„Private Laster, öffentliche Vorteile“
Mit diesem Untertitel veröffentlichte der Niederländer Bernard Mandeville bereits 1705 seine vieldiskutierte Streitschrift „The Fable of the Bees: or, Private Vices Publick Benefits“, in der er die provozierende These aufstellte, dass nicht die Tugend, sondern das Laster der eigentliche Ursprung des Gemeinwohls sei.
Die in diesem Buch erstmals bekannt gewordene Ansicht, dass für Gesamtheiten in der Wirtschaft manchmal etwas ganz anderes gilt als für die einzelnen Teile dieser Gesamtheit, wird noch heute als das Mandeville-Paradox bezeichnet und stellt einen wichtigen Grundsatz der ökonomischen Wissenschaften dar.
Doch Mandeville beschränkte seine Aussagen nur auf einen ganz besonderen Fall, den Wolfgang Stützel so charakterisierte:
Wenn ein einzelner lasterhaft seine Ausgaben vermehrt, vermindert er damit seine Möglichkeiten, weitere Ausgaben zu machen, verkleinert er sein Geldvermögen und erscheint als Verschwender.
Wenn aber alle sich so verhalten, schaffen sie gerade durch die vermehrten Ausgaben sich wechselseitig auch vermehrte Einnahmen und damit auch schon die Möglichkeit zu weiteren höheren Ausgaben.Stützel: Volkswirtschaftliche Saldenmechanik (1978), S. 16
Zu seiner Zeit, im Merkantilismus, waren die Zahlungkreisläufe noch sehr viel geschlossener als in späteren Epochen, und ökonomische Analysen beschränkten sich daher auch regelmäßig nur auf relativ abgeschottete Systeme zwischenmenschlicher Beziehungen.
Doch im 19. Jahrhundert fanden Mandevilles Ausführungen über „kreislauftheoretische“ Anwendungsfälle nur noch wenig Interesse.
Mit dem Schub der ersten richtigen „Globalisierung“, als sich die Volkswirtschaften immer weiter öffneten und erstmals eine Art „Weltwirtschaft“ bildeten, entfiel dann aber die wichtigste Bedingung für das Auftreten kreislauftheoretischer Paradoxien:
eine spezielle Analyse relativ geschlossener Gefüge von Wirtschaftsbeziehungen schien nun nicht mehr notwendig und damit überholt zu sein.
Erst als dieser Öffnungsprozess sein vorläufiges Ende durch die Katastrophe eines ersten weltweiten Krieges fand, und in dessen Folge in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts wieder das merkantilistische Denken für annähernd geschlossene Handelssysteme sorgte, erhielt das Mandevillsche Kreislaufparadoxon neue Würdigung durch den aufkommenden Keynesianismus.
Eine der weiteren Folgen dieses 1. Weltkriegs war auch das erstmalige Auftreten einer so gewaltigen zahlungstechnischen Problematik, die weitaus größer als alle bis dahin betrachteten privatwirtschaftlichen Transaktionen war und allein deshalb schon einen anderen Weg der Analyse als den damals noch üblichen einzelwirtschaftlichen Ansatz erforderte:
Die Reparationszahlungen, die das Deutsche Reich aufgrund des Versailler Vertrages an die damaligen Alliierten leisten sollte.
Wie ich in meinem Artikel über das erstmalige Auftreten des Transferproblems bereits ausführte, war es diese spezielle Problematik, die nicht nur das neuartige Keynessche Denken begründete, sondern auch in Deutschland zu alternativen Wirtschaftstheorien wie der „Kreditmechanik“ des Wilhelm Lautenbach oder die Theorie des Bankkredits von Albert Hahn führte.
Dass es beim Wechsel zur gesamtwirtschaftlichen Betrachtung des Wirtschaftskreislaufes häufig zu ungewöhnlichen Ergebnissen kommt, die sich zudem von der einzelwirtschaftlichen Sichtweise erheblich unterscheiden, hatte auch der Volkswirt Carl Föhl bereits 1937 in seinem Werk „Geldschöpfung und Wirtschaftskreislauf“ erkannt. Von ihm stammt zudem die Bezeichnung solcher Wendungen als „zunächst überraschende, oft sogar paradox erscheinende Zusammenhänge“.
Aufbauend auf diesen Arbeiten formulierte Wolfgang Stützel den entscheidenden Unterschied volkswirtschaftlicher Analysen gegenüber betriebswirtschaftlichen Denkens in einfacher Form so:
So besteht z. b. zwischen der Wirtschaftstätigkeit des Herrn Schulze und der Tätigkeit aller übrigen Mitglieder der Weltwirtschaft außer zahllosen anderen Beziehungen auch noch der primitive Zusammenhang, dass stets, sooft Herr Schulze mehr verkauft und einnimmt als er selbst kauft und ausgibt, die „übrige Weltwirtschaft“ im gleichen Zeitraum einen gleichgroßen Überschuss ihrer Käufe über ihre gleichzeitigen Verkäufe haben wird, da offensichtlich jeder Verkaufsakt für den Partner einen Kaufakt darstellt.
