John Maynard Keynes und die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder – Teil 1

Dieser Essay wurde erstmalig 1928 von J.M. Keynes als Rede vor einigen kleineren Gesellschaften, darunter die „Essay Society“ des Winchester College und der „Political Economy Club“ in Cambridge, gehalten. Im Juni 1930 erweiterte Keynes seine Notizen zu einer Vorlesung über „Ökonomische Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“, die er in Madrid hielt. Sie erschien in gedruckter Form in zwei Folgen der Zeitschrift „The Nation & The Athenaeum“ am 11. und 18. Oktober 1930, also inmitten der Wirtschaftskrise.

Keynes 1933
John Maynard Keynes 1933

I.

Wir leiden gerade unter einem schweren Anfall von wirtschaftlichem Pessimismus. Sehr häufig hört man Leute sagen, dass die Epoche des enormen wirtschaftlichen Fortschritts, die das neunzehnte Jahrhundert kennzeichnete, vorüber sei; dass die schnelle Verbesserung des Lebensstandards sich nun verlangsamen würde − wenigstens in Großbritannien; dass ein Rückgang des Wohlstands in dem vor uns liegenden Jahrzehnt wahrscheinlicher sei als eine Steigerung.

Ich glaube, dies ist eine weitverbreitete Fehlinterpretation dessen, was uns geschieht. Wir leiden nicht unter Altersrheumatismus, sondern unter den wachsenden Schmerzen überschneller Veränderungen, unter der Schmerzhaftigkeit von Korrekturen beim Übergang von einer Wirtschaftsperiode in eine andere. Der Anstieg der technischen Leistungsfähigkeit war schneller als unser Vermögen, Arbeit zu schaffen; die Verbesserung des Lebensstandards war ein wenig zu rasch; das Banken- und Geldsystem der Welt hat verhindert, dass die Zinsrate so schnell fiel, wie es das Gleichgewicht erfordert hätte.

Aber trotzdem machten die sich hieraus ergebende Verschwendung und Unordnung nicht mehr als 7½ Prozent des Volkseinkommens aus; wir vergeuden eineinhalb Schilling von einem Pfund Sterling (£) und haben nur 18 Schilling, 6 Pence, obwohl wir mit etwas mehr Verstand £1 haben könnten; trotzdem entsprechen die 18 Schilling, 6 Pence dem, was £1 vor fünf bis sechs Jahren wert war.

Wir vergessen, dass 1929 die Industrieproduktion Großbritanniens höher als je zuvor war, und dass der für Auslandsinvestitionen verfügbare Nettoüberschuss unserer Zahlungs-bilanz nach Bezahlung unserer gesamter Einfuhren im letzten Jahr größer war als der irgendeines anderen Landes, in der Tat sogar 50 Prozent höher als der entsprechende Überschuss der Vereinigten Staaten.

Oder nochmals − wenn schon verglichen werden soll −, angenommen, wir würden unsere Löhne um die Hälfte reduzieren, vier Fünftel unserer Staatsschulden nicht anerkennen und unseren überschüssigen Reichtum in Goldbarren horten statt ihn für 6 Prozent oder mehr auszuleihen, so würden wir dem jetzt viel beneideten Frankreich gleichen. Aber wäre das eine Verbesserung?

Die herrschende weltweite Depression, die ungeheure Anomalie von Arbeitslosigkeit in einer Welt voller Bedürfnisse, die verheerenden, von uns begangenen Fehler haben uns blind für das werden lassen, was unter der Oberfläche vor sich geht − was eine zutreffende Interpretation der Entwicklungstendenz wäre.

Denn ich sage voraus, dass die beiden entgegengesetzten Irrtümer des Pessimismus, die jetzt in der Welt so viel Lärm machen, sich noch in unserer eigenen Zeit als falsch herausstellen werden − der Pessimismus der Revolutionäre, die glauben, die Dinge seien so schlecht, dass nichts als ein gewaltsamer Umsturz uns retten kann, und der Pessimismus der Reaktionäre, die das Gleichgewicht unseres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens für so gefährdet halten, dass wir keine Experimente riskieren dürfen.

Meine Absicht in diesem Aufsatz ist es jedoch nicht, die Gegenwart oder die nahe Zukunft zu untersuchen, sondern mich von der kurzen Sicht freizumachen und mich auf Schwingen in die Zukunft zu bewegen. Welchen Stand des wirtschaftlichen Lebens können wir vernünftigerweise von jetzt an in hundert Jahren erwarten? Was sind die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder?

Von den frühesten Zeiten, über die wir Aufzeichnungen haben − also zurück, sagen wir, bis zweitausend Jahre vor Christus −, bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts gab es keine großen Veränderungen im Lebensstandard des durchschnittlichen, in der zivilisierten Welt lebenden Menschen.

