Es ist nicht abzusehen, wie Russlands Krieg in der Ukraine enden wird: Sieg, Niederlage oder ein eher unwahrscheinliches Unentschieden. Vergleiche mit dem Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs sind mittlerweile üblich geworden.
Niemandsland in der Nähe von Bachmut
Auf beiden Seiten wird manchmal darauf hingewiesen, dass der Erste Weltkrieg nicht mit Waffengewalt endete, sondern mit einem Zusammenbruch der Moral auf einer Seite. In den Jahren 1917-1918 waren es Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland.
Dagegen zeichnen sich heute erste Risse im Nato-Bündnis ab. Sicherheitsbeamte in Washington haben sich in den letzten Wochen bemüht zu erfahren, wie im vergangenen Monat ein Schatz hochsensibler Dokumente aufgetaucht war, welche die Pläne und militärischen Fähigkeiten der Ukraine beschrieben und versuchten ihren Wert für Russland zu schätzen.
Währenddessen knöpft Wladimir Putin Russland während des Krieges weiter zu. Der Kreml verschärfte seine außenpolitischen Ambitionen zum ersten Mal seit 2016 formell und beschrieb Russland als „unverwechselbare Staatszivilisation“, während er die USA als „Hauptbedrohungsquelle“ für seine eigene „einzigartige historische Mission“ bezeichnete. Russische Sicherheitsbeamte begannen, die Pässe hochrangiger Beamter einzusammeln, als die Angst vor einem Überlaufen eskalierte.
Es lohnt sich nun immer mehr, vorausschauend zu denken. Wie auch immer der Krieg endet, Russland wird immer noch Russland sein. Am Ende von Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post-Cold War Patmate zitiert der Historiker M.E. Sarotte die belarussische Essayistin Swetlana Alexijewitsch, Nobelpreisträgerin von 2015: „Wir müssen wieder auf die neuen Zeiten warten, weil wir in den Neunzigern unsere Chance verpasst haben.“
Ein Hinweis ganz persönlicher Art: Zwei verschiedene Erfahrungen erklären mein anhaltendes Interesse am russischen Krieg in der Ukraine und seinen Folgen. Ende der sechziger Jahre berichtete ich zwei Jahre lang aus Saigon für Pacific Stars and Stripes und Newsweek über Amerikas Vietnamkrieg. Im Sommer 1974 reiste ich mit dem Zug von Nachodka, in der Nähe von Wladiwostok, in das heutige St. Petersburg, wobei ich unterwegs in verschiedenen Städten Halt machte und mir Hintergrundwissen aneignete.
Das ist in der Tat lange her. Aber in den fünfzig Jahren, die seitdem vergangen sind, habe ich auf die eine oder andere Weise über Wirtschaft und Politik berichtet. Ich weiß also etwas darüber, wie die Staaten der ehemaligen Sowjetunion und ihre Satelliten am Ende des Kalten Krieges eine „Schocktherapie“ betrieben haben. Den Überblick darüber zu behalten, wie Wirtschaft verstanden wird, bleibt meine tägliche Aufgabe. Dennoch kann ich nicht aufhören, gelegentlich über Amerikas Rolle bei der Provokation des Krieges nachzudenken.
Der bemerkenswerteste Artikel, den ich in letzter Zeit über die Quellen der russischen Invasion gelesen habe, ist „The Emotional State of Nations“. Es erschien in Noema, einem Magazin, das von dem in den USA lebenden französischen Milliardär Nicolas Berggruen unterstützt wird. Sein Herausgeber, Nathan Gardels, ein kosmopolitischer Journalist macht einen einfachen Punkt:
Demütigung und Groll über mangelnde Anerkennung und mangelnden Respekt gehören zu den stärksten Triebkräften der Geschichte, die schlecht endet. Russland ist derzeit vielleicht das bezeichnendste Beispiel. Putin als wahnsinnigen Ausreißer in seiner Weltanschauung zu betrachten, verkennt, wie breit seine Gefühle von einer Reihe ansonsten sympathischer Persönlichkeiten in Russland in der Zeit nach dem Kalten Krieg geteilt werden.
