Das Auspressen der amerikanischen Mittelschicht ist leider keine Erfindung

Benjamin Disraeli hat angeblich einmal gesagt: „Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken.“

WSTM Team Dustizeff 0045
Stop-Schild mit Graffiti in Manhattan, New York City

Ja, es existiert eine statistisch hohe Wahrscheinlichkeit, dass Disraeli sich nicht selbst so geäußert hat, sondern dass ihm dieser Satz von Mark Twain untergeschoben wurde – doch wenn man über irreführende Argumente schreibt, hat es eine gewisse Ironie, mit einem falsch zitierten Zitat zu beginnen.

Heute geht es um die dritte Komponente von Disraelis Formulierung im Zusammenhang mit einem kürzlich erschienenen Artikel im National Review mit der Überschrift „Vom Mythos der stagnierenden Mittelklasse“. Der Artikel merkt an, dass „heute mehr Amerikaner besser leben als in den vergangenen Jahren“. Für regelmäßige Leser ist dies eine übliche Variante der Behauptung, dass „das gemeine Volk heute besser lebt als die Könige in früheren Zeiten“, ein Ausspruch, der schon vor zwei Jahren nicht richtig war.

Das derzeitige Argument ist insofern nuancierter, als es a) sich auf einige statistische Verdrehungen stützt; b) Aussagen enthält, die zwar wahr sind, aber die eigentliche Behauptung nicht unterstützen; und c) es als ein Argument gegen den Populismus von Donald Trump und der politischen Rechten erscheint. Insgesamt hat es das allgemeine Aussehen von Plausibilität, bis man anfängt tiefer zu graben.

Und hier setzen wir dann mal an: Beginnen wir mit der Behauptung, dass heute mehr Amerikaner besser leben als in den vergangenen Jahren. Das ist an sich wahr und auch fast immer so gewesen. Der Fortschritt ist die übliche Norm der Menschheit, seitdem unsere Vorfahren von den Bäumen herunterkamen und aufrecht durch die afrikanische Savanne gingen.

So kann es auch nicht verwundern, dass der Lebensstandard für alle Amerikaner seit vielen Jahren steigt, vor allem wegen der technologischen Weiterentwicklung. Doch das Hauptthema der derzeitigen Diskussion ist eher die Aufteilung der wirtschaftlichen Vorteile der US-Wirtschaft innerhalb der Bevölkerung. Mit anderen Worten, es geht eigentlich darum, wie letztlich der gesellschaftliche Reichtum verteilt wird. Die National Review greift aber zu einer statistischen Taschenspielerei, um davon abzulenken.

Für weitere Einsichten dazu lausche man Salil Mehta, der in Columbia und Georgetown lehrt und für seine Rolle als treibende ökonomische Kraft hinter dem 700 Mill. $ TARP-Banken-Rettungsplan in der Finanzkrise bekannt ist.

Mehta machte kurzen Prozess mit dem Inhalt dieses Artikels:

Dieser Beitrag ist eine krude Mischung aus einigen wenigen echten Fakten und vielen fantasievollen „Argumentationen“, durch diese einseitige Art der Rosinenpickerei werden Statistiken extrem unsicher für politische Entscheidungen. Das Hauptproblem mit diesem Stück aber ist, dass es die Daten kontinuierlich so vermischt und anpasst, dass sie in eine bestimmte schicksalhafte Erzählung passen.

Mehta stellte ferner fest, dass die Argumente der National Review sich in einigen Fällen auf verschiedene Klassen von Amerikanern (wie etwa Minderheiten und Immigranten) bezogen, während sie an anderen Stellen aus der Statistik ausgeschlossen wurden. Diese Art der Vorsortierung von Daten stellt eigentlich immer ein absolutes No-Go dar.

Betrachtet man dagegen, wie das Pew Research Center in seinem großen Forschungs-bericht „Die amerikanische Mittelschicht verliert an Boden“ arbeitet: Die Abhandlung, die auch in dem National-Review-Artikel eine Rolle spielt, analysiert die aktuellen Bevölkerungsumfragen von 1971 bis 2015. Dabei wird auf Daten aus dem Bureau of Labor Statistics zurückgegriffen, die als etablierte Standards für die Datenverwaltung und empirische Vergleiche gelten.

