Wir alle wissen, was ein „Minsky-Moment“ ist. Oder sollten es nach der Katastrophe der Großen Rezession eigentlich wissen.
Der österreichische Historiker Walter Scheidel 2012
Zwar ist die Wirtschaftswissenschaft seit diesen dunklen Jahren vor etwas mehr als einem Jahrzehnt so gut wie unverändert geblieben, doch das Grollen an den Rändern dieser Disziplin wurde lauter und einige haben es sich daraufhin zur Aufgabe gemacht, die Fakten unideologisch zu betrachten.
Einer dieser Menschen ist Walter Scheidel, der uns einen dringend benötigten historischen Kontext für die Diskussion über Ungleichheit gegeben hat. Kurz gesagt, sein umfangreiches Studium der Geschichte der Ungleichheit legt nahe, dass es den Eliten immer und überall gelingen wird, die Gesellschaft zu ihrem eigenen Vorteil zu manipulieren.
Ob sie sich die Mühe machen ihre Bemühungen hinter sozial akzeptablen oder ideologisch logischen Vorhängen zu verstecken spielt dabei keine Rolle: Die Eliten werden einen Weg finden, sich auf Kosten aller anderen zu bereichern.
Die Kräfte, die den Eliten entgegenwirken, sind im Allgemeinen kein milder und gütiger demokratischer Druck. Es sind grundlegende Dinge wie Seuchen, Kriege und andere Verwüstungen, die die sorgfältig konstruierten „Normen“ auf den Kopf stellen, die die Grundlage für die Unterdrückung der Massen durch die Elite bilden.
Solche Ereignisse vertreiben die bestehende Elite und schaffen einen Raum für einen neuen Kampf um die Macht. Während dieses Kampfes existiert keine Elite, die neue extrem hohe Gewinne scheffelt oder die breitere Bevölkerung ausbeutet, daher kann es zu kurzen Ausbrüchen relativer Gleichberechtigung kommen.
Das vielleicht offensichtlichste Beispiel stellen die Veränderungen nach dem Schwarzen Tod in Europa im 14. Jahrhundert dar. Der Mangel an Erwerbstätigen, insbesondere an qualifizierten Arbeitskräften nach dem Ende der Pest führte zu einer bemerkenswerten Periode relativer Lohngleichheit in den Ländern die darunter litten.
Ein weiteres gutes Beispiel wäre die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der die Katastrophe der Weltkriege so viel Kapital zerstörte, dass die Eliten viel Zeit brauchten um ihren Einfluss auf die Gesellschaft wiederherzustellen und so zu ihren renditesuchenden Wegen zurückzukehren.
Erst mit dem neoliberalen Aufstieg nach der Einführung der antisozialen Politik durch Reagan/Thatcher konnten unsere heutigen Eliten die Gesellschaft auf die Art und Weise der alten Führungsschichten ausbeuten.
Das bringt uns somit zu unserem Scheidel-Moment: Stellt die derzeitige globale Krise, die durch die rasche Ausbreitung des neuartigen Virus unter uns verursacht wird eine ausreichend große Herausforderung für die Macht der Eliten und die fest verwurzelte Ideologie dar, die einen Raum für ein Gleichgewicht zwischen den Gesellschaften und der ungeheuren Ungleichheit des Neoliberalismus eröffnet?
Es ist eindeutig noch zu früh, um dazu eine sichere Aussage treffen zu können.
Doch es gibt genug Grollen und Donnern am Horizont, die darauf hindeuten, dass zumindest eine Diskussion darüber beginnen könnte. Hier ist beispielsweise ein solches Zitat aus der New York Times. Die Autorin ist Michelle Goldberg[1], eine verlässlich sozial eingestellte Denkerin…
Seit der Wahl von Ronald Reagan hat Amerika tendenziell die individuelle Marktentscheidung über die kollektive Wohlfahrt gestellt. Sogar demokratisch gewählte Institutionen mussten innerhalb des oft als neoliberal bezeichneten Konsenses operieren.
Dieser Konsens brach bereits vor dem Coronavirus zusammen, doch die Pandemie sollte ihn endgültig vernichten. Dieses Unglück hat gezeigt, dass die grundlegende Unsicherheit des amerikanischen Lebens eine Bedrohung für uns alle darstellt.
„So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht“, sagte Margaret Thatcher. „Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und es gibt Familien.“ Sagen Sie das den Familien, die effektiv so lange unter Hausarrest stehen, bis die Gesellschaft diese Sache regelt.
Natürlich ist Amerika voll mit vielen passenden rechten Kontrapunkten. Es gibt Bundesstaaten, deren Gouverneure es immer noch nicht für angebracht gehalten haben, entschieden auf die Ausbreitung des Virus zu reagieren.
Die Debatte darüber, wie ein wirtschaftlicher Unterstützungsplan aussehen sollte, und die deutlichen Unterschiede in den Auswirkungen der Krise auf verschiedene Einkommensniveaus im ganzen Land lassen jedoch darauf schließen, dass sich erhebliche Unruhen aufbauen.
Und vielleicht noch wichtiger als das Ergreifen von Maßnahmen reift die Erkenntnis sogar bei den Eliten, dass ihr berauschender Reichtum und ihr Einkommen nicht ausreichen, um sie von der Schlamperei des Gesundheitssystems zu isolieren, in welches sie sich weigern innovativ zu investieren.
Und schließlich, wenn sich selbst ein Plutokrat nicht einfach ein eigenes Beatmungsgerät kaufen kann, weil es einfach keine solche Ausrüstung mehr gibt, und wenn sie plötzlich wie der Rest von uns auskommen müssen, was ist es dann wert ein Plutokrat zu sein?
Also, ist das ein Scheidel-Moment?
Wer weiß. Aber es könnte einer werden, wenn wir nur laut genug sind.
- [1]Vgl. https://www.nytimes.com/2020/03/23/opinion/coronavirus-hospital-shortage.html (Zugriff 22.04.2022)
(Eigene Übersetzung eines Blogbeitrages des amerikanischen Ökonomen Peter Radford)