Alternative Wirtschaftstheorie – Teil 9: Die freie Zinsbildung

In diesem Beitrag soll es nun um die Bildung des Zinssatzes ohne Manipulationen gehen, also darum wie das Steigen oder Sinken des Zinses entsteht. Dazu wenden wir uns den Bankzinsen zu, und da besonders dem Kontokorrentkredit als Beispiel für die Art und Weise, wie der Zins in der praktischen Wirtschaft ermittelt und berechnet wird.

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Die naheliegende Antwort, dass er von dem Diskontsatz der Zentralbank abhängig sei, ist zwar grundsätzlich richtig, soll uns aber hier nicht ausreichen. Es geht mehr um das allgemeine Prinzip, mit dem die Zinsen der Bank vom Diskontsatz der Notenbank abhängen und wie wiederum der Diskontsatz selbst bestimmt wird.

Oder wie es Wilhelm Lautenbach recht treffend formulierte:

Und irgendein solches regulierendes Prinzip muß es ja geben, weil sonst die Willkür herrschte, die das Chaos gebiert.

Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 59

Die Ansicht der klassischen Theorie, dass es sich beim Zins um einen Knappheitspreis handelt, der in irgendeiner Form aufgrund von Angebot und Nachfrage nach verfügbarem Kapital gebildet werde, haben wir ja bereits durch die Feststellung widerlegt, dass es einen als Angebot bereitstehenden „Sparfonds“ in der geschlossenen Wirtschaft nicht gibt.

Im Gegenteil haben wir bei der Darstellung der Kreditmechanik bereits gesehen, dass die Banken den Kredit eben nicht wie ein Händler ihre Ware anbieten und daher auch nicht auf Läger oder Lieferantenlieferungen angewiesen sind. Auch die Vorstellung, die Bankiers würden die ihnen zufließenden Mittel wiederanlegen und dabei diese Anlagen weiterverleihen ist im Lichte dieser Argumentation so nicht richtig.

Stattdessen haben wir gesehen, wie der Bankkredit tatsächlich zustande kommt, wodurch das gesamte Kreditvolumen letzlich bestimmt wird und was tatsächlich Sinn und Zweck des Bankkredits in wirtschaftlicher Hinsicht ist. Es wurde dabei gezeigt, dass das Kreditvolumen sich zwar wie das Sparen der Nichtunternehmer entwickelt, es aber zwischen diesem Sparen und den Investitionen keinen direkten Zusammenhang gibt.

Es wurde auch deutlich, dass eben das Volumen an Investitionskredit in keinster Weise abhängig ist von der Höhe der bei den Banken auflaufenden Spareinlagen. Ebenso wurde gezeigt, dass der Kreditbedarf für Investitionen nicht in einer einfachen Beziehung zur gesamten Menge der Investitionen steht, sondern dass er umso geringer ist, je gleichmäßiger die Unternehmer investieren und je weniger die Nichtunternehmer sparen.

Bestimmt wird das Volumen der Ausleihungen einer Bank nicht durch die Aktiv- und Passivgeschäfte, da sich Einlagen und Kredite zwar notwendigerweise einander entsprechen, die Banken aber gerade nicht die Bankguthaben, also ihre Schulden, verleihen. Stattdessen richten sich die Banken bei der Kreditgewährung allein nach ihrer Liquidität, also ihrer Ausstattung mit Zahlungsmitteln für Investitionen/Kredite einerseits und zur Erfüllung von Zahlungsverpflichtungen andererseits:

Oder auch, wenn man genau sein will: sie lassen sich leiten, wie alle Unternehmer, von ihrem Ertragsstreben, sie wollen Geschäfte machen und verdienen, und der Rahmen für ihre Tätigkeit, ihre Bewegungsfreiheit wird bestimmt durch ihre Liquidität; und der Zins ist das Mittel der Bank, die an sie herantretenden Ansprüche in den Grenzen zu halten, die ihr durch die Liquiditätsrücksichten gezogen sind.
Bessert sich die Liquidität, so hat der Bankzins die Tendenz zu sinken, verschlechtert sie sich, so steigt er.

Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 60

So ist nach Lautenbach die Entwicklung der Liquidität die „einzige Richtschnur für die Kreditpolitik der Banken“.

