Fatale Irrtümer des finanziellen Fundamentalismus – Von der notwendigen Erwerbslosigkeit zur Eindämmung der Inflation (NAIRU)

Eine Abhandlung über die Ökonomie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
Teil 6

Irrtum Nr. 6: Es wird als notwendig erachtet, die Arbeitslosigkeit an einem „inflationsstabilen“ Pegel („NAIRU“) im Bereich von 4 bis 6 % zu halten, wenn dadurch ein inakzeptables Ansteigen der Inflation verhindert werden kann.
1996, als William Vickrey seine Abhandlung der fatalen Finanzirrtümer verfasste, war die amtlich ermittelte Arbeitslosenquote in den USA auf 5,1 % zurückgegangen, während das Congressional Budget Office (CBO) die NAIRU seit 1964 bei 6,0 Prozent festgelegt hatte, nachdem sie vorher seit 1958 zwischen 5,5 und 6,3 Prozent betrug. Seit der Finanzkrise ist die NAIRU ab 2010 wieder gestiegen, bis 5,5 Prozent in 2013, in den nächsten Jahren bis 2020 soll sie dann wieder bis auf 5,1 Prozent sinken.

Schon damals bezeichnete Vickrey dies als eine ziemlich optimistische Prognose aufgrund der sich abzeichnenden Tendenzen, doch als Ziel hielt er es einfach für unerträglich. Während eine Rate von fünf Prozent Arbeitslosigkeit möglicherweise noch akzeptabel sein könnte, wenn sie lediglich zwei Wochen unbezahlten Urlaubs pro Jahr als obligatorisches Übel für alle bedeuten würde, ist sie allerdings völlig inakzeptabel, wenn sie zu 10 %, 20 % und 40 % Erwerbslosigkeit bei benachteiligten Gruppen führt, mit schwerwiegenden Folgen wie Armut, Obdachlosigkeit, dem Auseinanderbrechen von Familien, Drogen-abhängigkeit und zunehmender Kriminalität.

Das Unbehagen, welches unsere Städte durchdringt, entspringt in einem nicht geringen Maße der Tatsache, dass zum ersten Mal in unserer Geschichte eine ganze Generation aufgewachsen ist, die nicht einmal kurzfristig eine vernünftige Vollbeschäftigung erlebt hat. Im Gegensatz dazu hatten die meisten anderen Industrieländer, obwohl sie derzeit höhere Arbeitslosenquoten als die USA durchmachen müssen, wenigstens zwischenzeitlich einige Zeiträume bei nahezu Vollbeschäftigung erfahren. Zudem waren die Arbeitslosenversicherungen und andere Sozialprogramme auch viel großzügiger angelegt, so dass die soziologischen Auswirkungen für die betroffenen viel weniger entmutigend ausfielen.

Die zugrunde liegende Annahme, dass eine exogene NAIRU eine unvermeidlichen Einschränkung der makroökonomischen Möglichkeiten darstellt, ist dagegen umstritten und muss sich daher aus historischen und analytischen Gründen kritischen Fragen stellen.

Historisch gesehen imponierte die USA 1926 mit einer Arbeitslosenrate von 1,8 %, allerdings bei einem fallenden Preisniveau, also bei Deflation. West-Deutschland dagegen genoss 1960 eine Erwerbslosigkeit von rund 0,6 % in den Jahren um 1960, und die meisten entwickelten Länder haben Zeiten von unter 2 % Arbeitslosigkeit ohne ernsthafte Inflation erlebt. So muss demnach eine NIARU, wenn sie denn überhaupt vorhanden ist, als sehr Variabel über Zeit und Ort betrachtet werden.

Es ist ebenso nicht klar, ob die Schätzungen der NAIRU nicht durch Fehler kontaminiert werden, indem mögliche Auswirkungen der Inflation auf die Beschäftigung als auch die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf die Inflation unberücksichtigt bleiben.

Eine marxistische Interpretation des Beharrens auf einer NAIRU könnte dieses als einen Vorwand ansehen, mit der Angst vor der Inflation die Aufrechterhaltung einer „Reservearmee von Arbeitslosen“ zu rechtfertigen, um angeblich die Gehälter vor dem Entstehen einer „Lohn-Preis-Spirale“ zu bewahren.

Dagegen hört man nie von einer „Miet-Preis-Spirale“ oder einer „Zins-Preis-Spirale“, obwohl diese Kosten auch in der Preisgestaltung berücksichtigt werden müssten. In der Tat kann der Anstieg der Zinskosten, sollte die Federal Reserve etwa die Verzinsung in einem Versuch der Abwehr von Inflation erhöhen, durchaus für Händler zu einer kleinen Preiserhöhung führen.

