Hans-Werner Sinn über Mindestlöhne, die Eurokrise, Say’s Law und die absurde Logik der neoklassischen Theorie

Man ist ja eigentlich von den neoliberalen Apologeten gewohnt, dass sie gerne bei ihren Aussagen im Ungefähren bleiben, dafür Schlagworte heraushauen (wie etwa der neue Ifo-Chef Clemens Fuest in einem Interview: „Mehr Mindestlohn, mehr Arbeitslosigkeit“ oder „Höhere Unternehmensteuern oder Netto-Vermögensteuern kosten Arbeitsplätze“), ohne aber wirklich bei den Begründungen in die Tiefe gehen zu müssen.

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Der ehemalige Präsident des Ifo-Institutes Hans-Werner Sinn

Das ist natürlich an sich schon oft problematisch, weil in solchen Zwiegesprächen meist die Zeit knapp bemessen wird, viele Themen auf einmal abgehandelt werden sollen oder aber, was ebenso häufig vorkommt, die Interviewer mangels fundiertem Wissen nicht nachhaken können oder wollen.

Umso interessanter wird es dann, wenn ein solcher Vertreter dieser Linie mal an ein paar Journalisten gerät, die ihr Handwerk noch verstehen und einfache Antworten nicht so ohne weiteres akzeptieren wollen.

So brachten neulich die beiden Taz-Wirtschaftsredakteure Ulrike Herrmann und Malte Kreutzfeldt den ausgeschiedenen Vorgänger von Fuest, den Ökonomen im Ruhestand Hans-Werner Sinn in einem Interview offenbar ordentlich ins Schwitzen. Es ging unter anderem um Hartz IV, Mindestlöhne, die Eurokrise sowie die Bezahlung der Arbeit in Deutschland.

Wer genau liest und ein wenig logisch zu denken vermag, dem offenbaren sich recht schnell die absurden Widersprüche der neoklassischen Lehre, in die sich Sinn bei den Nachfragen auch prompt zügig und eindeutig verwickelt.

Schon beim Thema Mindestlohn wird es peinlich, wenn Sinn die zentrale These der meisten Studien dazu, nämlich dass er (in jedem Fall!) Arbeitsplätze kosten werde, verteidigt, obwohl diese Vorhersagen nun mal überhaupt nicht eingetroffen sind. Denn ob es nun die gute Konjunktur allein war, die ein Wegfallen der Jobs verhinderte, darüber lässt sich natürlich trefflich streiten, ohne das Sinn überhaupt einen einzigen Beleg für diese krude Mutmaßung vorlegen muss.

Unter anderem geht es dann weiter mit den Ursachen der Eurokrise. Sinn hatte da seit Jahren immer wieder vorrangig die Südländer Spanien, Portugal, Griechenland und auch Frankreich als „Schuldige“ ausgemacht, weil sie ihre Löhne zu sehr über die gemeinsam festgelegte Inflationsquote hinaus nach oben hatten steigen lassen und so „über ihre Verhältnisse gelebt“ und ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren hätten.

Deutschland dagegen habe alles richtig gemacht, und könne trotz seines nach der Agenda 2010 betriebenen Lohndumpings nicht für die Krise verantwortbar gemacht werden, da man ja im internationalen Wettbewerb stehe. Doch die beiden Redakteure geben sich mit dieser These nicht zufrieden:


Weniger freundlich ausgedrückt: Deutschland hat die Löhne gedrückt und dann gigantische Exportüberschüsse aufgehäuft. Aber es können nicht alle Länder exportieren, es muss auch jemand importieren.

Was immer die Überschüsse erklärt: Deutschland ist heute in Relation zu Südeuropa zu billig. Volkswirte der Investmentbank Goldman Sachs haben geschätzt, dass Deutschland im Vergleich zur restlichen Eurozone um 31 Prozent teurer werden müsste, um Italien & Co. wieder wettbewerbsfähig zu machen.

Wir sind überrascht. Plädieren Sie jetzt dafür, dass die deutschen Löhne um 31 Prozent steigen sollen? Eben waren Sie noch gegen den Mindestlohn.

Zitieren und plädoyieren ist nicht dasselbe. Wer sich anpasst, Südeuropa oder wir, ist noch offen. Man darf jedenfalls nicht damit anfangen, die Löhne anzuheben. Zunächst müssen die Firmen mehr investieren. Wenn die Betriebe ihre Kapazitäten ausweiten, nimmt die Beschäftigung zu – und dies führt dann nachfrageseitig zu höheren Löhnen.

