Voyager 1 – ein einsamer Tod?

Milliarden von Meilen entfernt am Rande des Sonnensystems ist Voyager 1 verrückt geworden und hat begonnen zu sterben. Oder doch nicht?

Voyager
NASA-Foto einer der beiden identischen Voyager-Raumsonden Voyager 1
und Voyager 2, die beide 1977 gestartet wurden

Beginnen wir mit den „Milliarden von Meilen“. Voyager 1 startete Anfang September 1977. Jimmy Carter war ein hoffnungsvoller neuer Präsident. Jugoslawien und die UdSSR waren ebenso aktuell wie American Motors und Pan Am.

Die Amerikaner sahen Happy Days, M*A*S*H und Drei Engel für Charlie im Fernsehen; in Deutschland liefen Der Alte und der Tatort „Reifezeugnis“, während die Westernserie Bonanza gerade eingestellt wurde.

Wenn man das Radio einschaltete, wechselte sich „Hotel California“ von den Eagles mit „Dancing Queen“ von Abba ab (und, wenn wir ganz ehrlich sein wollen, „Car Wash“ von Rose Royce). Die meisten Autos fuhren immer noch mit bleihaltigem Benzin, die meisten Telefone waren immer noch mit Wählscheibe ausgestattet, und das Internet war eine wackelige Idee, die noch ein paar Wochen von einem funktionierenden Prototyp entfernt war.

Der erste Apple II Heimcomputer war gerade in den Handel gekommen. Die Sex Pistols waren im Studio, um _Never Mind The Bollocks_ fertigzustellen. Sie tourten nur drei Monate damit und trennten sich dann, und innerhalb eines weiteren Jahres starb Sid Vicious an einer Überdosis Heroin.

Barack Obama war ein Highschool-Schüler, der bei seinen Großeltern in Honolulu, Hawaii, lebte: Seine Noten waren in Ordnung, aber er verbrachte die meiste Zeit damit, mit seinen kiffenden Freunden in der „Choom Gang“ abzuhängen.

Boris Johnson versteckte sich im elitären Internat Ashdown House, während die Ehe seiner Eltern langsam in die Brüche ging: Obwohl er erst dreizehn Jahre alt war, hatte er bereits seine charakte-ristische Frisur angenommen. Elvis war erst vor ein paar Wochen auf der Toilette gestorben. Es war der Sommer von Star Wars.

Und Voyager 1 startete zu einer Tour durch das Sonnensystem.

Es gibt keine Möglichkeit, die ganze Geschichte von Voyager 1 in einen einzigen Blogbeitrag zu packen. Hier ist die Kurzfassung: Voyager war die zweite Raumsonde, die an Jupiter vorbeiflog, und die erste, die Nahaufnahmen von Jupiters Monden machte.

Sie flog am Saturn vorbei und untersuchte den Saturnmond Titan, den einzigen Mond mit Atmosphäre. Und dann flog sie weiter, weiter und weiter, weitere vierzig Jahre lang. 2012 verließ sie offiziell das Sonnensystem und trat in den interstellaren Raum ein. Es ging einfach immer weiter, immer weiter in die unendliche Leere.

(Kennen Sie die Goldene Schallplatte? Kommen Sie schon, jeder kennt die Goldene Schallplatte. Es ist irgendwie hokey und kitschig und auch irgendwie erstaunlich und großartig.)

Die Voyager ist in die Jahre gekommen. Dafür war sie auch eigentlich nie gedacht! Ihre ursprüngliche Mission sollte etwas mehr als drei Jahre dauern. Die Voyager hat sich als viel widerstandsfähiger erwiesen, als man es sich je hätte vorstellen können, doch die Zeit erwischt uns halt alle irgendwann.

