Wie in einem entfernten Spiegel: Zwei Jahrtausende nach den Germanicus-Feldzügen

Der Erfolg zeigt einem manchmal seine Grenzen eher auf als die Niederlage. Das ist eine Lektion, die die Römer auf die harte Tour lernen mussten, als sie versuchten die ger-manischen Stämme östlich des Rheins zwischen dem ersten Jahrhundert v. Chr. und dem ersten Jahrhundert n. Chr. zu unterwerfen.

MSR - Germanicus Inv. 30010
Marmorbüste des Germanicus

Der Versuch umfasste eine lange Reihe von Feldzügen und vielleicht kam der Höhepunkt vor fast genau zweitausend Jahren, von 14 bis 16 n. Chr., als die Römer mit nicht weniger als acht Legionen gegen die Germanen anrückten unter dem Kommando von Tiberius Claudius Nero, bekannt als Germanicus, Enkel des Augustus und Adoptivsohn des Kaisers Tiberius.

Die Gesamtzahl der eingesetzten Truppen wurde mit mindestens 80.000 Mann angegeben, vielleicht fast 100.000; damals etwa ein Drittel der gesamten römischen Armee. Mit einem modernen Begriff könnten wir sagen, dass die Römer versuchten ihre Feinde einfach zu überrollen.

In diesem Fall kann das Konzept der „Dampfwalze“ vielleicht fast wörtlich gemeint sein. Tacitus macht uns in seinen „Annalen“ klar, dass die Römer mit einem anderen Gedanken nach Germanien gingen, als den primitiven Völkern „die Zivilisation zu bringen“. Nein, keine so dumme Idee; Die Römer waren da, um diesen Barbaren eine Lektion zu erteilen.

Dafür brannten sie Dörfer nieder, schlachteten alle Bewohner ab oder nahmen sie als Sklaven, wie Tacitus es ausdrückte, sogar „die Hilflosen von Alter oder Geschlecht“. Der Name von Germanicus bedeutete offensichtlich nicht, dass er Sympathie für das germanische Volk hatte. Wiederum könnte man mit einem modernen Begriff sagen, dass die Römer eine Kampagne der verbrannten Erde betrieben, wenn nicht sogar einen völligen Vernichtungskrieg.

Und doch haben all diese Bemühungen wenig gebracht. In drei Jahren Kampagnen gewannen die Germanicus-Truppen alle Schlachten, die sie führten. Jedoch konnten sie die germanischen Stämme nicht brechen. Und die Kosten, so viele Männer im Feld zu halten wurden selbst für das mächtige Römische Reich unerträglich. Im Jahr 16 n. Chr. rief Kaiser Tiberius Germanicus schließlich nach Rom zurück.

Er befahl den Legionen auch, die eroberten Gebiete aufzugeben und sich hinter die Befestigungen am Rhein zurückzuziehen von wo aus sie ihre Feldzüge begonnen hatten. Germanicus wurde ein großer Triumphzug in Rom gewährt, doch ein paar Jahre später, im Jahr 19 n. Chr. starb er, möglicherweise vergiftet von Tiberius selbst, der die Konkurrenz eines populären Generals fürchtete.

Seine Feldzüge hatten also einerseits die Macht des Imperiums gezeigt und andererseits aber auch seine Grenzen überschritten: Es gab einige Dinge, die die Legionen einfach nicht konnten. Das war eine Lehre, die die Kaiser gut verstanden, und die Römer haben nie wieder versucht das germanische Territorium anzugreifen.

Zweitausend Jahre später sehen wir in diesen fernen Ereignissen einen fernen Spiegel unserer Zeit. Es gibt viele Parallelen zu unserer gegenwärtigen Situation, und ich bin sicher, dass Ihnen das Wort „Irak“ dazu bereits in den Sinn kommt.

Ja, die Irak-Kampagne war eine Reihe von Siegen, genau wie die Kampagnen von Germanicus. Aus strategischer Sicht erwies sich der moderne Irak jedoch genau wie Germanien vor zweitausend Jahren als eine Eroberung, deren Aufrechterhaltung schlicht zu teuer war.

Doch in diesem fernen Spiegel gibt es noch mehr zu sehen und deshalb gehen wir etwas tiefer in die Geschichte ein. Erstens waren die Feldzüge des Germanicus die Folge eines früheren gescheiterten Kriegszuges: der Niederlage von Teutoburg im Jahr 9 n. Chr., als drei römische Legionen von einer Koalition germanischer Stämme vernichtet wurden.

Nicht einmal ihr Kommandeur, der Konsul Publius Quinctilius Varus konnte dabei am Leben bleiben. Die sogenannte Varusschlacht war nicht nur eine Katastrophe, sondern auch ein Rätsel. Wie konnte es sein, dass die römischen Legionen, nicht gerade Amateure der Kriegskunst munter in einen dichten Wald marschierten, in dem eine große Anzahl germanischer Krieger darauf wartete sie in Stücke zu hacken?