Analytisch wäre es vernünftiger zu erwarten, dass es eine maximale, nicht inflationsbeschleunigende Rate der Reduzierung der Arbeitslosigkeit (NAIRRU) geben müsste, wenn ein Versuch unternommen würde, durch Staatsdefizite ein schnelleres Recycling von unnützen Ersparnissen in Kaufkraft zu erreichen, und dadurch die Preise schneller als allgemein erwartet steigen würden.

Dies würde als Folge eines mit der wachsenden Nachfrage nicht mehr Schritt halten könnendes Angebot auftreten, was zu Engpässen und der Ableitung eines Teils der erhöhten Nachfrage in schneller steigende Preise führen würde.

Diese NAIRRU könnte durch bestimmte Lohngrenzen, zu denen Arbeit „gemietet“ werden kann, festgelegt werden und damit dazu beitragen, dem erwarteten Anstieg der Nachfrage gerecht zu werden, sowie eventuelle Verzögerungen bei der Feststellung der erhöhten Nachfrage zu verhindern und sogar die Installation und Fertigstellung von neuen Produktionsanlagen zu beschleunigen.

Das ultimative technologische Hindernis, um Arbeitslose schneller in der Privatwirtschaft in Arbeit zu bringen, würde dann in einer begrenzten Kapazität der Investitionsgüterindustrien wie Bau, Zement und Werkzeugmaschinen bestehen.

In jedem Fall wird viel vom Grad der Zuversicht abhängen, die durch die vorgeschlagene Erhöhung der Nachfrage hervorgerufen werden könnte. Es könnte sinnvoll sein langsam zu beginnen, mit einer Verringerung der Arbeitslosigkeit von etwa 0,5% im ersten Jahr, und diese dann bei gewonnenem Vertrauen auf 1% pro Jahr zu erhöhen.

Möglicherweise sollte die Wachstumsrate anschließend reduziert werden, etwa wenn man sich der Vollbeschäftigung nähert, um der zunehmenden Schwierigkeit, passende Arbeitnehmer für offene Stellen zu finden, zu entgehen. Es ist vor allem in den späteren Phasen der Annäherung an die Vollbeschäftigung möglich, dass Ausbildung und Verbesserung der Organisation des Arbeitsmarktes erforderlich sein können. Angesichts der Politik der Aufrechterhaltung einer festen NAIRU sind dagegen „Workfare“-Bemühungen zur Umschulung und Unterstützung von Sozialhilfeempfängern nichts anderes als grausame Variationen des altbekannten Spiels „Reise nach Jerusalem“.

Eine solche NAIRRU dürfte sich als wenig volatil erweisen und schwierig vorherzusagen sein, und in jedem Fall könnte es sich als wünschenswert herausstellen, die Vollbeschäftigung etwas schneller zu erreichen, als es mit einer unveränderten NAIRRU zulässig wäre.

Dies würde die Einführung neuer Mittel zur Kontrolle der Inflation erfordern, die keine Arbeitslosigkeit benötigen um wirksam zu sein. Und tatsächlich, wenn wir die drei wichtigsten makroökonomischen Dimensionen der Wirtschaft kontrollieren wollen, nämlich die Inflationsrate, die Arbeitslosenquote und die Wachstumsrate, benötigen wir eine dritte Steuerung, die vernünftigerweise nicht linear in ihren Wirkungen mit denen einer Fiskalpolitik sein wird, die mit der Generierung des verfügbaren Einkommens auf der einen Seite, sowie der durch die Zinsen betriebenen Geldpolitik auf der anderen Seite arbeitet.

Was erforderlich sein kann, ist ein Verfahren der direkten Kontrolle der Inflation, welches die Anpassungen des freien Marktes mittels der relativen Preise nicht beeinträchtigt oder auf die Arbeitslosigkeit aufbaut, um die Inflation unter Kontrolle zu halten.

Ohne eine solche Kontrolle werden unvorhergesehene Änderungen in der Inflationsrate nach oben oder unten auch weiterhin die Wirtschaft plagen und die Planungen für Investitionen schwierig machen. Der Versuch, die drei Hauptkomponenten eines Wirtschaftssystems mit nur zwei Instrumenten zu steuern ähnelt dem Versuch, ein Flugzeug mit Höhen- und Seitenruder aber ohne Querruder fliegen zu wollen; bei ruhigem Wetter und einer ausreichenden V-Stellung der Tragflächen kann man das durchaus bewältigen, wenn die Kurven sehr vorsichtig geflogen werden, aber der Versuch, bei Seitenwind zu landen dürfte in einem Absturz enden.

(Grundlage dieser Reihe ist der Artikel 15 Fatal Fallacies of Financial Fundamentalism von William Vickrey)