John Maynard Keynes und die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder – Teil 2

Weiter von Teil I:

John Maynard Keynes
John Maynard Keynes 1946

II.

Wir wollen einmal unterstellen, dass es uns allen von heute an in hundert Jahren in wirtschaftlicher Hinsicht im Durchschnitt achtmal besser geht als heute. Dies bräuchte uns ganz gewiss nicht zu überraschen.

Nun ist es wahr, dass die Bedürfnisse der Menschen unersättlich zu sein scheinen. Aber sie zerfallen in zwei Klassen − solche Bedürfnisse, die absolut in dem Sinne sind, dass wir sie fühlen, wie auch immer die Situation unserer Mitmenschen sein mag, und solche, die relativ in dem Sinne sind, dass wir sie nur fühlen, wenn ihre Befriedigung uns über unsere Mitmenschen erhebt, uns ein Gefühl der Überlegenheit gibt.

Bedürfnisse der zweiten Klasse, also solche, die das Verlangen nach Überlegenheit befriedigen, mögen in der Tat unersättlich sein; je höher das allgemeine Niveau, desto höher sind sie. Aber dies gilt nicht in gleicher Weise für die absoluten Bedürfnisse − es mag bald ein Punkt erreicht sein, vielleicht viel eher, als wir uns alle bewusst sind, an dem diese Bedürfnisse in dem Sinne befriedigt sind, dass wir es vorziehen, unsere weiteren Kräfte nicht-wirtschaftlichen Zwecken zu widmen.

Nun zu meinen Folgerungen, die Sie, wie ich glaube, immer verblüffender finden werden, je länger Sie darüber nachdenken. Unter der Annahme, dass keine bedeutenden Kriege und keine erhebliche Bevölkerungsvermehrung mehr stattfinden, komme ich zu dem Ergebnis, dass das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst sein dürfte, oder mindestens kurz vor der Lösung stehen wird. Dies bedeutet, dass das wirtschaftliche Problem − wenn wir in die Zukunft sehen − nicht das beständige Problem der Menschheit ist.

Warum, werden Sie fragen, ist das so verblüffend? Es ist verblüffend, weil − wenn wir statt in die Zukunft, in die Vergangenheit blicken − wir finden, dass das wirtschaftliche Problem, der Kampf ums Dasein, bisher immer die wichtigste, allerdringlichste Aufgabe der Menschheit war − nicht nur der Menschheit, sondern des gesamten biologischen Königreichs von den Anfängen des Lebens in seinen primitivsten Formen.

Folglich sind wir durch die Natur ausdrücklich zu dem Zweck entwickelt worden − mit all unserer Antriebskraft und unseren tiefsten Trieben −, das wirtschaftliche Problem zu lösen. Wenn das wirtschaftliche Problem gelöst ist, wird die Menschheit eines ihrer traditionellen Zwecke beraubt sein.

Wird dies eine Wohltat sein? Wenn man überhaupt an die wirklichen Werte des Lebens glaubt, so eröffnet sich zum mindesten die Aussicht auf die Möglichkeit einer Wohltat. Dennoch denke ich mit Schrecken an die Umstellung der Gewohnheiten und Triebe des durchschnittlichen Menschen, die ihm über ungezählte Generationen anerzogen wurden, und die er nun in wenigen Jahrzehnten aufgeben soll.

Um die heutige Sprache zu gebrauchen − müssen wir nicht mit einem allgemeinen „Nervenzusammenbruch“ rechnen? Wir haben schon einen kleinen Vorgeschmack von dem, was ich meine − einen Nervenzusammenbruch jener Art, der in England und den Vereinigten Staaten bereits unter den Ehefrauen der wohlhabenden Klassen bekannt
ist, unglückliche Frauen, die durch ihren Wohlstand ihrer traditionellen Aufgaben und Beschäftigungen beraubt wurden − die es nicht hinreichend unterhaltend finden können, ohne den Druck wirtschaftlicher Notwendigkeit zu kochen, sauberzumachen und zu flicken und derzeit noch nicht in der Lage sind, irgend etwas mehr Unterhaltendes zu finden.

