In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung kritisiert der Ökonom Hans-Werner Sinn Anfang dieser Woche das neue Buch von Thomas Piketty: Capital in the Twenty-First Century.
Dabei geht es ihm vor allem um eine neue „Weltformel“, mit der Piketty die wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit in den westlichen Staaten, insbesondere aber in den USA, darstellt.
Sinn schreibt zu dieser Formel in der FAZ, sie besage, dass der Zins als durchschnittliche Kapitalrendite r auf Dauer größer sei als die Wachstumsrate g einer Volkswirtschaft. Nach Piketty sei dann die Folge, dass das Vermögen fortlaufend schneller wachse als die Wirtschaftsleistung.
Sinn aber bestreitet diese Entwicklung und zieht zur Erklärung seiner ablehnenden Haltung die neoklassische Wachstumstheorie zu Rate.
Seine Kritik an Piketty gipfelt in folgender Schlüsselbehauptung:
Tatsächlich ist es ein zentrales Ergebnis der Wachstumstheorie, dass sich der Zins einer Volkswirtschaft in Abhängigkeit von der Sparquote langfristig gerade bei jenem Niveau einpegelt, bei dem die Wachstumsrate des Kapitals der Wachstumsrate der Einkommen entspricht. Die Konsequenz ist die langfristige Konstanz des Verhältnisses von Vermögen und Wirtschaftsleistung.
…
Hinter der langfristigen Konstanz dieser Relation steht eine einfache mathematische Gesetzmäßigkeit. Wenn eine Volkswirtschaft einen bestimmten Anteil ihres Volkseinkommens spart, wächst das Vermögen, das ja durch die Akkumulation dieser Ersparnis gebildet wird, langfristig ebenfalls mit derselben Rate, mit der das Volkseinkommen wächst. Das Verhältnis von Vermögen und Einkommen kann also gar nicht dauerhaft ansteigen.
Sinn bewegt sich mit diesen behaupteten Gesetzmäßigkeiten natürlich und wie selbstverständlich auf dem Boden der von ihm wie üblich vertretenen neoklassischen Theorie.
Doch damit beginnen für aufmerksame Leser auch die Probleme:
Die Wachstumstheorie der Neoklassiker hat an sich mit Wachstum nichts zu tun, so absurd das auch klingen mag. Sie ist nur eine reine Aneinanderreihung von Faktoren, die in einem bestimmten Modell Wachstum eigentlich erklären sollen. Da sie aber nur das Modell an sich erläutern und ansonsten so gut wie keine weitergehende Aussagekraft haben, können sie gerade dies nicht.
In diesen Modellen gibt es Arbeit und Kapital, die beide, wie könnte es nach der klassischen Theorie auch anders sein, entsprechend der relativen Preise von Arbeit und Kapital miteinander im Austausch stehen, in denen aber ansonsten der Fortschritt quasi ohne weitere Begründung einfach so „vom Himmel fällt“.
Oder es entsteht Wachstum, weil es Investitionen gibt. Investitionen aber gibt es, weil gespart wird. Warum Einkommen und Ersparnisse existieren und wie diese Ersparnisse zu Investitionen werden, können diese Modelle ebenfalls nicht erklären.
Ebenso wird ein weiteres Kernstück wirtschaftlicher Entwicklung in diesen Modellen vollkommen ignoriert:
der Gewinn der Unternehmen.
Liegt die Rendite von Sachinvestitionen über dem Zinssatz der Kapitalmärkte, kann man mit diesen Investitionen mehr verdienen, als wenn man sein Einkommen auf die Bank bringt.
Dieser Mehrverdienst ist der sogenannte „Pioniergewinn“. Dabei handelt es sich um einen der wichtigsten Faktoren für das Gelingen ökonomischer Prozesse, ohne die eine Marktwirtschaft an sich gar nicht denkbar wäre. Diesen aber über die Kapitalkosten hinausgehenden Gewinn gibt es für neoklassische Ökonomen wie Sinn gar nicht.