Warum genau wurde Varus als Gouverneur einer Provinz nach Germanien geschickt, die nur auf dem Papier existierte und die nicht über genügend Truppen verfügte, um eine Region zu kontrollieren, die noch nie wirklich befriedet worden war.

Ohne diese Erklärung können wir nur über diese Geschichte spekulieren, doch es braucht wenig Vorstellungskraft um zu dem Schluss zu kommen, dass jemand wahrscheinlich in Rom wollte, dass Varus‘ Kopf rollte. Wer auch immer das war konnte sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass so viele weitere römische Köpfe mit Varus zusammen rollen würden. Wir werden es nie genau erfahren, aber wir wissen zumindest, dass der Mann, der Varus in die Falle im Wald geführt hat ein römischer Staatsbürger war obwohl er in Germanien geboren wurde. Varus wurde betrogen.

Und ja, wir können eine Art Parallele zur modernen Geschichte im Angriff vom 11. September auf die Zwillingstürme in New York finden. Lassen Sie mich feststellen, dass ich hier nicht über Verschwörungstheorien spreche; was ich hervorheben möchte, ist die Ähnlichkeit der Reaktion des alten und des modernen Reiches auf Ereignisse, die beide als existenzielle Bedrohung wahrgenommen haben.

So wie die US-Bürger nach den Anschlägen vom 11. September große Angst hatten, hatten die Römer nach der Katastrophe von Teutoburg große Angst, und das hatte politische Konsequenzen.

Die Hauptfolge der Niederlage von Teutoburg war, dass sie die Position des Kaisers als militärischer Führer des gesamten Reiches stark festigte. Vergessen Sie nicht, dass die Idee, dass es an der Spitze des Imperiums einen Kaiser geben sollte, zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. noch etwas Neues war und viele Menschen sich wahrscheinlich eine Wiedererrichtung der Republik gewünscht hätten.

Das hatten Brutus und Cassius versucht indem sie Julius Cäsar getötet hatten. Doch nach Teutoburg kam die Wiedereinsetzung der Republik überhaupt nicht mehr in Frage. Sie haben wahrscheinlich von Sueton gehört, der berichtete, dass Kaiser Augustus, als er von Varus‘ Niederlage hörte nachts ziellos in seinem Palast umherging und murmelte: „Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!“

Das war ein Meister-Propaganda-Coup von Augustus, einem vollendeten Politiker. Augustus zeigte sich so besorgt, dass er sich als Verteidiger des Imperiums gegen die barbarische Bedrohung positionierte.

Nicht nur Teutoburg stärkte die Rolle der Kaiser; die Kampagnen von Germanicus verstärkten die Wirkung noch mehr. Wenn Teutoburg gezeigt hatte, dass die germanischen Stämme eine existenzielle Bedrohung für das Imperium darstellten, dann zeigte das Scheitern von Germanicus, dass sie nicht zerstört werden konnten.

Das Ergebnis war, dass sich das Imperium für einen langfristigen Krieg positionierte. Das erzeugte das Äquivalent unseres gegenwärtigen militärisch-industriellen Komplexes: eine stehende Armee und eine Reihe von Befestigungen entlang der kaiserlichen Grenzen. Das war ein gutes Geschäft für die Militärunternehmer der Römerzeit, doch die langfristige Folge war gleichzeitig, dass das Imperium sich selbst verblutete, um die von ihm errichteten kolossalen Verteidigungsanlagen zu erhalten.

Vor Teutoburg hatte die römische Armee infolge der Eroberung fremder Länder Wohlstand geschaffen. Nach Teutoburg wurde die Armee ein Zerstörer des Reichtums, der viel mehr kostete als er hervorbrachte. Wie es eben die Kampagnen von Germanicus deutlich zeigten. Mit der Zeit wurde das Römische Reich immer schwächer, aber es weigerte sich hartnäckig dies zuzugeben und die Barbaren in Rollen zu akzeptieren, die nicht die von Söldnern oder Sklaven waren.

Vier Jahrhunderte nach der Schlacht von Teutoburg und Germanicus Feldzügen brach eine aufgeklärte Kaiserin, Galla Placidia die Regeln um ein sterbendes Reich wiederzubeleben. Sie heiratete einen barbarischen König und versuchte, eine neue Dynastie zu gründen, die die germanischen und lateinischen Elemente des Reiches zusammenbringen würde.

Sie hatte keinen Erfolg; es war zu spät; es war zu viel für eine einzelne Person. Das Römische Reich musste seinen Zyklus durchlaufen, und das Ende des Zyklus war sein Verschwinden; ein Relikt der Geschichte, das keinen Grund mehr hatte zu existieren.

Dies ist das Schicksal von Imperien und Zivilisationen, die, wie Toynbee schrieb am häufigsten sterben weil sie sich selbst töten. So war es für die Römer, unseren fernen Spiegel. Ein dunkler Spiegel, aber höchstwahrscheinlich wird unser Schicksal nicht viel anders sein.

(Eigene Übersetzung eines Blogbeitrages des italienischen Chemie-Professors Ugo Bardi)