystems in der Währungs- und Kreditkrise kein Ende des bereits seit Jahren währenden Abschwungs zu erkennen war, gab es erste Ansätze zu einem Umdenken unter den Ökonomen.

Erstmals waren damals unter dem Eindruck der unhaltbar angestiegenen Massenarbeitslosigkeit viele bereit, darüber nachzudenken, ob und wie der Staat aktiv durch Nachfrageerhöhungen zur Überwindung der Krise beitragen könne oder sogar müsse.

Es war der oben beschriebene Ministerialbeamte Wilhelm Lautenbach, der mit seinem Plan ganz neue Aspekte in die Diskussion um die richtige Wirtschaftspolitik der damaligen Zeit einbrachte.

Aber warum sollte uns in der heutigen Zeit ein weitgehend vergessener Ökonom, ein langweiliger Referent aus dem Wirtschaftsministerium der Weimarer Republik noch interessieren?

Wir wissen heute, dass sein Alternativvorschlag zur damals durchgeführten „Deflationspolitik“, für die heute die Bezeichnung „Brüning-Politik“ eine traurige Berühmtheit erlangt hat, der sogenannte Lautenbach-Plan, sich nicht durchsetzen konnte und letztlich nicht angenommen wurde.

Arbeitslosenquote 1928 bis 1935
Arbeitslosenquote Deutsches Reich von 1928 bis 1935 (in %)
In der Phase der Brüningschen Deflationspolitik (violett hervorgehoben), stieg die Arbeitslosenquote von 15,7% in 1930 auf 30,8% in 1932

Weshalb also sollte uns ein gescheiterter Wirtschaftswissenschaftler, der schon zu seinen Lebzeiten kein Gehör fand und damit wohl doch zurecht der Vergessenheit anheim gefallen ist, heute noch irgendetwas Sinnvolles und Hilfreiches anzubieten haben?

Nun, Wilhelm Lautenbach hatte nicht nur einen Plan zur Überwindung der damaligen Währungs- und Kreditkrise vorgelegt, sondern er hatte gleichzeitig damit einige Grundprinzipien der damals wie heute herrschenden klassischen Wirtschaftswissenschaften fundamental in Zweifel gezogen.

Say’s Law: Das Angebot schafft sich seine Nachfrage nicht immer automatisch selbst
Noch aus dem 19. Jahrhundert stammt das sogenannte Say’s Law oder saysche Theorem/Gesetz, das sich bis heute in vielen Lehrbüchern der Ökonomie findet und von den klassischen bzw. neoklassischen Wirtschaftswissenschaftlern geradezu wörtlich aufgefasst wird.

Es lautet (nach einer Zusammenfassung von John Maynard Keynes):
Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage selbst.

Dieses Theorem mit seinem Kausalzusammenhang zwischen volkswirtschaftlichem Angebot und Nachfrage wird seit Jahrzehnten von den Neoklassikern dazu genutzt, eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zu betreiben. Eine zusätzliche Stimulierung der Nachfrage durch Politik oder Notenbank wird gleichzeitig als unnötig abgelehnt, da ja nach diesem Theorem automatisch ein entsprechendes Marktgleichgewicht geschaffen wird.

Hier war es erstmalig Wilhelm Lautenbach, der bereits 1931 in seinen Arbeiten den nachfrageseitigen Automatismus dieses Gesetzes für die Gesamtwirtschaft bezweifelte und seine ursprüngliche Bedeutung wieder in den Vordergrund schob. Er wies nach, dass dieses Gesetz eigentlich richtiger „Jedes Angebot will sich seine Nachfrage schaffen“ heißen müsste.

Bundesarchiv Bild 102-12023, Berlin, Bankenkrach, Andrang bei der Sparkasse
Massenandrang vor einer Sparkasse nach Schließung der Banken, Berlin 1931

Er teilte dafür das gesamte Einkommen der Volkswirtschaft (= Angebotsseite) in Unternehmereinkommen und Nichtunternehmereinkommen auf. Gleichzeitig analysierte er, dass das gesamte Volkseinkommen (= Nachfrageseite) nur aus Konsum und Investition besteht.

Lautenbach folgerte daraus: „Da aber das Einkommen der Nichtunternehmer pari passu mit der Produktion unmittelbar gegeben ist, eben durch die Höhe der Entschädigungen, die die Unternehmen an die Nichtunternehmer zahlen, während das Unternehmereinkommen gerade unbestimmt ist und erst auf dem Markt festgestellt wird.“
Er kam zu dem Schluss:“ Also das Einkommen der Unternehmer ist gleich dem Wert der Investition zuzüglich Wert des Verbrauchs der Unternehmer abzüglich Ersparnisse der Nichtunternehmer.“
Damit aber verbleibt den Unternehmern nach Abzug der Ersparnisse der Nichtunternehmer erst am Ende des Marktprozesses der eigene Verbrauch und der Wert der Investitionen als ihr Gewinn.