Gleichzeitig ist auch eine Beantwortung der Frage, ob und wie die Liquidität auf das Sparen reagiert, also ob die klassische Theorie des Zusammenhangs zwischen verfügbarem Kapital und Kapitalbedarf auch etwas mit der Entwicklung der Liquidität zu tun hat, möglich.

Aktuelle und mögliche (potentielle)Liquidität
Um die Zinsbildung erklären zu können, muss also zuerst geklärt werden, wodurch die Liquidität der Banken festgelegt wird, durch die der Bewegungsspielraum der Banken bezüglich ihrer Kreditgeschäfte in erster Linie bestimmt wird. Die einfachste Erklärung lautet, dass eine Bank immer solange liquide ist, wie sich ihre Einzahlungen und Auszahlungen im Gleichgewicht befinden.

Dieses Verhältnis der laufenden Einzahlungen und Auszahlungen bezeichnet man als die aktuelle Liquidität. Jede Bank wird ein Interesse daran haben, ihr Geschäft so auszurichten, dass die aktuelle Liquidität im Schnitt und möglichst auf Dauer gleich Eins ist. Wäre sie kleiner als Eins, so würde sich mit der Zeit die Kasse der Bank ausräumen und sie würde gezwungen, irgendwann ihre Reserven einzusetzen, um sich Zahlungsmittel zu beschaffen.

Die Vorbereitung einer Bank für einen solchen Fall, wenn also die aktuelle Liquidität kleiner als Eins wäre, nennt man die potentielle Liquidität. Während die aktuelle Liquidität das Verhältnis der laufenden Aus- und Einzahlungen darstellt, so beschreibt die potentielle Liquidität die Relation der liquiden Zahlungsmittel der Bank zu den Ansprüchen, die sie maximal bewältigen muss.

Individuelle Liquiditätsveränderungen haben keinen Einfluss auf die Zinsbildung
Bei der makroökonomischen Betrachtung der Liquiditätsveränderungen im Bankensystem können individuelle Variierungen unberücksichtigt bleiben, das sie ja nur Ausdruck dafür sind, inwieweit einzelne Banken in ihren täglichen Abrechnungen quasi „aus der Reihe getanzt sind“.

Diese betriebswirtschaftlichen Zuspitzungen der individuellen Liquidität von Bank zu Bank sind nicht weiter interessant, da sie durch den täglichen Geldmarkt weitestgehend ausgeglichen werden. Für den Zins bleiben nur die generellen Veränderungen der Liquidität bedeutsam, wenn also in ihrer Gesamtheit alle Banken zur gleichen Zeit eine Verbesserung oder Verschlechterung ihrer Liquidität erfahren.

Depositensparen und die Veränderung der Bankenliquidität
Wilhelm Lautenbach hatte sich bereits vor über 60 Jahren in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, inwieweit eine Veränderung der Verbrauchsquote in einer Volkswirtschaft unmittelbar auch eine Anpassung der aktuellen oder potentiellen Liquidität der Banken zu Folge haben könnte. Dabei wählte er schon damals zum besseren Verständnis ein Beispiel, dessen Parallelen mit der heutigen Situation in der Bundesrepublik Deutschland erschreckend aktuell anmuten.

Daher halte ich es auch für sehr sinnvoll, ihn hier wortwörtlich zu zitieren:

Wir wollen einmal unterstellen, eine Wirtschaft befände sich auf mäßigem Beschäftigungsniveau im Gleichgewicht und nunmehr veranlasste irgendein äußerer Umstand die Angehörigen dieser Wirtschaft, sich im Verbrauch mehr zu beschränken, ohne daß sich im Warenangebot oder im Einkommen bis dahin schon etwas geändert habe.

Unterstellen wir, die Einkommenbezieher würden durch eine wirkungsvolle Propaganda veranlaßt, weniger auszugeben und mehr zu sparen! So etwas wäre zwar ein Schildbürgerstreich, aber durchaus nicht außer dem Bereich der Möglichkeit.
Denn schon oft hat man für eine depressive Lage Kapitalmangel verantwortlich gemacht und -ein fatales quid pro quo -verstärktes Sparen als Rezept zur Heilung dieses Mangels empfohlen.