Vielleicht ist es dabei am besten, die wichtigste Feststellung mit zwei aussagekräftigen Diagrammen aus dem Bericht zu unterstreichen. Hier ist das erste, welches zeigt, dass das Einkommens-wachstum der Mittelschicht hinter dem der Oberschicht zurückgeblieben ist:


Die amerikanische Mittelklasse verliert an Boden

Die zweite Grafik macht deutlich, dass sich die Reichtumslücke zwischen den oberen und mittleren Klassen auch nach den Verlusten der Finanzkrise deutlich ausgeweitet hat:


Die Wohlstandslücke zwischen Oberschicht und Mittelschicht wächst

Bewährte Praxis in solchen Fällen heißt, die ursprüngliche Datenquelle heranzuziehen, aus ihr konsistent zu zitieren und zu analysieren, unabhängig davon, ob das Ergebnis die eigene Überzeugung unterstützt.

Wie schon erwähnt, gibt es durchaus viele Gründe, mit der derzeitigen wirtschaftlichen Erholung nicht wirklich glücklich zu sein: sie ist von der Geographie, den Industriezweigen und dem Bildungsniveau her lausig und ungleichmäßig verteilt. Vieles davon hat Menschen geschadet, die einst zur Mittelklasse gezählt wurden. Hinzu kamen die jahrzehntelangen Auswirkungen von Automatisierung, Globalisierung und des Rückgangs der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer, zusammen bedeutete dies alles für die Mittelschicht jahrelange wirtschaftliche Stagnation.

Doch nicht nur die Stagnation von Löhnen und Wohlstand bestimmen das Maß der bürgerlichen Angst. Auch die Inflation und ihre Komponenten spielen dabei eine Rolle. Die Preise für Dinge, die wir haben wollen sind gesunken, während die Kosten für die Dinge, die wir unbedingt benötigen ansteigen. Mobiltelefone, Computer und Flachbildfernseher sind besser und Dollar-für-Dollar günstiger als jemals zuvor. Das gleiche gilt für Autos, die in ein paar Jahren wahrscheinlich selbst fahren werden.

Doch das sind zumeist Konsumgegenstände. Wenn es um die Grundbedürfnisse geht, ergibt sich eine andere Geschichte. Immobilien sind trotz der Krise von 2008-09 weiterhin teuer. Die Wohnungsmieten sind gestiegen, als das Wohneigentum zurückgegangen ist. Die Bildungskosten in den USA sind in den Himmel geschossen und zeigen keine Anzeichen einer Verlangsamung. Die Krankenversicherungskosten und Ausgaben für Medikamente gehören ebenfalls zu den am schnellsten steigenden Konsumausgaben.

Der National-Review-Artikel schließt mit den Worten: „Die Regierung kann dieses Problem nicht beheben, denn dieses Problem existiert eigentlich nicht wirklich.“

Das Wünschen, dass ein Problem nicht existiert, lässt es aber nicht verschwinden. Doch es bietet einen Einblick, warum die Republikanische Partei von dem Aufstieg von Donald Trump und seinen populistischen Appellen so kalt erwischt wurde. Es erscheint keineswegs so, als ob die Partei-Elite kurzsichtig gewesen sei, sondern sie fabrizierte aktiv eine Filterblase, in der gegensätzliche Informationen nicht erlaubt waren. Die beunruhigende Sache ist aber die, dass sich in der GOP seitdem immer noch nichts geändert hat.

Die Angst der Mittelschicht hat sich über mehr als ein Jahrzehnt aufgebaut und vermischte sich bei der letzten Wahl mit einem allgemeinen Gefühl der Frustration über Amerikas Führungsklasse. Kein Wunder also, dass die Mittelschicht sich ausgepresst fühlt – weil es schlicht wahr ist.

(eigene Übersetzung eines Beitrages des amerikanischen Wirtschaftsjournalisten Barry Ritholtz)