Natürlich gab es ein Auf und Ab. Heimsuchungen durch Seuchen, Hungersnöte und Krieg. Goldene Zwischenzeiten. Aber keine fortschreitenden heftigen Veränderungen. Einige Zeiten waren vielleicht 50 Prozent − allerhöchstens 100 Prozent − besser als andere in den viertausend Jahren, die (sagen wir) um 1700 n.Chr. endeten.

Diese langsame Fortschrittsrate oder dieser Mangel an Fortschritt ist zwei Faktoren zuzuschreiben − dem bemerkenswerten Fehlen von bedeutenden technischen Verbesserungen und dem Versäumnis, Kapital zu akkumulieren.

Das Fehlen bedeutender technischer Erfindungen zwischen der vorgeschichtlichen und der vergleichsweise modernen Zeit ist tatsächlich bemerkenswert. Fast alles, worauf es wirklich ankommt und was die Welt zu Beginn der Neuzeit besaß, war dem Menschen schon seit dem Beginn der Geschichte bekannt.

Sprache, Feuer, die gleichen Haustiere, die wir heute haben, Weizen, Gerste, der Wein und die Olive, der Pflug, das Rad, das Ruder, das Segel, Leder, Leinen und Tuch, Ziegel und Töpfe, Gold und Silber, Kupfer, Zinn und Blei − und Eisen wurde dieser Liste früher als 1000 v.Chr. hinzugefügt −, Bankwesen, Staatskunst, Mathematik, Astronomie und Religion. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, wann wir diese Dinge zuerst besaßen.

Zu irgendeiner Zeit vor dem Beginn der Geschichte − vielleicht sogar in einer jener angenehmen Zwischenräume vor der letzten Eiszeit − muss es eine Zeit des Fortschritts und der Erfindung gegeben haben, die mit der, in der wir heute leben, vergleichbar ist. Aber während des größten Teils der aufgezeichneten Geschichte gab es nichts derartiges.

Die moderne Zeit begann, so denke ich, mit der Kapitalakkumulation im sechzehnten Jahrhundert. Ich glaube − aus Gründen mit denen ich die vorliegende Gedankenführung nicht belasten muss −, dies ist ursprünglich auf Preissteigerungen und daraus resultierenden Profiten zurückzuführen, die durch die Gold- und Silberschätze ermöglicht wurden, die Spanien aus der Neuen Welt in die Alte brachte.

Von dieser Zeit an bis heute wurde die Kraft der Akkumulation, die über viele Generationen hinweg geschlafen zu haben scheint, mittels Zinseszins wiedergeboren und in ihrer Stärke erneuert. Und die Macht des Zinseszins über zweihundert Jahre hinweg ist etwas, was die Vorstellungskraft ins Wanken bringt.

Lassen Sie mich ein Beispiel für die Summe geben, die ich ausgerechnet habe. Der Wert von Großbritanniens Auslandsinvestitionen wird heute auf etwa £4.000.000.000 geschätzt. Das bringt uns ein Einkommen in Höhe von etwa 6½ Prozent. Die Hälfte bringen wir nach Hause und genießen sie; die andere Hälfte, nämlich 3¼ Prozent, belassen wir im Ausland zur Akkumulation mittels Zinseszins. Irgend etwas dieser Art ist jetzt seit ungefähr 250 Jahren im Gange.

Denn ich führe die Anfänge britischer Auslandsinvestitionen auf den Schatz zurück, den Drake 1580 von Spanien stahl. In diesem Jahr kehrte er nach England zurück und brachte die gewaltige Beute auf der Golden Hind* mit.

Königin Elisabeth war ein beträchtlicher Anteilseigner des Konsortiums, das die Expedition finanziert hatte. Mit ihrem Anteil bezahlte sie die gesamte Auslandsschuld Englands, glich ihren Haushalt aus und behielt für sich ungefähr £40.000 übrig. Diese investierte sie in die Levante Gesellschaft − welche prosperierte. Mit den Gewinnen der Levante Gesellschaft wurde die Ost-Indische Gesellschaft gegründet; und die Gewinne dieses großen Unternehmens waren die Grundlage für Englands nachfolgende Auslandsinvestitionen.

Nun ist es so, dass £40.000, zu 3¼ Prozent Zins und Zinseszins angelegt, ungefähr dem tatsächlichen Umfang der britischen Auslandsinvestitionen zu verschiedenen Zeitpunkten entsprechen und sich heute tatsächlich zu den £4.000.000.000 summieren würden, die ich bereits als die Summe unserer heutigen Auslandsinvestitionen genannt habe. Somit sind aus jedem £, das Drake 1580 nach Hause brachte, £100.000 geworden. Das ist die Kraft des Zinseszins!

