Die Kryptowährung des Mittelalters: Reliquien

Vielleicht denken Sie, dass Bitcoin und die anderen Kryptowährungen eine völlig neue Währungsform sind. Vor dem Zeitalter des Internets konnte es so etwas doch noch nie gegeben haben, oder?

Il teschio di S.Maria Maddalena in basilica - panoramio
Der (angebliche?) Schädel der Heiligen Maria Magdalena in der Basilika
Saint-Maximin-la-Sainte-Baume in der Provence

Das ist aber nicht exakt. Es ist zwar richtig, dass die modernen Kryptowährungen erst durch das Internet entstanden sind, doch das Grundkonzept der „virtuellen Währung“ liegt mindestens ein Jahrtausend vor dem Internet. Im Mittelalter nutzten die Menschen eine virtuelle Währung in Form von Reliquien.

Es ist eine Geschichte, die von Anfang an erzählt werden muss. Erstens werden alle menschlichen Gesellschaften mit Geld zusammengehalten. Ohne Geld kann es keine kommerziellen Transaktionen geben, und ohne diese kann es keine komplexe Gesellschaft geben.

Für eine lange Zeit über Tausende von Jahren in der Menschheitsgeschichte basierte das Geld auf Edelmetallen, hauptsächlich Gold und Silber. Münzen waren die Technologie, die die Römer dazu trieb, ein Imperium zu errichten: Sie verwendeten Edelmetallgeld, um ihre Legionen zu bezahlen, ihre Feinde zu bestechen und das Imperium zusammenzuhalten.

Aber die gleiche Technologie, die das Imperium geschaffen hatte, hat es auch zum Scheitern verurteilt. Als die kaiserlichen Minen keine Edelmetalle mehr hergaben, ging dem Imperium das Geld aus. Das erzeugte eine komplexe Kette von Ereignissen und die Agonie des Imperiums dauerte einige Jahrhunderte. Aber der Ursprung aller Probleme war einfach: Es war ein finanzielles Desaster. Kein Geld, keine Legionen. Keine Legionen, kein Imperium.

Dann kam das Mittelalter. Es war kein Zufall, dass in der Zeit der Edelmetallknappheit Legenden über Drachen auftauchten, die Gold in ihren Nestern horteten. Die Leute brauchten dringend irgendeine andere Art von Geld. Was aber verwenden, wenn Gold und Silber größtenteils verschwunden waren?

Die Römer der Kaiserzeit hatten es bereits mit virtueller Währung versucht – zum Beispiel ihre Soldaten mit Töpferwaren zu bezahlen. Schließlich wurde die letzte Generation römischer Truppen einfach mit Nahrung bezahlt. Doch diese Ideen haben nicht wirklich sehr gut funktioniert, wie man sich leicht vorstellen kann.

Das Verschwinden des Weströmischen Reiches hatte die Notwendigkeit einer Währung nicht beseitigt. Etwas, das die Rolle des Geldes spielen könnte wurde dringend benötigt und es wurde auch gefunden: Reliquien! Ja genau diese! Die Knochen von toten heiligen Männern (und Frauen) hatten alle Eigenschaften von Geld. Sie waren selten, schwer zu finden, nur in begrenzter Menge vorhanden, besaßen keinen eigenen Wert und konnten gehandelt, umgetauscht und gehortet werden. Sie sollten auch thaumaturgische Tugenden haben, doch in Wirklichkeit waren sie die wahre Währung des Mittelalters.

Wenn man anfängt, über Reliquien als Währung nachzudenken, dann passen in der Geschichte des Mittelalters viele Dinge zusammen. Zum Beispiel der Aufstieg der Macht der Päpste in Rom. Wie konnte es sein, dass die deutschen Kaiser ihre mächtigen Armeen nicht einsetzen konnten, um die Päpste zu besiegen, die wenig oder gar keine militärischen Ressourcen hatten? Das lag einfach daran, weil die katholische Kirche das auf Reliquien basierende Finanzsystem kontrollierte. Und es ist bekannt, dass Geld oft mächtiger ist als Armeen.

Die Kirche hatte die Macht zu bestimmen, ob ein Objekt, über das behauptet wurde ein heiliges Relikt zu sein tatsächlich echt war oder nicht und fungierte in gewisser Hinsicht als Bank. Es validierte Reliquien, obwohl es sie nicht erstellen konnte (zumindest nicht explizit). Doch das war genug, um im mittelalterlichen Finanzsystem eine zentrale Rolle zu spielen. Das Papsttum verlor nach und nach seine Macht in Europa, als neue Minen in Osteuropa genügend Edelmetalle für die Münzprägung zur Verfügung stellten und es Königen und den Reichen ermöglichten, mit neuen Armeen die Oberhand zu gewinnen.

Wenn Relikte als Währung galten, dann kann man auch die unglaubliche Begeisterung verstehen, die die Menschen im Mittelalter ergriffen hatte. Überall wurde nach heiligen Reliquien gegraben, eine Aktivität, die größtenteils virtuell ausfiel, da niemand nachweisen konnte, dass die gefundenen Knochen überhaupt irgendwie echt waren.

Manchmal war das Verlangen nach Knochen so groß, dass Menschen die einen Ruf als Heilige besaßen, unmittelbar nach ihrem Tod von einer Menschenmenge buchstäblich in Stücke gerissen wurden, da man nach ihren Knochen gierte. Eine solche Reputation zu haben konnte sogar gefährlich werden, denn das Leben eines Heiligen konnte plötzlich enden, wenn jemand aus seinen Knochen einen Gewinn erzielen wollte.

Relikte waren wie Bitcoin eine virtuelle Währung. Sie hatten nicht mehr Substanz als der Stoff aus dem Träume gemacht sind. Niemand konnte wirklich sagen, ob ein Fragment eines Knochens, über das behauptet wurde heilig zu sein, von einer Kuh oder einem heiligen Menschen stammte. Niemand konnte sagen, ob ein Holzsplitter wirklich ein Stück vom Kreuz Christi war. Natürlich könnte die Kirche die Echtheit eines bestimmten Relikts erklären (oder leugnen); doch es war immer vor allem eine Erklärung, die ganz auf dem Glauben beruhte. Es war alles virtuell: ein Spiel der Vorstellung, wie es heute für alle Arten von Geld, einschließlich Bitcoin, der Fall ist.

Doch wenn Geld ein Traum sein soll, darf man seine Macht trotzdem nicht unterschätzen. Träume (und Geld) halten die menschlichen Gesellschaften zusammen. Bitcoin – oder eine andere Form der Kryptowährung – könnte das neue Geld sein. Vielleicht wird es ein Albtraum, aber vielleicht hilft es uns auch unsere Träume am Leben zu erhalten.

(Eigene Übersetzung eines Blogbeitrages des italienischen Chemie-Professors Ugo Bardi)