Nach deren Ansicht richten sich die Unternehmer dank vollkommenen Wettbewerbs und den Ergebnissen neoklassischer Produktionsfunktionen stattdessen immer alle gleichzeitig auf die momentan rentabelste Technologie ein, so dass niemand aus der „Reihe prescht“ und durch innovative neue Verfahren Gewinne oder Verluste machen kann, somit bleiben dann natürlich auch der Zinssatz und die Sachkapitalrendite zumindest langfristig identisch.
In einer solchen Modellwelt gibt es also keine echten, mit Risiken versehenen Investitionsvorhaben und demnach auch keine darin fixierten Finanzierungsmöglichkeiten, die logischerweise bei entsprechenden Erfolgen den Zinssatz übersteigende Renditen abwerfen können.
Die Neoklassik (und damit auch Sinn) erklären nicht, wie aus Innovationen Investitionen und aus ihnen Wirtschaftswachstum wird. Sie nehmen stattdessen mit ihrer statischen Betrachtungsweise an, dass die Wirtschaft eine ganz bestimmte Menge an Gütern herstellt und damit gleichmäßig wächst. Die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung wird dabei vorausgesetzt, obwohl sie gar nicht schlüssig begründet werden kann.
In den Wachstumsmodellen treten dann an die Stelle von gleichgewichtigen Konstanten des statischen Modells ebenso ausgewogene Wachstumsraten wie z. B. ein festes Produktionswachstum und ein gleich bleibender Anstieg der Produktivität. Bewiesen wird damit aber lediglich, dass das alles irgendwie zueinander passt, wenn alle Wachstumsraten identisch sind und der Sparquote der privaten Haushalte entsprechen.
Solche Modelle haben keinerlei Erkenntnisgewinn im Hinblick auf reale Prozesse im Wirtschaftsgeschehen, da es in diesen Modellen mangels Gewinnen keine Unternehmer gibt, die mittels Erhöhung der Kapitalintensität Risiken eingehen, um mit technischen Neuerungen Innovationen umzusetzen. Sie können damit auch nicht erklären, wie sich der technische Fortschritt eigentlich bis zum Erreichen eines gleichgewichtigen Wachstums durchsetzt.
Ebenso unsinnig ist die neoklassische Zinstheorie, auf die sich Sinn natürlich auch bezieht. Selbstverständlich wird dabei unterstellt, dass der Zins aus Angebot und Nachfrage an einem Markt gebildet wird. Auf diesem Kapitalmarkt trifft sich das durch das Sparen der Volkswirtschaft gebildete Kapital mit der Nachfrage an Kapital.
Auf diese Weise stellt dann die Ersparnis den entscheidenden Faktor für Investitionen dar. Nur das, was als Ersparnis der privaten Haushalte aufgebracht wird, kann als Investition Verwendung finden.
Da der Zins Angebot und Nachfrage ausgleicht, bedeutet eine Zunahme an Ersparnis nach dieser Theorie eine Zinssenkung und damit ein Ausweitung der Investitionen.
Demnach wäre vor allem die Bereitschaft der Bevölkerung zu kurzfristigem Konsumverzicht die wichtigste Voraussetzung, um der Volkswirtschaft insgesamt die Möglichkeit zu verschaffen, durch Investitionen den allgemeinen Wohlstand langfristig zu steigern.
Bereits Wilhelm Lautenbach widerlegte eindrucksvoll diese Theorie, siehe „Alternative Wirtschaftstheorie – Teil 8: Lautenbachs Kritik an der klassischen Zinstheorie.