Klar wird dann aber auch, dass eine Reduzierung der Nachfrage z. B. durch Lohnsenkungen oder eine höhere Sparquote der Nichtunternehmer zuallererst und unmittelbar die Einkommen der Unternehmer reduzieren, sodass am Ende weniger Gewinn und damit auch weniger Mittel für Investitionen der Unternehmer zur Verfügung stehen.

Dies aber beschreibt nach Lautenbach zutreffend den entscheidenden Zusammenhang zwischen Angebot- und Nachfrageseite:
Nur wenn die Nachfrageseite (= Summe des Konsums der Nichtunternehmer minus ihrer Ersparnisse) entsprechend mithält, kann die Angebotsseite (= Summe des Verbrauchs der Unternehmer und der Investitionen abzüglich der Ersparnis aller Nichtunternehmer) florieren.

Das bedeutet dann aber auch: nur wenn die Nichtunternehmen oder die Unternehmen selbst konsumieren, also Geld ausgeben und eben nicht sparen, können die Gewinne der Unternehmer steigen.

Der tatsächliche Zusammenhang von Sparen und Investieren
Diese Feststellung aber zieht unmittelbar einen weiteren ehernen Grundsatz der klassischen Theorie in Zweifel: Es müsse erst gespart werden, damit investiert werden könne.

Lautenbach stellte aufgrund seiner obigen Erkenntnisse dagegen fest:
„Es wird nicht die Investition durch die Ersparnisse, sondern umgekehrt die Ersparnis durch die Investition bestimmt. Die Ersparnis ist ein reiner Verteilungsbegriff.

Das Sparen entscheidet nicht über die Gesamtgröße der Investitionen sondern nur über den Anteil der Wirtschaftssubjekte an dem Vermögenszuwachs den die Volkswirtschaft durch die Investition erfährt.“

Im Gegensatz zur klassischen Theorie wies er damit nach, dass Gewinne und Ersparnisse gesamtwirtschaftlich eindeutig in einem negativen Zusammenhang stehen.

Weiter führte Lautenbach aus:
„Man kann die Lehre von Keynes auf eine knappe und prägnante Formel bringen: Das Verhältnis von Sparrate und Investitionsrate bestimmt den Konjunkturverlauf. Eine Wirtschaft befindet sich im Gleichgewicht, wenn Investitionsrate und Sparrate gleich sind, sie gerät in Hoch-Konjunktur und stürmische Entwicklung, wenn die Investitionsrate über die Sparrate steigt, und sie gerät in eine Krise und fortgesetzte Versackung, wenn die Investitionsrate unter die Sparrate sinkt.

Eine allgemeine Depression zeigt regelmäßig, daß die Wirtschaft von ihren Überschüssen und Ersparnissen nicht ausreichend den in der kapitalistischen Wirtschaft einzig rationellen Gebrauch, nämlich Verwendung als Anlage- oder Betriebskapital macht, wenn also die reale Kapitalverwendung hinter der potentiellen Kapitalbildung zurückbleibt.

Nie ist eine Depression anders überwunden worden als durch gesteigerte Kapitalverwendung und zwar regelmäßig auf Grund großer neuer Investitionen.

Wenn man Lautenbachs Erkenntnissen folgt, wie es einige Ökonomen wie der ehemalige UNCTAD-Direktor Heiner Flassbeck und die Volkswirtschaftlerin Friederike Spiecker tun, so kommt man zu der logischen Feststellung, dass die von der herrschenden Volkswirtschaftslehre vertretenen Thesen zum Vorrang der Angebotspolitik und des Sparens als Voraussetzung für Investitionen so nicht stimmen können.

Damit aber geht auch die Einsicht einher, dass die momentan in Deutschland und Europa überwiegend verfolgte neoklassische Wirtschaftspolitik und damit vor allem die Austeritätspolitik nicht wirklich alternativlos und der Weisheit letzter Schluss sein können.

Es ist den frühen Arbeiten jenes heute fast vergessenen Wilhelm Lautenbach zu verdanken, dass uns heute andere Wege offen stehen, Deflation und Austerität zu vermeiden und die richtigen Schritte zur Bewältigung der Finanzkrise einzuleiten.

Man muss diese Wege dann allerdings auch gehen wollen…

Zitate aus Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (PDF; 1,6 MB)