Man muss sich das vorstellen: Mehr als sechs Jahre nach dem Ausbruch der Krise ist sich der Ökonom Sinn auf einmal nicht mehr so sicher, wer denn nun bisher der „Übeltäter“ war. Denn nun heißt es, Deutschland müsse sich anpassen, also im Vergleich zu den Krisenländern teurer werden! Dabei waren es bisher immer nur die anderen, die billiger werden sollten.

Will man nun Sinn nicht unterstellen, dass er Unsinn redet, kann daraus nur eine Folgerung richtig sein: Sowohl Deutschland als auch die Krisenländer müssen sich anpassen, sich also bei den Lohnstückkosten quasi in der Mitte treffen, damit die Eurozone insgesamt wieder wettbewerbsfähig werden kann. Und diese Mitte wäre dann folgerichtig die gemeinsame Inflationsrate der EZB bei leicht unter zwei Prozent.

Damit aber wären wir dann genau bei der These, die andere, nicht neoliberale Ökonomen wie etwa Heiner Flassbeck schon seit Jahren vertreten: dass es nämlich vor allem die deutsche Lohndumpingpolitik war, die maßgeblich für die Eurokrise verantwortlich zu machen sei und die Südländer schon gar nicht allein schuld daran wären.

Ebenso interessant wie Sinns urplötzlich differenzierte Ansichten zur Eurokrise ist aber auch der zweite Teil seiner Antwort, in der er zunächst das wichtigste Anpassungs- instrument für die Wettbewerbsfähigkeit, nämlich die Löhne (sie machen immerhin bis zu 70 % sowohl der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage als auch der Kosten aus) natürlich in Deutschland auf keinen Fall erhöht haben will. Was eigentlich sofort die Frage nach sich ziehen müsste, wie sich der Herr Sinn denn bitteschön eine solche Annäherung vorstellen würde.

Stattdessen liefert er die übliche neoliberale Standardargumentation, nach der zunächst die Unternehmen investieren müssten, damit über die Kapazitätsausweitungen der Firmen neue Jobs entstehen können. Richtigerweise lassen ihn die Interviewer aber damit nicht so einfach davon kommen und haken noch einmal nach:


Aber warum sollten Unternehmen stärker investieren, wenn die Löhne stagnieren? Dann fehlt die Nachfrage, die zusätzliche Kapazitäten rentabel macht.

Zur Rentabilität brauchen Firmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, keinen höheren Konsum in Deutschland, sondern niedrige deutsche Löhne. Auch im Inneren eines Landes hängt nicht alles an der Konsumnachfrage. Wenn Firmen Maschinen kaufen, steigt für die Lieferanten die Nachfrage.

Und hier wird es dann ganz abenteuerlich: immerhin gibt Sinn hier nun endlich zu, dass ihm eine Anpassung der Löhne in Europa eigentlich leidlich egal ist, weil ja „die Rentabilität“ der deutschen Firmen im internationalen Wettbewerb weiterhin „niedrige deutsche Löhne“ benötige. Er predigt also weiterhin Lohndumping, während er weiter oben eine Annäherung der deutschen Löhne an die höheren Gehälter ihrer Kollegen in Italien, Frankreich, Griechenland oder Spanien fordert. Au weia…

Pech natürlich auch für alle diese Länder, die so leichtsinnig waren und mit uns eine Währungsunion eingegangen sind, während die deutsche Wirtschaft und offenbar die Mehrheit der Ökonomen lediglich nach einer effektiveren Methode zur Fortsetzung des deutschen Exportwahns gesucht haben.

Und selbstverständlich folgt auch wieder das Argument, dass die Firmen keine Nachfrage benötigten, um zu investieren, denn findige Neoklassiker wissen ja, dass erst Maschinen gekauft werden müssen, die dann für die Nachfrage sorgen. Kein Wunder, dass die beiden Redakteure da langsam entnervt aussteigen, aber immer noch an Sinns Logik erheblich zweifeln.