Für diejenigen, die für ihr tägliches Brot schwitzen müssen, ist Freizeit eine langersehnte Süßigkeit − bis sie sie bekommen. Es gibt eine überlieferte Grabinschrift, die eine alte Putzfrau für sich selbst geschrieben hat: „Trauert nicht um mich, Freunde, und weint um mich nimmer, denn ich werde nun nichts mehr tun für immer und immer.“

Dies war ihr Himmel. Wie andere, die sich auf Freizeit und Muße freuen, stellte sie sich vor, wie schön es sein würde, ihre Zeit nur mit Radio hören zu verbringen − denn es gab noch ein anderes Reimpaar, das in ihrem Gedicht vorkam: „Mit Psalmen und süßer Musik werden die Himmel erklingen, doch ich werde nichts zu tun haben mit diesem Singen.“ Das Leben wird also nur für die erträglich sein, die mit dem Singen zu tun haben − aber wer von uns kann schon singen!

Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung wird der Mensch damit vor seine wirkliche, seine beständige Aufgabe gestellt sein − wie seine Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen zu verwenden, wie seine Freizeit auszufüllen ist, die Wissenschaft und Zinseszins für ihn gewonnen haben, damit er weise, angenehm und gut leben kann.

Die emsigen und zielbewussten Geschäftsmänner mögen uns alle mit sich in den Schoß des wirtschaftlichen Überflusses ziehen. Aber es werden nur solche Menschen sein, die am Leben bleiben können und eine höhere Perfektion der Lebenskunst kultivieren, sich nicht für die bloßen Mittel des Lebens verkaufen, die in der Lage sein werden, den Überfluss zu genießen, wenn er kommt.

Allerdings, so glaube ich, gibt es noch niemanden, der dem Zeitalter der Freizeit und der Fülle ohne Furcht entgegenblicken könnte. Denn wir sind zu lange trainiert worden, zu streben statt zu genießen. Für den durchschnittlichen Menschen ohne besondere Begabungen ist es eine beängstigende Aufgabe, sich selbst zu beschäftigen, besonders, wenn er nicht mehr mit der Heimat oder den Sitten und Gewohnheiten oder den geliebten Gepflogenheiten einer traditionellen Gesellschaft verwurzelt ist.

Nach dem Verhalten und den Tätigkeiten der heutigen wohlhabenden Klasse in irgendeinem Viertel der Welt geurteilt, sind die Aussichten sehr deprimierend! Denn diese stellen sozusagen unsere Vorhut dar − diejenigen, die das verheißene Land für uns übrige auskundschaften und dort ihr Lager aufschlagen. Die meisten von denen, die ein eigenständiges Einkommen haben, aber ohne Anhang oder Pflichten oder Bindungen sind, haben, so scheint es mir, bei der Lösung der ihnen gestellten Aufgaben katastrophal versagt.

Ich bin sicher, dass wir mit ein wenig mehr Erfahrung die neu gefundenen Gaben der Natur ganz anders nutzen werden als es die Reichen heute tun, und dass wir einen Lebensplan für uns entwerfen werden, der ganz anders als der ihre ist.

Für lange Zeiten wird der alte Adam in uns noch so mächtig sein, dass jedermann wünschen wird, irgendeine Arbeit zu tun, um zufrieden sein zu können. Wir werden mehr Dinge für uns selbst tun können, als es bei den Reichen heute üblich ist, und nur allzu froh sein, dass wir kleine Pflichten, Aufgaben und Routinesachen haben. Aber darüber hinaus sollten wir uns bemühen, die Butter auf dem Brot dünn zu streichen − um die Arbeit, die dort noch zu tun ist, soweit wie möglich zu teilen.

Mit Drei-Stunden-Schichten oder einer Fünfzehn-Stunden-Woche kann das Problem eine ganze Weile hinausgeschoben werden. Denn drei Stunden am Tag reichen völlig aus, um den alten Adam in den meisten von uns zu befriedigen!

Es gibt auch Veränderungen in anderen Bereichen, die wir erwarten müssen. Wenn die Akkumulation des Reichtums nicht mehr von hoher gesellschaftlicher Bedeutung ist, werden sich große Veränderungen in den Moralvorstellungen ergeben. Wir sollten imstande sein, uns von vielen der pseudomoralischen Grundsätze zu befreien, die uns seit zweihundert Jahren peinigen und durch die wir einige der unangenehmsten menschlichen Eigenschaften zu höchsten Tugenden gesteigert haben.

Wir sollten uns wagen, den Geldtrieb nach seinem wahren Wert einzuschätzen. Die Liebe zum Geld als ein Wert in sich − was zu unterscheiden ist von der Liebe zum Geld als einem Mittel für die Freuden und die wirklichen Dinge des Lebens − wird als das erkannt werden, was sie ist, ein ziemlich widerliches, krankhaftes Leiden, eine jener halb-kriminellen, halb-pathologischen Neigungen, die man mit Schaudern den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt.