Gardels erzählte von einem Gespräch zwanzig Jahre zuvor, in dem sich Michail Gorbatschow darüber beschwert hatte, dass der Westen die Geschichten, die sich die Russen gegenseitig über ihre Historie erzählten, missachtete. „Die Amerikaner haben uns ohne angemessenen Respekt behandelt“, beklagte sich der russische Präsident. „Russland ist ein ernstzunehmender Partner. Wir sind ein Land mit einer enormen Geschichte, mit diplomatischer Erfahrung. Es ist ein gebildetes Land, das viel zur Wissenschaft beigetragen hat.“
Gardels zitierte auch einen anderen prominenten Russen. Alexander Lebed, ein beliebter ehemaliger General, der in den Tagen, bevor Boris Jelzin Putin wählte, für das Amt des russischen Präsidenten kandidierte, hatte gesagt:
„Wenn das Gefühl des Verlustes und der Demütigung, das mit einer Niederlage einhergeht, in der russischen Mentalität schwelt, kann dies zu einem Minderwertigkeits-komplex führen, der nur durch neue Siege überwunden werden kann, vorzugsweise über alte Rivalen. Territorien kommen und gehen, aber die Demütigung der Würde einer Nation bleibt in den Köpfen der Menschen. … Er injiziert den Virus der Rache in die besiegte Nation.“
Lebed dachte vermutlich dabei an Deutschland. Die Demütigung, die die Briten und Franzosen ihrem besiegten Feind mit dem Versailler Vertrag von 1919 auferlegten führte zwanzig Jahre später direkt zum Zweiten Weltkrieg. Es ist Grund genug, sich zu fragen welche Folgen der Frieden, wie auch immer er kommen mag, für die Ukraine haben wird.
Wenn Russland verliert, sind alle Wetten aus. Putin wurde als Kind in St. Petersburg gemobbt, und vier amerikanische Präsidenten, die die NATO-Erweiterung vorantrieben drängten ihn einen Krieg zu führen, auf den seine Nation im Nachhinein eindeutig schlecht vorbereitet war. (Präsident Donald Trump war dabei zu zwiespältig, um zu zählen.) Vielleicht entsteht eine überschäumende Demokratie. Wahrscheinlicher ist, dass Russland einem atomar bewaffneten Libyen ähneln wird.
Wenn Russland gewinnt, wird es an der Zeit sein, die Argumente, die Putin für die Invasion als Akt der Selbstverteidigung vorgebracht hat ernst zu nehmen, beginnend mit Alexander Newski, der ältesten russischen Geschichte überhaupt.
Russland ist wiederholt überfallen worden, von Rittern des Deutschen Ordens im dreizehnten Jahrhundert, von den Schweden im siebzehnten Jahrhundert, von den Franzosen im achtzehnten Jahrhundert, von den Briten im neunzehnten Jahrhundert, von den Deutschen im zwanzigsten Jahrhundert.
Zählt ein amerikanisches Eindringen durch die NATO-Erweiterung im Einundzwanzigsten dazu? Das tut es, wenn man Russland zuhört. Der ukrainische Wunsch nach Selbstbestimmung ist viel leichter zu verstehen. Aber im Krieg geht es um Gewalt, nicht um Sympathie für die andere Seite. Verständigung kommt danach, besser früher als später angesichts der Geschwindigkeit des Klimawandels auf der Erde.
Ignorieren Sie also die unerbittliche Propaganda auf beiden Seiten. Denken Sie stattdessen voraus. Sie werden in beiden Fällen auf Russland hören müssen. Es ist noch nicht zu spät, jetzt damit anzufangen. Erinnern Sie sich an das weise Motto von Esther Dyson: Machen Sie immer neue Fehler; aber machen Sie in diesem Fall nicht zweimal den gleichen Fehler.
(Eigene Übersetzung eines Beitrages[1] des Journalisten David Warsh)
- [1]Vgl. https://economicprincipals.com/issues/2023.04.23/2630.html (Zugriff 30.06.2023)