Diese Zweifel sind auch berechtigt, denn hier geht es um eine der zentralen Irrlehren der Neoklassiker, nämlich das sogenannte Say’s Law, demnach sich eben das Angebot die Nachfrage selber schaffe. Sehr praktisch für jeden Verweigerer von Lohnerhöhungen, denn deren Nachfragewirkung wird dann einfach nicht mehr gebraucht, um die Wirtschaft auf Trab zu halten.

Stattdessen verringere man die Kosten für die Angebotsseite, die dann natürlich von ganz allein prosperiere und eben die entsprechende Nachfrage erzeuge, die dann auch irgendwann für steigende Löhne sorge.

Denn man stelle sich vor, eine Volkswirtschaft würde sich tatsächlich so verhalten, wie es Sinn hier fordert: man produziert fröhlich drauf los und stelle dann die erzeugten Güter ins Schaufenster, gefestigt durch die Überzeugung, dass die Verbraucher diese schon völlig unabhängig von dem Füllstand ihres Geldbeutels kaufen werden.

Und zwar alle, denn nach der neoklassischen Überzeugung sei das Saysche Theorem „Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage selbst“ ja immer richtig. Schöne neue Wirtschaftswelt, in der es aufgrund dieser Anschauung überhaupt keine Unterauslastung der Produktionskapazitäten und damit auch keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit geben kann.


Also setzen Sie weiter auf Lohndumping und Exportüberschüsse, obwohl Sie selbst zugeben, dass Deutschland schon zu billig ist.

Nein. Nachfrageseitig dürfen die Löhne hochgezogen werden, aber man darf sie nicht hochzwingen.

Um ehrlich zu sein, verstehen wir Ihre Logik nicht.

Manche wollen die Logik internationaler Wettbewerbsmärkte nicht verstehen und begreifen auch nicht, dass man Nachfrage entfalten kann, wenn man die Güter nicht aufisst, sondern sie auf einen großen Kapitalhaufen legt.

Und Hans-Werner Sinn wäre nicht Hans-Werner Sinn, wenn er nicht zum Ende des Interviews noch ein weiteres Dogma der Neoklassik in den Ring werfen würde, nämlich die ansonsten auch weit verbreitete Fabel vom „notwendigen Sparen, um investieren zu können“.

Hier bringt er sie in Form der irrigen Annahme, dass es schon ausreiche, gesamt-wirtschaftlich gesehen Güter nicht zu verzehren um damit Kapitalbildung zu erreichen, die als Voraussetzung für Investitionen angesehen wird und so quasi angebotsseitig Nachfrage schafft.

Auch das ist eine Fiktion, die vor allem darauf beruht, dass die Ökonomen Volkswirtschaften immer noch als eine Art überdimensionierte Tauschhandels-gesellschaften betrachten. In einer anonymen Geld- und Kreditwirtschaft aber ist eher das Gegenteil richtig. Hier bedeutet der Versuch zu „sparen“ weniger Konsum und daher auch gleichzeitig weniger Einkommen für die anderen Marktteilnehmer, die daraufhin ebenfalls ihre Ausgaben verringern und so dafür sorgen, dass sich die „nationalen Ersparnisse“ insgesamt reduzieren.

Weniger Konsum insgesamt heißt aber auch für die Unternehmen, dass sich bei sinkender Kapazitätsauslastung gerade jetzt Investitionen in neues Produktionskapital überhaupt nicht lohnen, da die Aussichten auf damit zu erzielende Gewinne äußerst gering erscheinen. So ist demnach auch eher das Gegenteil dessen richtig, was Neoklassiker wie Hans-Werner Sinn uns immer wieder erzählen.

Anstatt also auf Teufel komm raus zu sparen, um mit einer solchen Enthaltsamkeit die Unternehmen zum Investieren zu verleiten, betrügt uns die Logik nicht, die bei unter Arbeitslosigkeit und Überproduktion leidenden Gesellschaften einen steten Verbrauch der Güter und damit eine möglichst gute Kapazitätsauslastung als Voraussetzungen für die Schaffung neuer Anlagen voraussetzt.

Nun könnte man zum Abschluss noch auf die anderen allgemeinen Schwächen der neoklassischen Volkswirtschaftslehre eingehen, wie ich das vor etwa einem Jahr am Beispiel Griechenland ausführlich getan habe. Doch das würde ehrlich gesagt zu weit führen. Wer nach diesen Zeilen noch immer keine Zweifel an diesem irrationalen Theoriegebäude hegt, dem ist sowieso nicht mehr zu helfen.