Man braucht, um derartige Zusammenhänge darzustellen, keine höhere Mathematik; es genügt, im Bewußtsein zu halten, dass eben nun einmal auf dieser Erde stets 2 + 2 = 4 bleibt.
Stützel: Volkswirtschaftliche Saldenmechanik (1978), S. 2
Mit diesem simplen Vergleich kennzeichnete Stützel auf originelle Weise die notwendige Unterteilung volkswissenschaftlicher Analysen in die Mikro- und Makroökonomie. Dabei stellte er fest, dass einzelwirtschaftliche Entscheidungen häufig zu gesamtwirtschaftlichen Ergebnissen führen, die ursprünglich von den individuellen Entscheidern so überhaupt nicht beabsichtigt wurden.
Für diese Art von ungewollten Auswirkungen prägte man schon früh den Ausdruck der Rationalitätenfalle als allgemeine wissenschaftliche Bezeichnung.
In der ökonomischen Forschung definierte Wolfgang Stützel für das Auftreten ähnlicher Fälle im Wirschaftsgeschehen den Begriff des Konkurrenzparadoxons.
Damit wird in der Volkswirtschaft eine Situation bezeichnet, in der sich Maßnahmen, die für ein einzelnes Wirtschaftsobjekt oder für eine Gruppe von Wirtschaftsobjekten Wettbewerbsvorteile bieten, aufheben, wenn sich die Gesamtheit ebenso verhält.
In der Regel ist dann im Endeffekt der erzielte Vorteil aller geringer als zuvor (siehe Saldenmechanik – erklärende und vertiefende Beispiele).
Auch das Sparparadoxon gehört zu den allgemeinen Anwendungsfällen der volkswirtschaftlichen Saldenmechanik.
Dabei geht es um Sparen durch die Kürzung der Ausgaben, was für den Einzelnen immer zu einem Einnahmeüberschuss, also einer Ersparnis von Geld führt.
Sobald aber die Gesamtheit (also die Summe aller einzelnen Wirtschaftsobjekte) an den Ausgaben spart, sinken nur die Einnahmen in der Gesamtwirtschaft.
Für die Weltwirtschaft als Ganzes gilt nach den Grundsätzen der Saldenmechanik denn auch uneingeschränkt der Satz, dass die Geldvermögen insgesamt immer gleich Null sind. Dies bedeutet, dass den in Geld ausgedrückten Ansprüchen des einen jederzeit Geldschulden als Leistungspflichten in exakt gleicher Höhe anderer gegenüberstehen.
Aktuell im Verhältnis zwischen den Nationen bedeutet das: Langfristig kann kein Land eine große Schulden- oder Vermögensposition gegenüber dem Rest der Welt aufbauen und halten, ohne dass es dafür nicht irgendwann einen Ausgleich gäbe: Entweder es werden durch Rückzahlung Schulden abgebaut oder Vermögen durch den Transfer ins Ausland abgebaut.
Die derzeitige Politik der deutschen Regierung und der europäischen Entscheider lässt allerdings klar darauf schließen, dass das einzelwirtschaftliche Kalkül weiterhin den alleinigen Treibsatz weitreichender Beschlüsse darstellt und man nicht willens ist, widersprechende Erkenntnisse makroökonomischer Gesetzmäßigkeiten wie der Saldenmechanik überhaupt anzuerkennen.
So ist es denn auch eines der wichtigsten Anliegen dieses Blogs, die vor allem in Deutschland noch immer fast unbekannten Thesen von Stützel und Lautenbach wiederzubeleben und der vorherrschenden Dominanz einzelwirtschaftlicher Betrachtungen eine konsistente gesamtwirtschaftliche Logik entgegenzustellen.
Dabei werde ich die einzelwirtschaftliche Sicht, soweit sie nicht zur Erklärung der wesentlichen Zusammenhänge erforderlich ist, auch weiterhin vernachlässigen.
Wer hier also rationelle Ratschläge über das Für und Wider der verschiedensten Anlagemöglichkeiten erwartet, den muss ich leider enttäuschen und an entsprechende Dienstleister verweisen, von denen es seriöse Vertreter wie z. B. den Investor-Verlag durchaus auch im Internet gibt.
Dabei sollte man aber auch nicht vergessen, dass antizyklische und damit rational makroökonomische Entscheidungen letztlich nur der treffen kann, der die Gesamtwirtschaft per Amt vertreten sollte, also die gewählten Politiker und die für die Geldpolitik verantwortlichen Zentralbanker. Von allen anderen kann ein solches Verhalten nicht erwartet werden, weil es einzelwirtschaftlich irrational ist.
Zum besseren Verständnis manch paradox anmutender Erklärung ökonomischer Zusammenhänge wäre es aber allgemein ratsam, ein wenig Hintergrundwissen über die Logik gesamtwirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten zu besitzen.