Vom sechzehnten Jahrhundert an, und besonders nach dem achtzehnten, begann das große Zeitalter wissenschaftlicher und technischer Erfindungen, das seit den Anfängen des neunzehnten Jahrhunderts in vollem Fluss ist − Kohle, Dampf, Elektrizität, Erdöl, Stahl, Gummi, Baumwolle, die chemischen Industrien, automatische Maschinerie und die Verfahren der Massenproduktion, Rundfunk, Buchdruck, Newton, Darwin und Einstein, und tausend andere Dinge und Menschen, die zu bekannt und vertraut sind, als dass sie alle aufgezählt werden müssten.

Was ist das Ergebnis? Trotz eines ungeheuren Wachstums der Weltbevölkerung, die notwendigerweise mit Häusern und Maschinen ausgerüstet werden musste, ist der durchschnittliche Lebensstandard in Europa und den Vereinigten Staaten, wie ich annehme, um etwa das Vierfache gestiegen. Das Kapital ist mit einer Geschwindigkeit gewachsen, die über dem Hundertfachen dessen liegt, was jedes frühere Zeitalter gekannt hat. Und von jetzt ab brauchen wir keinen so großen Bevölkerungszuwachs mehr zu erwarten.

Wenn das Kapital um, sagen wir, 2 Prozent pro Jahr wächst, wird sich die Kapital-ausstattung der Welt in 20 Jahren um die Hälfte vergrößert haben, und siebeneinhalbmal in 100 Jahren. Stellen Sie sich das einmal in Form stofflicher Dinge vor − Häuser, Transportmittel und ähnliches.

Gleichzeitig haben technische Verbesserungen in der Fertigung und im Transportwesen in den letzten zehn Jahren einen größeren Fortschritt gemacht als je zuvor in der Geschichte. In den Vereinigten Staaten war der industrielle Output pro Kopf 1925 um 40 Prozent höher als 1919. In Europa sind wir durch zeitweilige Hindernisse aufgehalten worden, aber trotzdem kann man mit Sicherheit sagen, dass sich die technische Effizienz alljährlich um ein Prozent vermehrt.

Es gibt Anzeichen dafür, dass der umwälzende technische Wandel, der bisher hauptsächlich das Gewerbe und die Industrie betroffen hat, sich bald auch über die Landwirtschaft hermachen wird. Wir stehen vielleicht am Vorabend von Verbesserungen in der Leistungsfähigkeit der Nahrungsmittelerzeugung, die so groß sein werden wie die, die bereits im Bergbau, im Produzierenden Gewerbe und im Transportwesen
stattgefunden haben.

In wenigen Jahren − damit meine ich, noch zu unseren Lebzeiten − werden wir in der Lage sein, alle Tätigkeiten in der Landwirtschaft, im Bergbau und im Produzierenden Gewerbe mit einem Viertel der menschlichen Anstrengungen durchzuführen, an die wir gewöhnt waren.

Im Augenblick schmerzt uns die hohe Geschwindigkeit dieser Veränderungen und bringt schwer zu lösende Probleme mit sich. Solche Länder leiden verhältnismäßig weniger, die nicht an der Spitze des Fortschritts marschieren. Wir sind von einer neuen Krankheit befallen, deren Namen einige Leser möglicherweise noch nicht gehört haben, von der sie aber in den nächsten Jahren noch viel hören werden − nämlich technologische Arbeitslosigkeit. Hiermit ist die Arbeitslosigkeit gemeint, die entsteht, weil unsere Entdeckung von Mitteln zur Einsparung von Arbeit schneller voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendungen für Arbeit zu finden.

Dies ist aber nur eine vorübergehende Phase einer mangelhaften Anpassung. Auf lange Sicht bedeutet all dieses, dass die Menschheit dabei ist, ihr wirtschaftliches Problem zu lösen. Ich möchte voraussagen, dass der Lebensstandard in den fortschrittlichen Ländern in hundert Jahren vier- bis achtmal so hoch sein wird wie heute. Selbst im Lichte unseres heutigen Wissens hätte dies nichts Überraschendes. Es wäre aber auch nicht unsinnig, mit der Möglichkeit eines noch viel rascheren Fortschritts zu rechnen.

Anmerkung:
* Die „Golden Hind“ (zunächst „Pelican“ getauft) war das Flaggschiff der fünf Schiffe, mit denen Francis Drake 1577 von England aus in Richtung Pazifischer Ozean in See stach.

Weiter demnächst mit Teil II