Das Schulden-Mysterium: Warum sich das am höchsten verschuldete Land als Erstes industrialisierte

Sind Staatsschulden wirklich so schlimm? In diesem Beitrag werden die hohe Verschuldung, die raschen Steuererhöhungen und der ständige Kriegszustand, die zur industriellen Revolution in Großbritannien geführt hatten, näher durchleuchtet.


Abbildung 1: Die Akkumulation der Staatsverschuldung (Debt) sowie die Höhe der Staatsausgaben (Expenditure) im Vereinigten Königreich von 1690 bis 1860

Dabei zeigt sich, dass der Teufel bei der Beurteilung der Staatsverschuldung eher im Detail liegt. Wenn wir die Gefahren von Schulden in der heutigen Welt betrachten, sollten wir auch deren potenziellen Nutzen im Auge behalten.

Hohe Schulden, schnell steigende Steuern, ständige und teure Kriege, eine Schuldenlast von über 200% des BIP. Wie stehen die Chancen, dass ein Land mit solchen Merkmalen schnell wächst? Fast jeder würde wahrscheinlich „keine“ sagen.

Und genau dies sind die Bedingungen, unter denen die Industrielle Revolution in Großbritannien stattfand. Die Staatsverschuldung Großbritanniens stieg von 5% des BIP im Jahr 1700 auf über 200% im Jahr 1820. In einem von drei Jahren hatte man Kriege geführt (die meisten von ihnen mit keinem oder nur einem geringen wirtschaftlichen Nutzen) und die Steuern stiegen dabei rasch an, aber eben nicht schnell genug, um Schritt mit dem Anstieg der Ausgaben halten zu können.

Abbildung 1 zeigt, wie der Krieg die Ausgaben in die Höhe getrieben und zu einer massiven Schuldenakkumulation geführt hatte – die grau hinterlegten Bereiche weisen auf Kriege hin und sind für fast alle Schuldenerhöhungen verantwortlich. Im selben Zeitraum zog Großbritannien einen Großteil seiner Bevölkerung aus der Landwirtschaft in Industrie und Dienstleistungen – aus dem Land in die Städte. Die Bevölkerung wuchs rasch und die Industrieproduktion nahm zu (Crafts 1985). Großbritannien löste damit als erstes Land die Fesseln des Malthusianischen Regimes.

Bislang haben Wissenschaftler die Auswirkungen der staatlichen Kreditaufnahme auf das Wachstum zumeist als neutral oder negativ betrachtet. Eine prominente Meinung vertrat die Ansicht, dass die Investitionen in die Privatwirtschaft höher gewesen wären, wenn Großbritannien weniger gekämpft und weniger Kredite aufgenommen hätte (Williamson 1984). Ein weiteres Argument lautet, dass private Sparentscheidungen die potenziell negativen Auswirkungen einer massiven Kreditaufnahme aufgehoben hätten. Da Schulden letztendlich zurückgezahlt werden müssten, erwarteten private Wirtschaftssubjekte in der Zukunft steigende Steuern und neutralisierten somit die Auswirkungen der Schuldenakkumulation (Barro 1990).

Die Revolution die keine war
In einem kürzlich erschienenen Artikel argumentierten wir dagegen, dass die Kredit-aufnahme in Großbritannien tatsächlich gut für das Wachstum war (Ventura und Voth 2015). Um zu verstehen, warum der massive Schuldenaufbau die industrielle Revolution möglicherweise beschleunigt hatte, mussten wir zunächst prüfen, was in einer Wirtschaft hätte geschehen sollen, in der Unternehmer plötzlich anfangen, eine neue Technologie mit hohen Renditen zu nutzen.

Normalerweise würde man davon ausgehen, dass das Kapital diesen Anlagemöglichkeiten nachjagt. Jeder, der Geld hatte, sollte versucht haben seine Ersparnisse in neue Baumwoll-fabriken, Eisengießereien und Keramikhersteller zu stecken. Wo sie nicht über das Fachwissen verfügten, um es direkt anzulegen, sollten Banken und Aktiengesellschaften die Mittel recycelt haben, um Ersparnisse dorthin zu lenken, wo die Erträge am höchsten waren.

