„Wie geht es der Wirtschaft?“

Wenn Sie vor 100 Jahren jemanden gefragt hätten: „Wie geht es der Wirtschaft?“, so hätte er nicht gewusst wovon Sie sprechen. Zu dieser Zeit wurde über Dinge wie Bankenpanik, den nationalen Wohlstand und den Handel gesprochen.

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Arbeitslose Wanderarbeiter entern einen Zug, ca. 1933 in Kanada

Aber laut Zachary Karabell wurde dieses Ding, das wir Wirtschaft nennen – dieses Ding, das wir ständig mit bestimmten Zahlen messen – erst im 20. Jahrhundert wirklich erfunden. Insbesondere um 1930. „Es wurde wegen der Weltwirtschaftskrise erfunden“, so Karabell in seinem Buch „The Leading Indicators“. Er schreibt:

„Es wurde erfunden, weil eindeutig die Wahrnehmung bestand, dass etwas wirklich, wirklich Schlimmes vor sich ging, aber sie wussten nicht wirklich, was. Man konnte sehen, dass Obdachlose auf der Straße hausten, man konnte sehen, dass die Okies zu Zehntau-senden ihre Dust Bowl-Farmen in Richtung Kalifornien verließen, aber es gab keine Möglichkeit, dies wirklich zu begreifen.

Also beginnt die Regierung mit der Berechnung dieser einzigen offiziellen Zahl, die als Nationaleinkommen bezeichnet wird. Es ist der Vorläufer des heutigen Bruttoinlands-produkts oder BIP, und es ist im Grunde der Wert aller Waren und Dienstleistungen, die in einem Jahr im Land produziert werden. Als es in dieser Depression erstmals eingesetzt wird, wird diese wackelige Statistik über Nacht zu einer Sensation.

Ein dem Kongress vorgelegter Bericht über das Nationaleinkommen wird zum Bestseller. Und bald können Sie das Radio nicht mehr einschalten, ohne diese Zahlen und deren Messwerte zu hören.“

In den folgenden Jahrzehnten wird das Nationaleinkommen zum Bruttosozialprodukt und schließlich zum BIP – und es erfasst die Welt. „Das erste, was Sie in den 1950er und 1960er Jahren tun, wenn Sie eine neue Nation sind, ist, dass Sie eine nationale Fluggesellschaft eröffnen, eine nationale Armee gründen und mit der Messung des BIP beginnen“, sagt Karabell. Sie müssen das BIP berechnen, denn wenn Sie Hilfe von der Weltbank oder den Vereinten Nationen benötigen, möchten diese wissen: Was leistet ihre Hilfe für die Wirtschaft Ihres Landes?

Etwa um diese Zeit, so Karabell, fangen die Menschen aber auch an, zu viel aus dem BIP zu machen. Anstatt ein begrenztes Maß für die Wirtschaft zu sein, wird es zu einem Maßstab für den Kalten Krieg, wer es besser macht, wer ihn gewinnt. Und so führt all dieser Erfolg vielleicht unvermeidlich zu einer Gegenreaktion. In einem der berühmtesten Momente dieser Gegenreaktion zählte Robert Kennedy die Mängel des damaligen Bruttosozial-produkts auf.

„Das Bruttosozialprodukt berücksichtigt nicht die Gesundheit unserer Kinder, die Qualität ihrer Ausbildung oder ihre Freude am Spielen. Es beinhaltet nicht die Schönheit unserer Poesie oder die Stärke unserer Ehen, die Intelligenz unserer öffentlichen Debatte oder die Integrität unserer Beamten.“ Das ursprüngliche BIP sollte niemals das allgemeine Wohlbefinden oder den Lebensstandard einer Nation messen.

„Es macht das, was es verspricht: Es misst die Wirtschaft“, so Diane Coyle, eine britische Ökonomin, die gerade ein Buch mit dem Titel „Das BIP, eine kurze aber liebevolle Geschichte“ geschrieben hat. „Wir sollten es nicht dazu bringen, etwas zu tun für das es nie gedacht war.“

Trotz dieser Warnung kommt das bei vielen kulturellen Konstrukten, die Menschen zur Strukturierung der Welt schaffen immer noch häufig vor. Ein Problem mit dem BIP: Bestimmte Dinge, die eindeutig schlecht sind, lassen das BIP ansteigen – wie etwa Hurrikanschäden, deren Behebung viel kostet oder auch die Minderung der Drogen-abhängigkeit.

Selbst herauszufinden, was zum BIP zu zählen ist kann schwierig sein. Zum Beispiel: Sollten Sie den Schwarzmarkt mitzählen, also alles von Babysittern bis hin zu Mafia-Drogendealern? Die USA machen das nicht. Andere Länder tun es. In den 80er Jahren begann Italien, seinen Schwarzmarkt mit zu zählen und über Nacht wurde die italienische Wirtschaft größer als die britische. Die Italiener feierten. Sie nannten es Il Sorpasso.

