Nachdem ich in Teil 5 dieser Serie die Auswirkungen von Zinsveränderungen auf den Umfang und die Art der Investitionen erläutert habe, geht es nun weiter mit dem Versuch der Feststellung, welcher Zins als „richtig“ oder „normal“ angesehen werden kann.
Unbestritten ist wohl die Ansicht, dass dies der Zins sein sollte, der die Investitionen auf das als richtig angesehene Ausmaß mehr oder weniger automatisch „steuert“.
Da stellt sich nun natürlich als erstes die Frage: Was aber ist vor allem im Hinblick auf das Beschäftigungsvolumen das richtige Maß an Investitionen?
In der klassischen Theorie gab es früher dafür eine plausibel klingende Erklärung:
Der sogenannte natürliche Zins schränkt als Preis für die Kapitalnutzung die Investition auf den Gesamtbetrag des verfügbaren Kapitals ein, er stellt sozusagen die Grenzproduktivität des eingesetzten Kapitals dar. Damit soll er gleichzeitig auch die rationelle Verwendung der Investition sicherstellen.
Doch bereits Wilhelm Lautenbach wies nach, dass diese Formel „nur eine Fiktion“ sei:
Das «verfügbare Kapital», mit dem sie operiert, ist keine reelle, sondern nur eine virtuelle, fiktive Größe. Es ist nämlich keineswegs vor und vor allem nicht unabhängig von der Investition gegeben oder auch nur bestimmbar.
Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 39
Die Definition des notwendigen Kapitals als „die von der Volkswirtschaft gemachten Ersparnisse“ suggeriere den Eindruck, es handele sich dabei um einen bereit stehenden Sparfonds, aus dem man die für die Investition benötigten Mittel einfach so „schöpfen“ kann.
Tatsächlich aber sei es gerade so, dass durch die Investitionen an der Versorgung für die Zukunft gearbeitet, also erst dadurch eine tatsächlich reale Kapitalbildung geschaffen werde.
Auf diesen Zusammenhang zwischen Investieren und Sparen hatte ich auch hier im Blog bereits mehrfach hingewiesen (siehe die vorherigen Beiträge dieser Reihe oder auch Sparen und Investieren – Versuch einer Richtigstellung).
Lautenbach fasste diese Ansicht treffend so zusammen:
Das Realkapital ist der Produktionsbegriff, das Sparkapital der Verteilungsbegriff; es sind zwei Aspekte ein und desselben Phänomens. Niemals kann mehr oder weniger investiert werden als gespart wird, es wird immer so viel gespart wie investiert wird.
Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 39
Durch die Investitionen werde Sachkapital geschaffen, von Lautenbach als „Sozialvermögen“ bezeichnet. Der Zuwachs dieses Sozialvermögens gleiche dem nicht verbrauchten Anteil des Bruttosozialproduktes, die Ersparnis als nicht verbrauchter Teil des Gesamteinkommens entspreche genau diesem Sachkapitalzuwachs.
Dies entspreche dann folgendem Gleichungspaar:
Bruttosozialprodukt = Neuinvestition + verbrauchte Güter
Gesamteinkommen = Ersparnis + Verbrauchsausgaben
Da die neuen Investitionen zusammen mit der Verbrauchsgüterproduktion Einkommen schaffen, stellen sie gleichzeitig auch den Ursprung der Ersparnisbildung dar.
Der Mechanismus der Preis- und Einkommensbildung sorgt dabei ständig dafür, dass Investition und Ersparnis genau gleich sind, der Zins als Mittel zum Ausgleich wird hierfür gar nicht benötigt.
Aus den bisherigen Beiträgen kann man dann auch die wichtigste Funktion des Zinses ableiten:
Der Zins hat die Aufgabe, die Investition rationell zu steuern, nämlich so, daß die Wirtschaft bei normalen Arbeitsbedingungen voll beschäftigt ist und alle Produktivkräfte bestens ausgenutzt werden.
Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 40
Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Investitionen auf einer gewissen Höhe gehalten werden müssen, damit die Wirtschaft normal, d. h. mit Vollbeschäftigung ohne Überschichten und Kurzarbeit verlaufen kann. Wird zuviel investiert, droht Inflation, wird zuwenig investiert, Deflation.
Wenn Produktivkräfte brachliegen (z. B. bei Massenarbeitslosigkeit) und daher die Verbrauchsgüterproduktion eingeschränkt werden muss, weil die Lager förmlich „überquellen“, wird zuwenig investiert.
Reicht die Produktion nicht mehr aus, um die steigende Nachfrage zu befriedigen und zwingen stark ansteigende Preise die Konsumenten dazu, ihren Verbrauch einzuschränken, so ist die Investition insgesamt zu hoch.
Deflation und Inflation sind die eindeutigen negativen Kriterien dafür, dass die Investition insgesamt nicht richtig bemessen ist.
Dem gegenüber gelten ein möglichst hoher Beschäftigungsgrad und eine hohe Kapazitätsauslastung der Verbrauchsgüterproduktion als Indikatoren für die optimale Investitionssteuerung.
Das bedeutet also, dass die Investition dann richtig bemessen ist, wenn bei voller Beschäftigung die Verbrauchsgüterproduktion und die Investition bestens aufeinander abgestimmt sind.
Nach der von uns entwickelten Theorie heißt das, dieser Zustand ist hergestellt, wenn die Preise bei nicht zu stark steigender Kostenkurve den Grenzkosten der Produktion entsprechen.
Der normale Zins maximiert also den Verbrauch entsprechend der gegebenen Bedingungen.