Das aber ist gerade nicht passiert. Die Finanzintermediation war kläglich unzureichend – sie schickte das Geld nicht dahin, wohin es eigentlich hätte hin gehen sollen. Ein prominenter Historiker der britischen Industriellen Revolution erklärte das so:

„Die Reservoirs an Ersparnissen waren voll genug, aber es gab nur wenige und magere Wege, um sie mit den Rädern der Industrie zu verbinden. Überraschenderweise fand nur ein geringer Teil [des britischen] Reichtums Einzug in die neuen Industrieunternehmen…“ (Postan 1935)

Dafür gab es viele Gründe, doch eine bewusste finanzielle Repression durch die Regierung war einer von ihnen. Wucherlimits, der Bubble Act, die Sechs-Partner-Regel, welche die Größe der Banken einschränkte – alle waren dazu gedacht, die private Vermittlung einzuschränken, teilweise um der Regierung den Zugang zu Geldern zu erleichtern (Temin und Voth 2013).

Ohne effektive Vermittlung mussten sich die neuen Sektoren selbst finanzieren. Die Renditen blieben hoch, da zu wenig frisches Kapital zur Verfügung stand, um die turmhohen Erträge abzuschöpfen. Robert Allen zufolge wuchs die Gewinnquote des Kapitals von 10% in den 1770er Jahren auf über 20% in den 1830er Jahren – der Kapitalanteil des Volkseinkommens hatte sich mehr als verdoppelt (Allen 2009).

Warum die Verschuldung geholfen hat
Die Ineffizienz der privaten Vermittlung ist entscheidend, damit Schulden eine vorteilhafte Rolle spielen können. Mit der massiven Ausgabe von Anleihen hatte die Regierung dagegen einen effektiven Weg gefunden, wenn auch eher unbeabsichtigt Geld in die Taschen der Unternehmer in den neuen Sektoren zu stecken.

Wie hatte sie das geschafft? Vor der Verfügbarkeit von Staatsschulden investierten die Reichen und Mächtigen Großbritanniens – der Adel – überwiegend in Landbesitz und die Aufwertung von Ländereien. Der Status war eng mit dem Land verbunden, aber die Veredelung des Grund und Bodens stellte kein profitables Unterfangen dar. Viele dieser Anlageformen erzielten nur eine Rendite von 2% oder weniger. Kein Wunder, dass die Adligen von den Investitionen in Landbesitz nicht begeistert waren: In den 1750er-Jahren wechselten die ersten Adligen massiv aus dem Grundbesitz in die Staatsverschuldung.

Der Premierminister Sir Robert Peel äußerte sich dazu: „Jeder Landbesitzer sollte genau so viel seines Vermögens (wie in seinen Grundbesitz) in Staatsanleihen oder anderen Wertpapieren halten…“ (Habbakuk 1994). Viele Adlige sahen sich gezwungen zu Vermögenswerten mit überlegenen Rendite-Risiko-Profilen zu wechseln. Lord Monson hatte es so formuliert: „Was für eine höllische Langeweile bietet denn der Landbesitz? Es kann nicht einmal ein bestimmtes Einkommen darauf angerechnet werden. Ich hoffe, Ihre zukünftige Frau wird Staatsanleihen besitzen…” (Thompson 1963).

Die Verlagerung von Investitionen vom Düngen, Aufbereiten, Entwässern und Einfrieden von Grundstücken in staatliche Schulden befreite Ressourcen – Arbeitskräfte, die auf dem Land nicht mehr gewinnbringend eingesetzt werden konnten mussten anderswo nach Arbeit suchen. Da so viel landwirtschaftliche Arbeit in England von Lohnarbeitern geleistet wurde, vertrieb der Wechsel zur Staatsverschuldung die Arbeiter vom Land. Es überrascht daher nicht, dass die Löhne nicht mit der Produktion Schritt halten konnten.

