Rogoffs Schuldenregel: Nicht der Rechenfehler sondern die falsche These ist das Problem

Ganz schön dreist: 90-Prozent-Regel: Harvard-Ökonom Rogoff wirft Kritikern Hexenjagd vor | ZEIT ONLINE

Kenneth Rogoff, 2002 als Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF)
Rogoff 2002 als Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF)

Worum geht’s da aber eigentlich?

Kenneth Rogoff, amerikanischer Ökonom an der Harvard Universität, entwickelte 2010 zusammen mit Carmen Reinhart in einem Essay die These, dass das Wirtschaftswachstum einer Volkswirtschaft sich dann stark verringere, wenn die Staatsverschuldung auf mehr als 90 Prozent des Bruttoinlandsproduktes steige.

Diese sogenannte 90-Prozent-Regel prägte entscheidend die Austeritätspolitik der Europäischen Union gegenüber den „Schulden-Sündern“ Griechenland, Irland, Portugal und Spanien. Doch seitdem ein Student einen Rechenfehler in Rogoffs Arbeiten gefunden hatte, durch den die Ergebnisse der Studie stark in Zweifel gezogen wurden, hagelte es massive Kritik.

Nun hat sich der Ökonom offenbar erstmals öffentlich zur Wehr gesetzt (siehe obigen Link zum ZEIT-Artikel). Wichtig dabei ist, dass Rogoff die Grundaussage seiner Studie, sehr hohe Staatsschulden seien verbunden mit niedrigerem Wachstum, weiterhin als richtig herausstellt:

Rogoff räumte in dem Interview den Rechenfehler zwar ein, verteidigt aber das Ergebnis seiner Arbeit. Der Fehler „war peinlich“, sagte der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, „aber er hatte keine große quantitative Bedeutung“.

Das aber ist die eigentliche Crux an der ganzen Geschichte: Ab welchem Prozentwert denn nun tatsächlich das Wirtschaftswachstum abnehme, ist völlig irrelevant.
Denn schon die Annahme, dass allein die Höhe der Staatsverschuldung einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Wirtschaft hat, ist in dieser einfachen Konstellation schlichtweg falsch.

Warum?

Nun, alle gängigen Theorien, die das Wirtschaftswachstum in einer Volkswirtschaft erklären wollen, stellen es als einen weit komplexeren Zusammenhang einiger verschiedener Komponenten dar: Es geht da vor allem um das Zusammenwirken der Faktoren Arbeit, Kapital und Technologie.

Dabei sind nach allgemein anerkannter Lesart vor allem die Investitionen entscheidend.
Der Zusammenhang zwischen Investition, Wachstum und Konjunktur besteht generell in der Höhe der Investitionstätigkeit, denn:

Investitionen führen zu einer Belebung der Konjunktur und sind Voraussetzung für ein gleichmäßiges Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen.

Pollert/Kirchner/Polzin (2004), Das Lexikon der Wirtschaft – Grundlegendes Wissen von A–Z, 2. Auflage, Bonn: bpb, Stichwort: Investition.

Wovon aber ist die Höhe der Investitionen abhängig?

In meinen Beiträgen Sparen und Investieren – Versuch einer Richtigstellung und Wilhelm Lautenbach – der “deutsche Keynes” habe ich mich bereits damit auseinandergesetzt:

Den entscheidenden Faktor für die Höhe der Investitionen bildet die Konsumnachfrage. Diese gliedert sich in die Konsumausgaben der Privathaushalte, der Unternehmer, des Auslandes und des Staates. Über die Höhe dieser Konsumausgaben entscheidet vereinfacht gesagt das Verhältnis von Einnahmen (Vermögen) und Ausgaben (Schulden) dieser vier Sektoren der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR).

Und erst hier kommen dann die Schulden des Staates ins Spiel, die man aber immer zusammen mit den Vermögensverhältnissen der anderen Sektoren betrachten muss, da ja bekanntlich nach der Saldenmechanik Geldschulden und Geldvermögen immer exakt gleich sind, weil die Ersparnisse des einen die Schulden des anderen sind.

Da aber die Verteilung der Einnahmen und Ausgaben zwischen den einzelnen Sektoren nichts über die reine Höhe der Konsumnachfrage dieser Sektoren aussagt, ist es daher auch völlig logisch, dass die Verschuldung des Staates als Einzelaggregat der VGR dazu in keiner unmittelbaren Beziehung stehen kann.

Damit ist dann aber auch jeglicher direkte Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung und Investitionen, und somit ebenso zum Wirtschaftswachstum nicht gegeben. Die These von Rogoff und Reinhart ist daher schlichtweg falsch, da sie eine Beziehung herstellt, die so gar nicht existiert.

Alle Schlüsse, die man aufgrund der untersuchten Zahlen über Staatsschuldenstände ziehen möchte, beruhen damit nur auf statistischen Zufallsergebnissen, die keinerlei allgemeingültige Aussagekraft besitzen.

Daher kann auch die Behauptung einiger Medien, trotz dieser Erkenntnisse könne das Fazit aus Rogoffs Arbeit „Hohe Staatsschulden sind schlecht für die Wirtschaft“ in irgendeiner Form als politische Begründung für die generelle Notwendigkeit einer Austeritätspolitik bei hoher Staatsverschuldung weiterhin herangezogen werden, als nicht akzeptabel abgelehnt werden.

Und natürlich ist es ganz schön dreist, wenn jemand, der eine solche unwissenschaftliche und in wichtigen Teilen schlicht unzutreffende Studie abgeliefert hat, die berechtigte Kritik daran als „Hexenjagd“ und „politische Kampagne“ bezeichnet.

Weitere Infos zu diesem Thema bieten auch die NachDenkSeiten unter Hinweise des Tages: 5. Rogoffs Rechenfehler: Star-Ökonom beklagt Hexenjagd nach Excel-Panne.