Das Problem mit den Elterntaxis – und die Analogie zu den gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen

Sein Kind in die Schule zu fahren ist gefährlicher, als es selbst gehen zu lassen. Eine wissenschaftliche Studie im Auftrag des ADAC zeigt: Auch die Kinder vor der Schule sind in Gefahr, wenn Eltern ihre Kleinen bis vor die Schultüre fahren.

Zitat aus einer vom ADAC beauftragten Studie

Barn i trafikken, Karin Beate Nosterud

Immer mehr wird demnach der elterliche Begleitverkehr, hauptsächlich mit dem PKW bis möglichst vor das Schultor, zu einem eminenten Sicherheitsrisiko und auch einer gesellschaftlichen Frage.

So erläutert der ADAC weiter:
„Die Studie zeigt, wie die konkrete Gefährdungssituation vor Grundschulen aussieht: Hier gefährdeten in vielen Fällen Eltern durch regelwidriges Anhalten oder riskante Wendemanöver die Sicherheit anderer Schulkinder und Verkehrsteilnehmer teils massiv.

Die „Elterntaxi“-Studie beklagt zudem als weiteren negativen Nebeneffekt, dass durch regelmäßige Hol- und Bringdienste die selbständige Mobilität von Schulkindern immer mehr verloren geht.“

Ökonomisch gesehen handelt es sich bei dem Problem der Elterntaxis um ein typisches Beispiel einer Rationalitätenfalle, bei dem die dem Einzelnen rational erscheinende Verhaltensform (Eltern bringen ihr Kind mit dem PKW zur Schule, um es vor den Gefahren des Schulweges zu schützen) sich stark von dem unterscheidet, was der Gesamtheit der Individuen (hier der Schüler) nutzt bzw. nicht schadet.

Vor allem im angelsächsischen Raum ist dieses Paradoxon auch unter der Bezeichnung „fallacy of composition“ (dt. Trugschluss der Komposition bzw. Verallgemeinerung) bekannt. Wie bei der Rationalitätenfalle geht es dabei um die unzulässige oder unrichtige Verallgemeinerung von den einzelnen Teilen einer Sache bzw. Gemeinschaft auf die Gesamtheit des Ganzen.

So erscheint es im Falle der Elterntaxis für die jeweiligen Erziehungsberechtigten erst einmal sinnvoll, die (wenn auch meist zweifelhafte) Gefährdung ihres Kindes auf dem Schulweg zu verringern, indem man es mit dem PKW zur Schule oder Kita bringt. Doch spätestens, wenn man die Auswirkungen dieses „Individualverkehrs“ auf die Gesamtheit aller Kinder ausweitet, die diese Erziehungsanstalten besuchen müssen, werden ganz andere Prämissen wirksam, die für den Einzelnen zunächst nicht wirklich wichtig oder überhaupt beachtenswert erscheinen.

Viele betroffene autofahrende Erziehungsberechtigte werden sich höchstwahrscheinlich vehement gegen die Feststellung der oben zitierten Studie verwehren, wonach sie durch ihr Verhalten andere Kinder gefährden würden, obwohl das eine der zentralen Thesen dieser Abhandlung darstellt.

Auch die besagten negativen Auswirkungen auf die allgemeine Mobilität ihrer Kinder dürften vielen „Taxi“-Eltern zunächst überhaupt nicht bewusst sein, und es wird auch nicht wenige geben, die sie nahezu komplett verleugnen würden.

Spätestens hier, bei der Feststellung der Tatsache, dass in diesem speziellen Problemfall für den Einzelnen andere Prämissen gelten als für die Gesamtheit, fällt die Ähnlichkeit zur Thematik der Unterschiede einzel- und gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge sofort ins Auge.

Allzu oft werden heute strittige Punkte in der Wirtschaftspolitik vorschnell zu einer Frage der Theorie oder der Ideologie erklärt, die sich bei kritischerer Betrachtung jedoch nur als eine Folge bewusst oder unbewusst ungenügenden Denkens entpuppen. Viel zu häufig werden dabei Sachverhalte nur von der einen (einzelwirtschaftlichen) Sichtweise betrachtet, während man die notwendige Berücksichtigung der möglichen Folgen für die Allgemeinheit aller Wirtschaftssubjekte schlicht missachtet.

Wenn also auch die Volkswirte die gesamtwirtschaftliche Logik nicht wenigstens in die politische Diskussion mit einbeziehen, verkommt diese tatsächlich zum Diskurs über ideologische Fragen oder verbleibt einfach beim einzelwirtschaftlichen Kalkül. Denn für den Großteil der Bevölkerung, für Unternehmer ebenso wie für alle anderen, ist gewöhnlich das Verständnis von Wirtschaft durch ihre einzelwirtschaftliche, haushälterische Erfahrung geprägt.

Daher muss man festhalten, dass es der wirtschaftspolitischen und auch der wirtschaftstheoretischen Diskussion sehr oft an einer entsprechenden Berücksichtigung der grundlegenden saldenmechanischen Zusammenhänge mangelt.

Denn „die Saldenmechanik ermöglicht es, die regelmäßig notwendigen Verhaltensannahmen der volkswirtschaftlichen Theorien und Postulate auf ein logisches Fundament gesamtwirtschaftlichen Denkens zu stellen[…]. Dabei werden bisherige Fehlschlüsse in der Preis-, Geld- und Konjunkturtheorie aus einzelwirtschaftlichem Denken […] durch korrekte Mikrofundierung und die Einführung der real existierenden Kreditwirtschaft in die Modellbildung überwunden […]“ (zitiert aus Wikipedia).

Daher halte ich ein Verständnis dieser Mechanik für grundsätzlich erforderlich, wenn man bei der Interpretation gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge keinen Trugschlüssen aufsitzen will. Auch und gerade viele erbitterte Auseinandersetzungen in der Ökonomik – zwischen Keynesianern und Neoklassikern, zwischen Befürwortern und Gegnern des Sparens etc. – lassen sich vor allem darauf zurückführen, dass den saldenmechanischen Zusammenhängen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Das Beispiel der „Elterntaxis“ bietet daher einen ausgezeichneten Ansatz, dem größtenteils unwissenden oder nicht so weit denkenden Publikum die Thesen der Salden– bzw. Kreditmechanik eines Wolfgang Stützel und Wilhelm Lautenbach wieder näherbringen zu wollen. Diese Idee ist einer der Grundpfeiler dieses Blogs.

Zur Vertiefung dieser Thematik verweise ich daher auf einige ältere Beiträge meines Blogs:
Volkswirtschaftliche Saldenmechanik – vergessene Grundlage der Geldtheorie
Saldenmechanik – erklärende und vertiefende Beispiele
Der kollektive Buddenbrooks-Effekt
Sparparadoxon: Wer mehr Tore schießt, wird Weltmeister; wenn alle mehr Tore schießen, werden alle Weltmeister