Treiben höhere Mindestlöhne Produktivität und Innovation an?

Vor der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes habe ich hier mehrfach über die Vorteile einer solchen Lohnuntergrenze geschrieben. Nun stieß ich auf einen sehr interessanten Artikel des amerikanischen Ökonomen Noah Smith zu dieser Thematik. Er stellte sich die Frage, ob Mindestlöhne in der langen Frist nicht sogar die Produktivität und Innovation steigern würden.

Jobboom nach der Mindestlohneinführung
Grafik: Hans-Böckler-Stiftung

Normalerweise wären es ja die Gegner von Lohnuntergrenzen, die über die Auswirkungen von Mindestlöhnen über längere Zeiträume reden würden, so Smith. Ihrer Ansicht nach hätten Erhöhungen der Mindestlöhne keine oder nur geringe Konsequenzen für das Beschäftigungsniveau einer Volkswirtschaft. Langfristig aber würden sie angeblich doch zu negativen Folgen für den Abbau der Erwerbslosigkeit führen.

Noah Smith aber folgt einem ganz anderen Ansatz, er ist nämlich davon überzeugt, dass Lohnuntergrenzen sich über die lange Frist vielmehr auf die Produktivität als auf die Beschäftigung auswirken würden.

Langfristig habe Produktivität sehr viel mit Technologie und technischem Fortschritt zu tun. Ökonomen behandeln diesen technologischen Wandel allerdings oft so, als ob er einfach direkt vom Himmel fiele. Tatsächlich aber seien es die Innovationsbemühungen von Unternehmern und Forschern, die die Technik voranbrächten.

Warum aber werden Unternehmen innovativ? Smith verneint den Ansatz, dass Firmen quasi automatisch jede Technologie erfinden würden, die sie produktiver werden ließe. Seiner Ansicht nach können innovative Unternehmen gar nicht im Voraus wissen, welche Dinge sie in der Lage wären zu produzieren. Technischen Fortschritt zu entwickeln sei riskant, und Unternehmen in der Regel eher risikoscheu.

Als zweiten Punkt führt Noah Smith an, dass Firmen normalerweise kurzfristig planen würden und deshalb dazu neigen, möglichst wenig Geld in Forschung und Entwicklung zu investieren, die sich erst Jahre später auswirken könnten. Und zuletzt würden sich auch viele Unternehmen auf dem erreichten Status Quo einrichten und erst dann in Innovationen denken, wenn sie durch die Marktlage dazu gezwungen wären.

Was passiert also, wenn sich eine Firma plötzlich in der Situation befände, höhere Löhne zahlen zu müssen? Sie könnte den Einbruch bei der Gewinnmarge einfach so hinnehmen und weitermachen wie bisher. Möglich wäre aber auch, dass das Unternehmen kürzer tritt, Beschäftigte entlässt und seine Tätigkeiten einschränkt.

Oder es würde sich dazu entscheiden, in arbeitssparende Technologien zu investieren. Smith verweist an dieser Stelle auf einen Beitrag des Forbes-Kolumnisten Adam Ozimek aus dem Jahr 2013 mit der überaus treffenden Überschrift „Eine Verdopplung der Gehälter bei McDonalds wäre ein guter Weg, die Arbeiter durch Maschinen zu ersetzen“ und zitiert daraus:

Wir hören mehr und mehr davon, dass Maschinen Arbeiter ersetzen und auch bei McDonalds gibt es einige offensichtliche Anwärter für einen Austausch … [Automatisierte Bestellungs- und Bezahlungssysteme sind] nur die naheliegendste Möglichkeit, mit Maschinen die Arbeitnehmer zu ersetzen. Ein Unternehmen … arbeitet bereits an Robotern, um auch die Köche ersetzen zu können … Langfristig führt ein solcher technologischer Wandel allerdings im Durchschnitt zu mehr Wohlstand[.]

In den zwei Jahren seitdem seien Ozimeks Prophezeiungen wahr geworden, so Noah Smith. McDonalds hat bereits eine Reihe von automatischen Kiosken installiert, mit denen Kunden ihre eigenen Burger erstellen könnten.

Natürlich hält Smith Ozimek für einen hartnäckigen Mindestlohn-Gegner, der mit dem Argument, Mindestlöhne würden ihre Arbeitsplätze vernichten, versuche die Arbeitnehmer zu beunruhigen. Doch er sieht das anders: die Beschäftigten sollten nicht so sehr Angst davor haben, dass sie von dieser Art des technologischen Fortschritts ersetzt würden. Letztendlich dürfte er sie stattdessen produktiver machen und aktuell sogar helfen, mehr zu verdienen.

Noah Smith liefert für diese paradoxe Ansicht folgende Erklärung: In der Vergangenheit, als Unternehmen arbeitssparende Technologien einführten, egal ob Montagelinien oder Computer, wurden ihre Arbeiter dadurch trotzdem nicht einfach in die Arbeitslosigkeit entlassen. Stattdessen wurden sie produktiver als zuvor und erstritten sich damit auch höhere Löhne.