Würde nun wirklich mehr gespart, so könnte auch der Beschäftigungsstand nur aufrechterhalten werden, wenn die Investition ausgedehnt würde; denn die Senkung der Verbrauchsquote bedingt eine höhere Investitionsquote und somit eine absolut höhere Investition, damit Produktion und Einkommen auf dem gleichen Stand erhalten bleiben.

Was wir hier so etwas umständlich ausdrücken, wird einfacher, und durchaus klar in diesem Falle, durch die altbekannte Formel zum Ausdruck gebracht, «wenn mehr gespart wird, kann mehr investiert werden und wird mehr investiert»; aber in dieser Form gilt sie nicht. Die Formel drückt nur ein „Sollen“ aus, es müßte so sein, damit nicht ein höchst unerwünschter Erfolg, nämlich ein Rückgang der Produktion und der Beschäftigung eintritt.

Ob dies automatisch eintritt, hängt gerade davon ab, ob das Banksystem zweckentsprechend reagiert, billiger und mehr Kredit anbietet und zwar sehr prompt und sehr großzügig. Denn wenn die Investition nicht alsbald von der Kreditseite her etwas angeregt würde, würde sie statt zuzunehmen sogar zurückgehen:

Eine Verschlechterung der Geschäftslage der Verbrauchsgüterindustrie, die ja die erste Folge der freiwilligen Verbrauchsbeschränkung und des freiwilligen Sparens wäre, veranlaßt die Unternehmer a tempo selbst auf ihre Liquidität bedacht zu sein; das äußert sich darin, daß sie sich selbst bei allen nicht unbedingt technisch notwendigen Betriebsausgaben Reserve auferlegen, d. h. Neuinvestitionen nicht vornehmen und Ersatzinvestitionen möglichst verschieben, unter Umständen sogar die laufende Produktion einschränken.

Verbessert sich nun, ehe diese fatale und höchst widersinnige Folge eintritt, die Liquidität der Banken unter dem Einfluß des Sparens? Die Frage ist zu verneinen.

Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 61/62

Lautenbach kam sogar zu der Ansicht, dass sich die Liquidität der Banken unter ansonsten gleichen Bedingungen eher verschlechtert, wenn die ersparten Beträge als Einlagen bei den Banken angelegt werden.

Dies gilt wohlgemerkt nur für «alle Banken»; für eine einzelne Bank könnte es durchaus sein, dass ihr durch die Einzahlungen der Depositensparer mehr Zentralbankgeld zuströmt, als sie erhalten hätte, wenn ihre Kunden nicht gespart hätten.

Insgesamt aber wächst bei unveränderter Kassenhaltung dabei das Kreditvolumen, so dass sich dadurch das Gesamtverhältnis der Depositen zur Kasse verschlechtert.

Die Begründung dafür mutet etwas paradox an:
Hätten die Sparer, statt zu sparen, ihre Einkommen verausgabt, wären die Geldbeträge zwar genauso wieder durch den Einzelhandel an die Banken weitergereicht worden, doch das Kreditvolumen wäre geringer, da die für den Konsum ausgegebenen Beträge von Unternehmern eingenommen wären mit der Folge, dass ihre Gewinne höher und damit ihr Kreditbedarf entsprechend niedriger ausgefallen wären.

Dies bedeutet daher, dass der Verdienst, die Liquidität allgemein und dadurch die Tendenz zum Investieren höher sind, je weniger Lohn- und Gehaltsempfänger sparen.

Durch den verringerten Umsatz als Folge des Sparens wird erst der zusätzliche Kreditbedarf erzeugt, im Umkehrschluss wird, wenn Sparer ihre früheren Ersparnisse auflösen, die Liquidität der Banken und der Unternehmen und damit auch das Unternehmereinkommen gesteigert.

«Stärkeres» Sparen dagegen bei nicht ebenso steigender, d. h. also relativ «schwächerer» Investition vermindert demnach die Liquidität. Folglich hat der freie Geldmarktzins nach Lautenbach unter diesen Umständen die Tendenz zu steigen.

Dies aber bedeutet, dass die wirkliche Funktion des Zinses der ihm zugedachten Rolle gemäß der klassischen Theorie strikt entgegenläuft.

Im nächsten Beitrag wollen wir dann untersuchen, inwieweit eine Veränderung des Bargeldbedarfes einer Volkswirtschaft sich auf die Inanspruchnahme des Bankensystems und damit auch der zentralen Notenbank auswirkt.