Ihre Energiequelle ist ein Generator voller radioaktiver Isotope, die allmählich in inertes Blei zerfallen. Jahr für Jahr sinkt die Energie, die Leistung verringert sich unaufhaltsam. Jahr für Jahr schaltet die NASA die Instrumente der Voyager ab, um das schwindende Flimmern zu erhalten.

Sie haben vor ein paar Jahren die Innenheizung ausgeschaltet und dachten, das könnte das Ende sein. Aber diese Ingenieure der 1970er Jahre bauten für die Ewigkeit, und die Schaltkreise und Ventile funktionierten weiter, selbst als die Temperatur sank, kälter als Trockeneis, kälter als flüssiger Stickstoff und in Richtung des absoluten Nullpunkts fiel.

(Voyager speicherte seine internen Daten auf einem digitalen Kassettenrekorder. Ja, ein Tonbandgerät, das Informationen auf Magnetband speichert. Es wurde nicht dafür entwickelt, bei hundert Grad unter Null zu funktionieren. Es war nicht darauf ausgelegt, jahrzehntelang zu funktionieren, Daten zu spulen und zurückzuspulen und endlos neu zu schreiben. Aber das tat es.)

Die Voyager flog weiter und weiter, bis sie über 15 Milliarden Kilometer entfernt war. Mit Licht-geschwindigkeit ist der Mond eineinhalb Sekunden entfernt. Die Sonne ist ca. 8 Minuten entfernt. Die Voyager ist zweiundzwanzig Stunden entfernt. Senden Sie am Montagmittag ein Funksignal an ihn, und Sie erhalten am Mittwochmorgen eine Antwort.

Ich könnte sehr ausführlich über die Voyager schreiben – über die Entdeckungen, die sie gemacht hat, über das Deep Space Network, das über die Jahrzehnte hinweg den Kontakt aufrechterhalten hat, über die immer kleiner werdende Crew alternder Techniker, die sie mit einem knappen Budget am Leben erhalten, wie erstaunlich das alles eigentlich war.

Aber ich beschränke mich auf genau das: den Pale Blue Dot.

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Im Jahr 1990, kurz bevor die Kamera der Voyager für immer ausfiel, drehte sich die Sonde um und blickte zurück. Sie zoomte heran und machte ein Bild von der Erde. Aber zu diesem Zeitpunkt war sie so weit weg, dass die Erde nur noch ein einziger blassblauer Pixel war. Schauen Sie sich das Lichtband rechts von der Mitte an. Ungefähr im Zentrum – sehen Sie den Fleck? Es ist kein Defekt. Es ist nicht etwas auf Ihrem Bildschirm. Es ist die Erde.

„Das ist hier. Das ist unser Zuhause. Das sind wir. Jeder, den du liebst, jeder, den du kennst, jeder, von dem du je gehört hast, jeder Mensch, der jemals war, hat hier sein Leben gelebt. Die Gesamtheit unserer Freude und unseres Leidens, Tausende von zuversichtlichen Religionen, Ideologien und Wirtschafts-doktrinen, jeder Jäger und Sammler, jeder Held und Feigling, jeder Schöpfer und Zerstörer der Zivilisation, jeder König und Bauer, jedes verliebte junge Paar, jede Mutter und jeder Vater, jedes hoffnungsvolle Kind, jeder Erfinder und Entdecker, jeder Morallehrer, jeder korrupte Politiker, jeder „Superstar, jeder „höchste Führer“, jeder Heilige und Sünder in der Geschichte unserer Spezies lebte dort – auf einem Staubkorn, das in einem Sonnenstrahl schwebt.“ – Carl Sagan

Die Voyager hielt nach diesem Foto noch 34 Jahre weiter. Es geht immer noch. Sie hat den Griff der Schwerkraft der Sonne verlassen, so dass sie für immer nach außen fallen wird.

Hier noch ein paar Kleinigkeiten: Voyager 1 hält derzeit den Rekord für die am weitesten entfernte aktive Raumsonde. Und das mit weitem Abstand. Die einzige andere Anwärterin ist die kleine Schwester der Voyager, Voyager 2, die ein anderes Missionsprofil hatte und daher Milliarden von Kilometern hinter ihrer älteren Schwester zurückliegt.

