Die Entzauberung des Mythos NAIRU

Selbst als er zum gängigen Mainstream wurde, zerbrach der vermeintliche Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und steigenden oder fallenden Inflationsraten vollständig – vor allem in den 1990er Jahren.

NAIRU-SR-and-LR
Kurzfristige Phillips-Kurve vor und nach der Expansionspolitik
mit langfristiger Phillips-Kurve (NAIRU)

Die Erwerbslosigkeit fiel im Jahr 2000 auf unter 4 Prozent, ohne dass dadurch die Inflation gestiegen wäre. Und seit dem Beginn der Großen Rezession ist die Kluft zwischen Theorie und Realität nur noch weiter gewachsen…

Wenn wir uns einmal anschauen, wie schwach die Grundlagen für eine natürliche Arbeitslosenquote sind, werden andere Argumente für das Streben nach Erwerbslosenquoten, die einst für unmöglich gehalten wurden, sehr viel klarer. Löhne können auf Kosten der Unternehmens-gewinne steigen, ohne dabei Inflation zu verursachen. Tatsächlich erleben wir seit 2014 einen Anstieg des Anteils des wirtschaftlichen Ertrags, der direkt an die Belegschaften geht.

Noch besser: Niedrigere Arbeitslosenzahlen helfen nicht nur den Arbeitnehmern, sondern können zudem auch das allgemeine Wachstum noch fördern. So argumentiert der Ökonom J.W. Mason, dass wir bei Vollbeschäftigung Anreize für mehr Investitionen in arbeitssparende Produktivität schaffen, da Unternehmen versuchen, die Lohnkosten in Schach zu halten, weil die Arbeitnehmer mehr verlangen. Dieser Produktivitätsanstieg führt dann zu noch mehr Wachstum.

Je stärker wir die Verbesserung von Produktion und Beschäftigung vorantreiben, desto mehr lernen wir, wie viel wir an diesen beiden Fronten erreichen können. Diese hoffnungsvolle Idee ist das genaue Gegenteil einer natürlichen, unveränderlichen Arbeitslosenrate. Und es ist eine Idee und Einstellung, die wir annehmen sollten, wenn wir versuchen wollen, uns vollständig von den negativen Folgen der Großen Rezession zu erholen.

Mike Konczal/Vox

Das NAIRU-Konzept erscheint auch deshalb nicht plausibel, weil es in den letzten 50 Jahren schlicht nicht existiert hat. Aber noch heute verwenden „neukeynesianische“ Makroökonomen es – und die damit verbundene Phillips-Kurve – als einen grundlegenden Baustein in ihren Modellen. Warum? Nun, ohne NAIRU müssten die „New Keynesianer“ ihre – immer wieder empirisch widerlegte – neoklassische Sicht auf die langfristige Neutralität des Geldes und die vereinfachende Vorstellung von Inflation als Überschussphänomen aufgeben.

Der NAIRU-Ansatz ist aber nicht nur von theoretischem Interesse. Ganz im Gegenteil.

Der eigentliche Schaden ist der, dass Politiker, deren Entscheidungen auf NAIRU-Modellen basieren, systematisch Sparmaßnahmen umsetzen und damit die wirtschaftliche Expansion zunichtemachen. Das Feilbieten dieser falschen Illusion führt nur zu unnötiger und kostspieliger Stagnation und Arbeitslosigkeit.

Die Verteidiger der [NAIRU-Theorie] könnten sich dafür entscheiden, auf diese empirischen Befunde zu antworten, indem sie argumentieren, dass die natürliche Arbeitslosenrate zeitvariabel ist. Mir ist jedoch keine Theorie bekannt, die uns im Voraus eine Erklärung dafür liefert, wie sich die natürliche Arbeitslosenquote im Laufe der Zeit verändert. In Ermangelung einer solchen Lehre hat die [NAIRU-Theorie] keinen prognostizierbaren Inhalt. Eine Theorie wie diese, die nicht durch irgendwelche Beobachtungen widerlegt werden kann, ist einer Religion näher als der Wissenschaft.

Roger Farmer

(eigene Übersetzung eines Blogbeitrages des schwedischen Ökonomen Lars Syll)