Wir werden dann endlich die Freiheit haben, uns aller Arten von gesellschaftlichen Gewohnheiten und wirtschaftlichen Machenschaften zu entledigen, die die Verteilung des Reichtums und der wirtschaftlichen Belohnungen und Strafen betreffen, und die wir jetzt unter allen Umständen, so widerlich und ungerecht sie auch sein mögen, mit allen Mitteln aufrechterhalten, weil sie ungeheuer nützlich für die Förderung der Kapitalakkumulation sind.

Natürlich wird es immer noch viele Leute mit einer starken, unbefriedigten Zielstrebigkeit geben, die dem Reichtum blindlings nachjagen werden − bis sie einen annehmbaren Ersatz finden können. Aber wir übrigen werden nicht mehr verpflichtet sein, ihnen Beifall zu spenden und sie zu ermutigen. Denn wir werden wesentlich wissbegieriger, als es heute opportun ist, nach dem wahren Charakter dieser „Zielstrebigkeit“ fragen, mit der die Natur beinahe alle von uns in verschiedenen Abstufungen ausgestattet hat.

Denn Zielstrebigkeit sollte eigentlich heißen, dass wir uns mehr mit den Ergebnissen unseres Handelns in einer ferneren Zukunft als mit ihrer eigenen Qualität oder mit ihren kurzfristigen Auswirkungen auf unsere eigene Umgebung beschäftigen. Der „zielstrebige“ Mensch versucht immer, für seine Handlungen irgendeine nicht vorhandene Unvergänglichkeit vorzutäuschen, indem er ihre Bedeutung permanent in die Zukunft verschiebt.

Er liebt nicht seine Katze, sondern die Kätzchen seiner Katze; in Wirklichkeit auch nicht die Kätzchen, sondern die Kätzchen der Kätzchen, und immer so weiter bis zum Ende des Katzentums. Für ihn ist Marmelade nicht Marmelade, es sei denn, es handelte sich um Marmelade von morgen und niemals um Marmelade von heute. Indem er so seine Marmelade immer vorwärts in die Zukunft schiebt, versucht er, seinem Akt des Kochens Unvergänglichkeit zu verleihen.

Erlauben Sie mir, Sie an den Professor in „Sylvie & Bruno“* zu erinnern:

„Nur der Schneider, Herr Professor, mit einer kleinen Rechnung“, meldete eine sanfte Stimme vor der Tür. „Ah, gut, seine Sache kann ich schnell erledigen“, sagte der Professor zu den Kindern, „wartet nur eine Minute. Wie viel ist es dieses Jahr, mein Lieber?“ Während er sprach, war der Schneider eingetreten. „Wissen Sie, es hat sich im Laufe der Jahre verdoppelt“, entgegnete der Schneider etwas schroff, „und ich glaube, dass ich das Geld nun wirklich haben möchte. Es sind tatsächlich zweitausend Pfund!“

„Oh, das ist gar nichts!“, bemerkte der Professor unbekümmert und fühlte in seine Tasche, als ob er zumindest diesen Betrag immer bei sich hätte. „Aber wollen Sie nicht lieber ein weiteres Jahr warten und dann viertausend berechnen? Überlegen Sie einmal, wie reich Sie sein würden! Sie könnten ein König werden, wenn Sie nur wollten!“

„Ich weiß nicht, ob mir wirklich daran läge, ein König zu sein“, sagte der Mann nachdenklich. „Aber es klingt nach einer großen Menge Geld! Nun, ich denke, ich werde warten.“ „Natürlich werden Sie!“, sagte der Professor. „Ich sehe, Sie haben Verstand. Auf Wiedersehen, mein Guter!“

„Werden Sie ihm jemals diese viertausend Pfund bezahlen müssen?“ fragte Sylvie, nachdem sich die Tür hinter dem Gläubiger geschlossen hatte. „Niemals, mein Kind!“, antwortete der Professor nachdrücklich. „Er wird es immer wieder verdoppeln lassen, bis er stirbt. Du siehst, es lohnt sich immer, ein weiteres Jahr zu warten, um doppelt so viel Geld zu bekommen!“

Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Volk, das am meisten dazu beigetragen hat, das Versprechen der Unsterblichkeit in Herz und Wesen unserer Religionen zu pflanzen, auch am meisten für den Grundsatz des Zinseszins getan hat und diese zweckhafteste der menschlichen Institutionen besonders liebt.