Darunter versteht man die Verbrauchsdispositionen der Einkommensbezieher, die sich in der Verbrauchsquote und ihrem Gegenstück, der Sparquote, ausdrücken.
Und dies bringt uns nun zur zentralen Feststellung aller bisherigen Beiträge dieser Serie, nämlich der tatsächlichen Verkopplung von Investition und Ersparnis:
Je höher die Verbrauchsquote ist, d. h. je mehr im Verhältnis zum Einkommen verbraucht oder je weniger gespart wird, um so geringer ist jene [Sollgröße der] Investition, bei der die Vollbeschäftigung erreicht wird. Je geringer aber die Verbrauchsquote ist oder je mehr gespart wird, um so mehr muß investiert werden, damit Vollbeschäftigung erreicht wird.
Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 41
Um dabei dann die Auswirkungen der Zinsentwicklung weiter zu analysieren, muss festgestellt werden, wie nun der Zins auf die Dispositionsentscheidungen der Einkommensbezieher einwirkt.
Entgegen der damals weithin angenommenen Meinung, die Zinshöhe sei allein entscheidend für den Sparwillen der Verbraucher, vor allem wenn es um die Alterssicherung geht, war Lautenbach da anderer Ansicht.
Für ihn war klar, dass selbst sehr hohe Zinssätze unter ansonsten normalen Verhältnissen die Menschen nicht dazu bringen würden, freiwillig auf etwas zu verzichten, was sich sich ansonsten leisten könnten.
So war er der Ansicht, dass dieser subjektive Faktor des Verbrauchs- oder Sparwillens nur einen geringen Einfluss auf die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Verbrauchs- und Sparquote hat.
Vielmehr sei die Einkommensverteilung an sich der entscheidende Faktor, vor allem in der unterschiedlichen Entwicklung von Unternehmer- und Nichtunternehmereinkommen.
Diese Verteilung wird durch das relative Verhältnis von Produktion und Kosten, also der sogenannten Elastizität der Produktion ganz entscheidend bestimmt.
Sinken die Grenzkosten der Produktion bei steigender Produktion aufgrund besserer Auslastung der Anlagen, so hat die Produktion die größte Elastizität.
Ebenso ist sie noch sehr elastisch, wenn die Grenzkosten bei weiter steigender Produktion nur wenig steigen.
Innerhalb dieses Bereichs sinkender oder nur schwach steigender Kosten ist die Produktion noch in der Lage, auf Nachfragesteigerungen umgehend zu reagieren, ohne dass dabei die Preise übermäßig steigen.
In diesen Fällen wachsen zwar die Unternehmensgewinne leicht, entscheidender ist aber die Tatsache, dass der Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen dann verhältnismäßig hoch ausfällt und damit dann auch die Verbrauchsquote hoch und die Sparquote entsprechend niedrig ist.
Wenn allerdings die Grenzkosten bei zunehmender Produktion stärker steigen, reagiert die Produktion auf steigende Nachfrage insgesamt wesentlich verhaltener, die Preise steigen und passen sich damit den höheren Grenzkosten an.
Dabei erzielen die Unternehmer dann hohe Gewinne aufgrund der niedrigeren Stückkosten (Differentialgewinne) und erhöhen dabei zwar etwas ihren Verbrauch, doch der größte Teil der dabei erreichten Gewinne wird gespart, während der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen und damit die Verbrauchsquote sinken.
Im weitesten Sinne ist es also die Entwicklung der Produktivität im Verhältnis zu den Kosten der Güterproduktion, die entscheidend ist für die Verteilung der Einkommen auf Unternehmer und Nichtunternehmer.
Steigen die Grenzkosten der Produktion und damit auch die Preise aufgrund einer verhaltenen Produktitivitätsentwicklung oder einer geringen Elastizität der Produktion, so wird daurch die Verbrauchsquote gedrückt und die Sparquote erhöht.
In diesem Fall aber, so haben wir es ja weiter oben festgestellt, steigt mit der sinkenden Verbrauchsquote automatisch der Investitionsbedarf.
Diese Abhängigkeit der Produktion von der Höhe der Investitionen (in einer geschlossenen Wirtschaft) machte schon John Maynard Keynes durch die Entwicklung der sogenannten Multiplikator-Formel nach Keynes-Kahn deutlich.
Für Lautenbach aber hatte diese Formel nur theoretische Bedeutung, da sie trotz der genauen Darstellung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Faktoren immer nur eine nachträgliche Sicht auf eine bereits erfolgte Entwicklung ermöglichte.
Dies liegt vor allem an der Unmöglichkeit der Vorausberechenbarkeit der Verbrauchsquote, die auch mittels empirischer Untersuchungen grundsätzlich nur im Nachhinein feststellbar ist.
Deshalb kann diese Formel auch keine Basis für eine praktische Wirtschaftspolitik, insbesondere für die Zinspolitik der Notenbanken, darstellen, da sie keine sicheren Schlüsse für zukünftige Entwicklungen oder die Verhältnisse in anderen Volkswirtschaften anbietet.
Für die Arbeit der Notenbanker bei der Festlegung des optimalen Zinses gilt daher folgendes Fazit:
In praxi ist das Maß, in dem investiert werden darf und investiert werden muß, damit die Produktionskräfte optimal ausgenutzt werden, jeweils abzutasten.
Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 42
Mit dieser Feststellung endet hier vorläufig unser kleiner Exkurs zur alternativen Wirtschaftstheorie des Wilhelm Lautenbach.
Zu gegebener Zeit plane ich eine Fortsetzung über die Elemente der von ihm entwickelten Kreditmechanik, die Wolfgang Stützel als Grundlage für die Ausarbeitung der volkswirtschaftlichen Saldenmechanik diente.