Diejenigen, die trotzdem entlassen wurden, fanden schließlich Arbeitsplätze bei anderen Unternehmen – und da die Wirtschaft aufgrund der Innovationen auch insgesamt produktiver geworden war, konnten dadurch mehr neue Firmen gegründet werden. In früheren Zeiten ergänzte die Automatisierung immer die Menschen, anstatt sie irrelevant zu machen. Das könnte sich in der Zukunft möglicherweise ändern, aber momentan stimmt dieses alte Muster noch immer.

Damit Arbeiter produktiver sein konnten, um die Vorteile der neuen Technologien für sich zu nutzen, mussten sie oft ihre Fähigkeiten verbessern. Zu jeder Zeit haben Arbeitnehmer dies recht erfolgreich geschafft. Als die industrielle Revolution von den Menschen erforderte, das Lesen zu lernen, haben sie das getan. Als die Informationsrevolution die Menschen dazu zwang, Computer zu benutzen, lernten sie, damit umzugehen.

Gering qualifizierte Arbeitskräfte waren bisher bei der Weiterbildung recht zurückhaltend, weil sie meistens eher kurzfristig planen (müssen), die Erfordernisse eines technologisch fortschrittlicheren Arbeitsplatzes könnte sie dagegen zukünftig dazu bringen, längerfristig zu denken und neue Fähigkeiten zu entwickeln.

So könnten also Mindestlohngesetze, die uns zwingen niedrig qualifizierte Arbeit aufzugeben, tatsächlich zu erhöhten technologischen Innovationen führen. Einige Leute spekulieren sogar damit, dass dieser Effekt bereits durch die industrielle Revolution selbst begonnen habe, meint Noah Smith.

Der Wirtschaftshistoriker Robert C. Allen argumentiere in einem aufsehenerregenden Aufsatz, dass die industrielle Revolution in Europa und nicht in China vor allem deshalb begann, weil die europäischen Arbeitgeber gezwungen waren, höhere Löhne an ihre Arbeiter zu bezahlen.

Da die Arbeit damit teurer wurde, investierten die Unternehmen vermehrt in Technologie, die dann die Produktivität so sehr erhöhte, dass die Löhne noch mehr stiegen und die Unternehmer dazu zwangen noch weiter auf den technischen Fortschritt zu setzen, auch weil ihre eigenen erhöhten Einkommen es ihnen erlaubten, diese Investitionen zu tätigen.

Der als Pionier der Wachstumsökonomie geltende Wirtschaftswissenschaftler Paul Romer bediente sich schon 1987 bei einem ähnlichen Prinzip – teure Arbeit bewirke eine Aufwärtsspirale der technologischen Verbesserungen. Seine Ausarbeitung bietet bereits eine frühe Bestätigung der Ansichten sowohl von Noah Smith als auch von Robert C. Allen.

So könnten gemäß Smith auf sehr langer Sicht Mindestlohngesetze die Unternehmen dazu zwingen, etwas zu tun, was sie sonst nicht in Erwägung ziehen würden – nämlich riskante Wetten auf neue Technologien einzugehen. Und wenn die Arbeiter ihr eigenes Qualifikationsniveau anheben, würde dieser technische Fortschritt auch die Löhne entsprechend erhöhen.

Die gesamte Wirtschaft, einschließlich der Arbeitnehmer, die vorübergehend ihre Niedriglohn-Jobs verlören, würde auf lange Sicht davon profitieren. Sicherlich ist diese Theorie von Noah Smith recht spekulativ – zumal sich Theorien, die sich erst über Jahre oder Jahrzehnte hinaus auswirken, nur schlecht mit realen Daten testen lassen. Aber es wäre ein potenzieller Nutzen des Mindestlohns, der eine Überlegung wert wäre.

Ich halte die Ausführungen von Noah Smith für sehr interessant, zumal in dem Beitrag über die Roboter-Job-okalypse ein ähnlicher Ansatz verfolgt wird, der noch über die Auswirkungen von Mindestlöhnen hinausgeht.

Demnach bedeuten generell höhere Löhne tatsächlich einen größeren Anreiz für Unternehmen, in den technischen Fortschritt zu investieren. Im Umkehrschluss führt das aber logischerweise dazu, dass Niedriglöhne und prekäre Beschäftigung mit Mini-Gehältern die Einführung neuer Technologien verlangsamen, da sie die Firmen vom Risiko kostspieliger Neuentwicklungen weitestgehend befreien.

Die Folgen der dadurch stagnierenden oder nur noch sehr langsam steigenden Produktivität sind in den angelsächsischen Staaten (und auch im Rest von Europa) in den letzten Jahrzehnten deutlich zu beobachten: anhaltende Arbeitslosigkeit und die immer weiter rotierende Spirale andauernd sinkender (oder zumindest nicht steigender) Löhne gefährden den Wohlstand und die Altersabsicherung ganzer Generationen, für die eine stetig zunehmende Produktivität aufgrund der demographischen Entwicklung eminent wichtig wäre.