Ich sehe deshalb für uns die Freiheit, zu einigen der sichersten und zuverlässigsten Grundsätze der Religion und der althergebrachten Werte zurückzukehren − dass Geiz ein Laster ist, das Eintreiben von Wucherzinsen ein Vergehen, die Liebe zum Geld abscheulich, und dass diejenigen am wahrhaftigsten den Pfad der Tugend und der maßvollen Weisheit beschreiten, die am wenigsten über das Morgen nachdenken.

Wir werden die Zwecke wieder höher werten als die Mittel und das Gute dem Nützlichen vorziehen. Wir werden diejenigen ehren, die uns lehren können, wie wir die Stunde und den Tag tugendhaft und gut vorbeiziehen lassen können, jene herrlichen Menschen, die fähig sind, sich unmittelbar an den Dingen zu erfreuen, die Lilien auf dem Feld, die sich nicht mühen und die nicht spinnen.

Aber Achtung! Die Zeit für all dies ist noch nicht gekommen. Für wenigstens noch einmal hundert Jahre müssen wir uns selbst und allen anderen vormachen, dass das Anständige widerlich und das Widerliche anständig ist; denn das Widerliche ist nützlich, das Anständige ist es nicht.

Geiz, Wucher und Vorsicht müssen für eine kleine Weile noch unsere Götter bleiben. Denn nur sie können uns aus dem Tunnel der wirtschaftlichen Notwendigkeit ans Tageslicht führen.

Ich freue mich also auf die nicht zu fernen Tage, auf den größten Wandel, welcher sich jemals in der physischen Lebensumwelt der Menschheit als Ganzer ereignet hat. Aber natürlich wird sich alles nach und nach ereignen, nicht als eine Katastrophe. Tatsächlich hat es schon begonnen. Der Gang der Dinge wird einfach der sein, dass es immer größere und größere Schichten und Gruppen von Menschen geben wird, für die sich Probleme wirtschaftlicher Notwendigkeit einfach nicht mehr stellen.

Der entscheidende Unterschied wird erreicht sein, wenn dieser Zustand so allgemein geworden ist, dass sich die Natur unserer Pflicht gegenüber unserem Nächsten verändert. Denn es wird vernünftig bleiben, wirtschaftlich zielgerichtet für andere zu handeln, nachdem es für einen selbst aufgehört hat, vernünftig zu sein.

Die Geschwindigkeit, mit der wir unserem Ziel der wirtschaftlichen Seligkeit näher-kommen, wird von vier Dingen bestimmt werden − unserer Macht, das Bevölkerungs-wachstum zu regulieren; unserer Entschlossenheit, Kriege und Auseinandersetzungen im Inneren zu vermeiden; unserer Bereitschaft, der Wissenschaft die Lenkung jener Dinge anzuvertrauen, die das eigentliche Gebiet der Wissenschaft sind; und der Akkumulations-rate, die sich aus der Spanne zwischen unserer Produktion und unserem Konsum ergibt; wobei sich dies letzte leicht von selbst regeln wird, wenn die drei ersten gegeben sind.

Unterdessen kann es nicht schaden, sachte Vorbereitungen für unsere Bestimmung zu treffen, indem sowohl die Lebenskunst als auch die zweckdienlichen Aktivitäten unterstützt und ausprobiert werden.

Vor allem aber lasst uns die Bedeutung der wirtschaftlichen Aufgabe nicht überbewerten oder ihren vermeintlichen Notwendigkeiten andere Dinge von größerer und beständigerer Bedeutung opfern. Sie sollte eine Sache für Spezialisten werden, wie Zahnheilkunde. Wenn Ökonomen es fertig bringen würden, dass man sie für bescheidene, sachkundige Leute, Zahnärzten vergleichbar, halten würde, das wäre großartig!

Anmerkung:
* Keynes bezieht sich auf den 1889 erschienenen Roman des englischen Mathematik-professors Charles Lutwidge Dodgson (1832-1898), der unter dem Pseudonym Lewis Carroll neben „Sylvie & Bruno. Die Geschichte einer Liebe“ mit „Alice im Wunderland“ eines der berühmtesten und bekanntesten Kinderbücher der Weltliteratur geschrieben hat.

Aus dem Englischen von Norbert Reuter