Um den wichtigsten Fakt des Zustandes der Weltwirtschaft von 1870 begreifen zu können muss man sich klarmachen, dass sie damals weit mehr ihrer Vergangenheit aus dem Mittelalter entsprach als ihrer Zukunft.
Maschine zur Verlegung des Transatlantischen Telegraphenkabels (ca. 1866)
Also weit weniger unserer Zeit und vor allem der unserer Nachkommen glich, völlig unabhängig davon, welchen übergeordneten Begriff diese dafür verwenden werden, um unsere von fossilen Brennstoffen, Maschinenbau und der Digitalisierung geprägte Ära zu beschreiben.
Wenn Sie in den 1870er Jahren die neueste Ausgabe des bedeutendsten Ökonomielehr-buchs der Welt gekauft hätten, hätten Sie beispielsweise Folgendes lesen können:
Bis dato ist es eher fraglich, ob all diese mechanischen Erfindungen, die bisher gemacht wurden, die täglichen Mühen der Menschen tatsächlich erleichtert haben…
Der Autor des Buches John Stuart Mill schrieb weiter zu all den mechanischen Erfindungen seines und früherer Zeitalter:
…Sie haben es lediglich einer größeren Bevölkerungsanzahl ermöglicht, das gleiche Leben in Schufterei und Freiheitsentzug zu führen, wogegen eine größere Anzahl von Fabrikanten und anderen sie genutzt haben, um damit ein Vermögen zu machen.
Sie konnten zwar den Komfort der Mittelklasse erhöhen, doch sie haben noch nicht begonnen, jene großen Veränderungen im menschlichen Schicksal zu bewirken, die es in ihrer Natur und in ihrer Zukünftigkeit zu erreichen gilt.
Erst wenn neben den Institutionen auch die Mehrheit der Menschen von vernünftiger Voraussicht geleitet wird, können die durch den Verstand und die Energie der wissenschaftlichen Entdecker aus den Naturgewalten gemachten Eroberungen zum gemeinsamen Eigentum dieser Spezies werden, sowie zum Mittel zur Verbesserung und Steigerung des universellen Wohlbefindens…
Mill – damals der führende Ökonom der Welt und somit auch von Großbritannien, Feminist, ein in der Öffentlichkeit stehender Intellektueller, Moralphilosoph und Kolonialbeamter – hatte diese Worte ursprünglich 1847 für die erste Ausgabe (1848) seines Werkes „Prinzipien der politischen Ökonomie mit einigen ihrer Auswirkungen auf die Sozialphilosophie“ geschrieben.
In der Zeit von der ersten Ausgabe von 1848 bis zur siebten Ausgabe im Jahr 1871 überarbeitete er viele Teile des Buches: seine Ansichten oder zumindest die Artikulierung seiner Meinungen über Irland, den Sozialismus, die Verwendung von Maschinen in der Landwirtschaft, die Einwanderung, die Verzinsung des Kapitals.
Oder auch ob es nützlich sei, das durchschnittliche Lohnniveau als Ergebnis der Division eines festen zirkulierenden Lohnfonds durch die Anzahl der Arbeiter zu modellieren (in der letzten Ausgabe kommt er zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall ist). Doch Mill korrigierte seinen „Bis dato“-Satz nicht und auch nicht sein Urteil, dass alle mechanischen Erfindungen in der Welt noch nicht einmal begonnen hatten, ihre „großen Änderungen im menschlichen Schicksal“ zu bewirken.
John Stuart Mills Behauptung, dass die industrielle Revolution selbst 1871 noch nicht wirklich bedeutend geworden sei, mag vielleicht überraschend ja bizarr erscheinen:
• Wurde die Dampfmaschine nicht 1712 von Thomas Newcomen erfunden?
• Wurde die Spinning Jenny nicht 1764 von James Hargreaves erdacht?
• Wurde 1771 nicht die erste Baumwollmühle gebaut?
• Wurde die 35 Meilen lange Liverpool and Manchester Railroad nicht am 15. September 1830 in Großbritannien eröffnet?
• Und war das nicht auch der Tag, an dem mit William Huskisson (1770-1830), dem ehemaligen Präsidenten des Board of Trade (in England das Äquivalent des Handelsministers) der erste Mensch bei einem Eisenbahnunfall getötet wurde?
• Gab es nicht bis 1850 an die 20.000 Meilen Eisenbahngleise weltweit?
• Gab es nicht bis 1850 allein in den Vereinigten Staaten 25.000 Meilen an Telegraphendrähte?
• Zählte das alles denn gar nichts?
John Stuart Mill mag mehr oder weniger richtig gelegen haben, soweit es sich nur um England selbst handelte – das hängt zweifelsohne auch vom Blickwinkel ab – doch er hatte unumstritten recht, wenn man einen Schritt zurücktritt und den Globus als Ganzes betrachtet.
Nach Schätzungen von Robert Allen et al. sah es so aus, als wären die Reallöhne der Arbeiterklasse 1870 in Amsterdam (Holland), Mailand (Italien) und in Peking (China) wesentlich niedriger gewesen als vor anderthalb Jahrhunderten. Die Reallöhne in London hatten den Niedergang von Amsterdam bis Anfang des 19. Jahrhunderts geteilt – danach aber waren sie auseinandergegangen und hatten bis 1870 vielleicht gerade erst wieder etwas mehr als ihr Niveau von 1730 erreicht.