Die realen Löhne, angepasst an die urbanen Missstände, sind in dem Zeitraum von 1750 bis 1830 sehr wahrscheinlich gesunken. Was das Leben für die Arbeiter unglücklich machte, wie es Engels u. a. recht eloquent beschrieben hatten, war gleichzeitig ein echter Segen für die Kapitalisten. Ihre Profitraten stiegen weiter an, da das Kapital einen immer größeren Anteil vom Kuchen erhielt – während der Anteil des Nationaleinkommens durch Arbeit und Land schrumpfte. Höhere Gewinne sorgten für mehr Investitionen in den neuen Branchen, und das industrielle Wachstum Großbritanniens beschleunigte sich.

Indem wir die Schulden in den Mittelpunkt unserer Interpretation der Industriellen Revolution stellen können wir eine Reihe von Merkmalen, die bisher rätselhaft erschienen, eindeutiger erklären. Das Wachstum war vor allem am Anfang relativ gering (Crafts 1985) – der technologische Wandel erfolgte jedoch wahrscheinlich dennoch ziemlich rasch (Temin 1997). Die staatliche Kreditaufnahme verlangsamte zwar die Kapitalbildung an sich – doch der Strukturwandel fand in diesem gesamten Zeitraum trotzdem recht zügig statt.

Die Renditen in der Industrie fielen hoch aus, aber nur wenig Kapital folgte diesen Erträgen. Die Löhne konnten trotz der raschen Abwanderung vom Land in die Städte nicht mit der Produktivität Schritt halten. Indem wir betonen, wie die Emission von Staatsanleihen die negativen Folgen von finanziellen Spannungen „heilte“, können wir nun genauer die Zusammenhänge von raschen strukturellen Wandel und das langsame Lohn-Wachstum erklären, schneller technologischer Wandel und schlechtes Lohn-wachstum; massive staatliche Kreditaufnahme und der erste Start in nachhaltiges Wachstum.

Good-bye nach Downton
Die Emission von Staatsschulden beschleunigte auch den sozialen Wandel – den Aufstieg der Kapitalisten und den Niedergang des Adels. Ohne sie wären die Profitraten in der Industrie geringer gewesen, und der Abstieg und Fall des Adels als vorherrschende Wirtschaftskraft hätten viel länger gedauert.

Die Lösung, die das schnellste Wachstum gewährleistet hätte – ein wesentlich besser funktionierendes Finanzsystem – hätte die soziale Hierarchie Englands vollständig bewahrt. Finanzinvestitionen des Adels wären über Banken und den Aktienmarkt in neue Sektoren geflossen, so dass die oberen 1% hohe Renditen hätten erzielen könnten. Der Aufstieg der Kapitalisten wäre lange verzögert oder ganz vermieden worden.

Das größere Bild
Wie viel von der Situation im industrialisierten England hat für die heutige Welt eine Relevanz? Ist dies eine Geschichte von einer fernen Insel und aus einer Zeit, von der wir wenig wissen – frei nach Neville Chamberlain – oder enthält sie gar Lektionen für die Gegenwart? Finanzielle Friktionen sind auch in den am meisten entwickelten Ländern heute noch durchaus sehr ausgeprägt. Veränderungen der Rentabilität revolutionärer Sektoren sollten eigentlich primäre Auswirkungen auf die langfristige Wachstumsrate haben. Die Ausgabe von Staatsschulden könnte dabei immer noch Investitionen verdrängen, die sich insgesamt als ineffizient erweisen.

Diese effizienzsteigernden Effekte der Staatsverschuldung könnten in Entwicklungs-ländern noch sehr viel bedeutender sein. Dort könnten die zusätzlichen Vorteile der Schulden, die wir hier gar nicht besprochen haben – etwa die Bereitstellung eines sicheren Wertspeichers und eine gewisse Liquiditätsquelle (Holmstrom und Tirole 1998) – die Gesamtwertung noch stärker zugunsten der Kreditaufnahme durch die Regierung verschieben. Dies bedeutet nicht, dass die Schulden unbegrenzt steigen dürfen (Reinhart und Rogoff 2009) – aber wenn wir die Gefahren der Verschuldung in Betracht ziehen, sollten wir auch deren potenziellen Nutzen im Auge behalten.

(eigene Übersetzung einer Kolumne der beiden Ökonomen Jaume Ventura und Joachim Voth)