Lautenbach führte schon im Gefolge der Wirtschaftskrise von 1929 aus, dass das „verfügbare Kapital“, mit dem die neoklassische Theorie operiere, keine reelle, sondern nur eine virtuelle, fiktive Größe sei. „Es ist nämlich keineswegs vor und vor allem nicht unabhängig von der Investition gegeben oder auch nur bestimmbar.“ Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 39
Ebenso wurde das Thema abgehandelt in Alternative Wirtschaftstheorie: der beschäftigungspolitisch optimale Zins:
Dort habe ich wiederum Lautenbach zitiert, demnach das Grundproblem der Neoklassik in der Idee eines fest vorgegeben Sparfonds liege und damit in der Vorstellung, es müsse erst gespart werden, damit investiert werden könne. Tatsächlich aber seien die Ersparnis und die Investition gesamtwirtschaftlich von Haus aus identisch.
Weiter schrieb er:
Investition ist der Produktionsbegriff, Ersparnis der Verteilungsbegriff, der sich auf das gleiche Phänomen bezieht, eben das, was wir Kapitalbildung nennen und worunter wir den realen Vermögenszuwachs, die reale Ersparnis, in Gestalt des bilanzmäßigen Zugangs an Anlagen und Vorräten verstehen.Weil Investition und Ersparnis in der geschlossenen Wirtschaft dasselbe sind und nur zwei Ausdrücke für ein und dieselbe Sache, kann man dem Zins theoretisch nicht die Funktion zuweisen, daß er die Investition oder die Kapitalverwendung den Ersparnissen anpasse.
Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 58
Damit wird klar, dass Hans-Werner Sinn hier etwas als eine Gesetzmäßigkeit verkaufen will, was aber tatsächlich nur Teil eines theoretischen Modells ist.
Dieses Modell aber ist nur unter bestimmten Annahmen überhaupt gültig und daher zur Analyse der ökonomischen Realität ausgesprochen ungeeignet. Es fußt zudem auf Behauptungen, die es nur in der neoliberalen Theorie gibt und die einer genaueren Überprüfung durch die Wirklichkeit gar nicht standhalten.
Dadurch kann er Pikettys Formel natürlich nicht widerlegen, im Gegenteil, dessen Daten zeigen vielmehr, dass die für Sinns statisches Wachstumsmodell notwendigen Faktoren eben nicht vorgegeben, sondern im Zeitablauf veränderlich sind.
Damit erledigt sich aber auch Sinns „Beweis“, dass das Verhältnis von Vermögen und Einkommen dauerhaft gar nicht ansteigen könne.
Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass Heiner Flassbeck in seinem Blog-Beitrag flassbeck-economics: Thomas Piketty und die Kapital-Einkommens-Relation feststellt, dass auch Piketty fest auf dem Boden der Neoklassik steht und ebenso wie Sinn mit den Wachstumsmodellen dieser Theorie arbeitet.
Nach dessen Lektüre gehe ich mit Flassbeck konform und teile seine Ansicht, dass man auf der Basis solcher „Theorien“ keine wirklich zutreffenden Aussagen über die Einkommens- und Wachstumsentwicklung einer Volkswirtschaft treffen kann.
Trotzdem halte ich eine weitere Beschäftigung zumindest mit den empirischen Erhebungen und Ergebnissen Pikettys für sinnvoll, da sie als Warnung vor einer gefährlichen Entwicklung der Ungleichheit gesehen werden können und gleichzeitig die neoklassischen Gleichgewichtsanalysen in ihren Grundfesten erschüttern.
Das kann für eine weitergehende Auseinandersetzung mit den Irrlehren dieser Theorie im Endeffekt nur hilfreich sein, weil man dann argumentieren kann: Seht her, da verwendet jemand eure Modelle und kommt doch zu ganz anderen Ansichten.
Möglicherweise sind diese Modelle doch nicht so richtig und anwendbar, wie es von vielen linientreuen Ökonomen immer wieder behauptet wird.
Zugespitzt könnte man es so ausdrücken:
Während Hans-Werner Sinn weiter im muffigen und längst widerlegten „Gewölbe“ seiner tautologischen neoklassischen Argumentation verharrt, so hat Thomas Piketty wenigstens ein Fenster geöffnet, um etwas frische Luft hereinzulassen.
Es bleibt abzuwarten, was seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die weitere Krisenbewältigung durch die Wirtschaftspolitik bedeuten werden.