Nur für Leipzig in Deutschland konnte die Studie von Allen et al. 1870 einen beträchtlich höheren Wohlstand gegenüber 1730 messen (wobei der deutliche Stabilitätsunterschied in der Leipziger Reallohnserie zwischen dem achtzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert doch Zweifel daran aufkommen lässt, ob beide Serien tatsächlich gleich kalkuliert wurden).
Vielleicht hatte sich Mill im Fall Leipzig geirrt: möglicherweise hatte die industrielle Revolution 1870 die Arbeit erheblich erleichtert und das materielle Wohlergehen der Elbtalbewohner gesteigert. Zumindest aber hatte sie den Einwohnern von London in England das materielle Wohlergehen auf die Waage gebracht.
Die Divergenz zwischen den Reallohnkursen in London und denen Amsterdams auf der anderen Seite der Nordsee im neunzehnten Jahrhundert zeigt sicherlich die unter-schiedliche Prägung des von Maschinen und Handel getriebenen industriellen Wohlstands Englands. Aber es scheint doch so, als hätte dies nichts anderes bewirkt, als den materiellen Standard der Arbeiterklasse in London zu halten, zumindest im Vergleich zu 1730.
Ein alternatives, optimistischeres Bild von England im 19. Jahrhundert zeichnete Gregory Clark. Er behauptete, in England hätten die Reallöhne der Arbeiter in den 1860er Jahren wahrscheinlich ein halb so hohes Niveau erreicht wie die ihrer Vorgänger des vorigen Jahrhunderts – und vielleicht doppelt so hoch wie im Mittelalter. So unterstützte England 1870 fünfmal so viele Menschen mit einer besseren Ernährung als dies typischerweise ein halbes Jahrtausend zuvor der Fall gewesen war.
Aber selbst wenn die Reallöhne in England im Jahre 1870 wesentlich höher waren als die Durchschnittswerte aus dem Mittelalter, blieben die Reallöhne in China und Indien in jeder Hinsicht niedrig. Reisende aus Westeuropa nach Asien in den 1600er Jahren und davor waren nicht nur von der Größe der Imperien und dem luxuriösen Reichtum ihrer Herrscher beeindruckt, sondern auch von der Größe der Geschäfte und des Wohlstands der Händlerklassen und von der guten Ordnung und Abwesenheit von außergewöhnlicher Armut unter den Massen der relativ Armen.
Im 19. Jahrhundert war dies nicht mehr der Fall: Die Berichte der Reisenden konzentrierten sich so sehr auf Massenarmut und Hungerkatastrophen wie auf den Luxus des gehobenen Handwerks und der High-Culture, und der Reichtum des Hofes erschien manchem „Orientalisten“ besonders unheilsvoll gegenüber dem Hintergrund der Armut der Massen, die es vor ein paar Jahrhunderten nicht in einem so großen Maße gegeben hatte.
Dampfkraft, Eisenherstellung und Spinning Jennies, Powerwebstühle und Tele-graphendrähte hatten bis 1870 nur relativ wenigen ein Vermögen gebracht, ansonsten aber in Bezug auf John Stuart Mills Formulierung „des menschlichen Schicksals“ noch nicht viel verändert. Ein Teil dieses Versagens war eine Frage von Raum und Zeit. Die Welt von 1870 war in Bezug auf Kommunikation und Transport noch sehr viel größer als unsere Welt.
Es brauchte einfach mehr Zeit, um den Raum abzudecken wenn die Geschwindigkeit noch niedrig ist, und die anderthalb Jahrhunderte von Newcomen und Arkwright bis 1870 reichten nicht aus, um Dampf und Eisen und mechanisches Spinnen über den Globus zu verbreiten – aber die Welt von 1870 schrumpfte schnell. Das eisenbeschlagene Dampf-schiff, das unterseeische Telegraphenkabel und das Kanonenboot bildeten schnell eine viel kleinere Welt, die Verkehr, Kommunikation und imperiale Herrschaft in der Tat zügig abdecken konnten.
Vielmehr war dieses Versagen auf die Tatsache zurückzuführen, dass zwar einzelne Erfindungen gemacht worden waren, aber die Erfindung an sich als ein Prozess noch nicht entdeckt worden war – oder vielleicht besser gesagt, dass sie noch nicht routiniert, bürokratisiert und systematisiert abliefen.
Es gab viele einzelne innovative Unternehmen mit Dampf, Textilien, Töpfereien, Eisenbahnen und Eisenschmieden in einer engen Linie von Geschäft und Technologie. Doch es gab noch nicht die Thomas Alva Edisons und ihre industriellen Forschungslabore, um das Geschäft der Erfindung und Innovation als eigenständige Unternehmen zu schaffen.
Daher ist es vielleicht am besten, die historische Achse zu nehmen, auf der das Rad der wirtschaftlichen Moderne, des modernen Wirtschaftswachstums, der modernen Ökonomie – wie immer man es nennen mag – eher erst um 1870 statt 1720 rollte:
Nicht die erste atmosphärische Dampfmaschine, die Wasser aus Kohlebergwerken pumpte mit denen London mit Brennstoffen versorgt wurde, um sich für den Winter warm zu halten, aber stattdessen die dreifache Kombination des unterseeischen Telegraphen, des eisengehüllten Ozeandampfschiffs und des industriellen Forschungslabors. Sie waren es, die die wirkliche industrielle Revolution hervorbrachten – diejenige mit überwältigender Bedeutung, globaler Reichweite und dabei unaufhaltsam.
(Eigene Übersetzung eines Blogbeitrags des amerikanischen Ökonomen Bradford DeLong)