Hier ist noch eine Kleinigkeit: Wenn Sie dies im Jahr 2024 lesen ist es sehr unwahrscheinlich, dass Sie noch erleben werden, wie dieser Rekord gebrochen wird. Es gibt nur zwei weitere Raumsonden außerhalb des Sonnensystems – Voyager 2 und New Horizons.

Beide werden sterben, bevor sie Voyager 1 erreichen. Und niemand – weder die NASA, noch die Chinesen, noch die EU – plant derzeit, ein weiteres Raumfahrzeug in diese Entfernungen zu starten. Theoretisch könnten wir das. In der Praxis haben wir andere Prioritäten.

Wir dachten, wir wüssten wie Voyager enden würde. Der Strom würde allmählich und unvermeidlich zur Neige gehen. Die Instrumente schalteten sich ab, eines nach dem anderen. Das Signal würde schwächer werden. Irgendwann würde entweder das letzte Instrument wegen mangelnder Leistung ausfallen, oder das Signal würde verloren gehen.

Wir haben nicht damit gerechnet, dass sie verrückt wird.

Im Dezember 2023 begann die Voyager, Kauderwelsch anstelle von Daten zurückzusenden. Ein Softwarefehler, der jedoch möglicherweise durch ein zugrunde liegendes Hardwareproblem verursacht wurde. Ein Einschlag kosmischer Strahlung oder eine Nebenwirkung der niedrigen Temperaturen oder einfach nur alternde Geräte, die zufällig dazu führen, dass einige Teile umkippen.

Das Problem war, dass das Kauderwelsch von der Flugrichtungssoftware kam – so etwas wie ein Betriebssystem. Und keine Kopie dieses Betriebssystems existierte mehr auf der Erde.

(Dies ist ein Problem, das die NASA längst gelöst hat. Heutzutage hinterlässt jede Raumsonde, die startet ein perfektes Duplikat auf der Erde. Erinnern Sie sich daran, wie sie in „Der Marsianer“ ein weiteres Exemplar von Pathfinder unter einer Plane in einem Lagerhaus liegen hatten? Das ist richtig. Das ist seit 30 Jahren Standard. Aber 1977 hatte noch niemand daran gedacht.)

Voyager Mission Control bestand früher aus ein paar großen Räumen voller geschäftiger Menschen, Computern und riesigen Bildschirmen. Jetzt ist es ein Einzelzimmer in einem kleinen Bürogebäude im San Gabriel Valley, zwischen einer Hundeschule und einem McDonalds. Das Missionskontrollteam besteht aus einer Handvoll Leuten, keiner von ihnen ist jung, einige haben das Rentenalter weit überschritten.

Und sie versuchen, das Problem zu beheben. Aber im Moment sieht es nicht gut aus. Sie können nicht einfach ein neues Betriebssystem aus 15 Milliarden Kilometern Entfernung herunterladen. Sie müssten das Problem herausfinden, herausfinden, ob eine Problemumgehung möglich ist und diese dann anwenden.

Und das alles mit einer Hin- und Rücklaufzeit von 45 Stunden für jede Kommunikation mit einer Sonde, die mit einer Million Meilen pro Tag von uns wegfliegt. Sie versuchen es, und zuletzt gab es überra-schend wieder etwas Hoffnung.

Trotzdem, irgendwann – nicht morgen, nicht nächste Woche, sondern irgendwann in den nächsten Monaten – werden sie sich wahrscheinlich geschlagen geben müssen. Und dann erklären sie Voyager 1 offiziell für beendet, tot und fertig, das Ende eines langen Weges.

Und das ist alles.

(Eigene Übersetzung und Aktualisierung eines Blogbeitrages von Doug Muir)