Diese Probleme mit dem BIP zeigen die Ursprünge von Konstrukten wie dem BIP. In der Tat mit der vollen Konzentration auf die Ökonomie. Wir neigen dazu, die Wirtschaft (z. B. das BIP) als ein natürliches Objekt zu betrachten. Wie einen Berg etwa, und wir haben Methoden, um ihn zu messen, die besser oder schlechter und mehr oder weniger genau sind.

Und wie ein Berg kann die Wirtschaft erst beurteilt oder gemessen werden, wenn der Mensch sie sich vorstellt. Menschen erfinden diese und viele andere „Dinge“, um Menschen und Ereignisse um sie herum mit Daten zu füllen und zu erklären. Anthro-pologen nennen diese Erfindungen kulturelle Konstrukte. Der Mensch lebt in einer Welt sozialer Konstrukte.

Die Shareholder-Value-Theorie (SHVT) ist ein solches kulturelles Konstrukt. Shareholder Value Thinking ist in der heutigen Geschäftswelt weit verbreitet. Wenn Sie vor fünfzig Jahren die Direktoren oder den CEO eines großen börsennotierten Unternehmens nach dem Zweck des Unternehmens gefragt hätten, hätten Sie vielleicht erfahren, dass das Unternehmen viele Ziele hatte:

Aktieninvestoren solide Renditen zu bieten, aber auch großartige Produkte zu bauen, um den Arbeitnehmern angemessene Lebensgrundlagen zu bieten und einen Beitrag zur Gemeinschaft und zur Nation zu leisten.

Heute wird Ihnen wahrscheinlich gesagt, dass das Unternehmen nur einen Zweck hat, nämlich das Vermögen seiner Aktionäre zu maximieren. Diese Art des Denkens treibt Direktoren und Führungskräfte dazu, auch öffentliche Unternehmen wie BP so zu leiten, wobei der unermüdliche Fokus eben auf der Erhöhung des Aktienkurses liegt.

In dem Bestreben, den „Shareholder Value zu befreien“, verkaufen sie wichtige Ver-mögenswerte, entlassen loyale Mitarbeiter und pressen so die verbleibende Belegschaft rücksichtslos aus.

Weiter folgt die Einschränkung des Produkt-Supports, der Kundenunterstützung sowie der Forschung und Entwicklung; die Verzögerung beim Ersetzen abgenutzter, veralteter und unsicherer Geräte; die CEOs werden mit Aktienoptionen und teuren Gehaltspaketen überschüttet, um sie zu „motivieren“, Bargeldreserven werden abgebaut, um hohe Dividenden zu zahlen und Unternehmensanteile zurückzukaufen, wobei Unternehmen ausgehöhlt werden, bis sie kurz vor der Insolvenz stehen; und beeinflussen die Regulierungsbehörden und den Kongress, um die Gesetze zu ändern, damit sie kurzfristigen Gewinnen nachjagen können, die in Credit Default Swaps und anderen risikoreichen Finanzderivaten angelegt werden.

Sie tun dies, obwohl sich viele einzelne Direktoren und Führungskräfte bei solchen Strategien unwohl fühlen, was darauf hindeutet, dass eine zielgerichtete Fokussierung auf den Aktienkurs möglicherweise nicht den Interessen der Gesellschaft, des Unternehmens oder der Aktionäre selbst dient.

Ihr Unbehagen ist durchaus berechtigt. Aber warum machen sie das dann? Einige sagen, es ist die Macht, anderen geht es um Reichtum, anderen um das soziale Prestige. Nichts davon ist wirklich relevant, bevor die Direktoren, CEOs und Ökonomen akzeptieren, dass die SHVT nicht nur angemessen, sondern auch gerechtfertigt und moralisch korrekt wäre.

Dieser Prozess (Sozialisation genannt) begann in den 1970er Jahren und dauert bis heute an. Angetrieben von Ökonomen und Politikern (beides Empfänger großer Geldspenden von Aktionärsgruppen), Hochschulabsolventen in Wirtschaftswissenschaften (haupt-sächlich auf der Suche nach akademischem Prestige und Macht), potenziellen CEOs, die nach besseren Zahltagen suchen, und die „wahren Gläubigen“ unter den Aktionären als die notwendige Grundlage der amerikanischen Geschäftsherrschaft in der Welt.

Und nur wenig von dieser Unterstützung und Proselytisation basiert auf wirklich klaren empirischen Beweisen. Die Sozialisation ist so mächtig, dass ihre Botschaften auch dann noch von Bedeutung sind, wenn die Ergebnisse diejenigen töten, die sozialisiert werden sollend und deren Kultur die ursprüngliche Quelle der Sozialisation war.

Die SHVT wird wahrscheinlich ihre Dominanz in den amerikanischen und den meisten Weltwirtschaften, Unternehmen und Gesellschaften fortsetzen, selbst wenn es die betei-ligten Personen, Unternehmen, Volkswirtschaften und sogar Gesellschaften zerstört. Eine so „erfolgreiche“ Sozialisation lässt da leider nur wenig Spielraum.

(Eigene Übersetzung eines Blogbeitrages vom Real-World Economics Review Blog)