„Die kommenden Jahre sind von erheblichen Herausforderungen gekennzeichnet, die die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands prägen werden. Dazu zählen vor allem die demografische Entwicklung, geopolitische Verschiebungen sowie die Dekarbonisierung. Zugleich liegen in neuen Technologien und in der Transformation hin zur Klimaneutralität perspektivisch erhebliche Chancen, die es klug zu nutzen gilt.
Robert Habeck auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Partei
Bündnis 90/Die Grünen 2024 in Wiesbaden
Die Bundesregierung greift in ihren aktuellen Berichten zur Finanz- und Wirtschaftspolitik, wie etwa dem Jahreswirtschaftsbericht, den Begriff der Angebotspolitik auf und knüpft damit bewusst an eine über Jahrzehnte geführte Diskussion zur Ausrichtung der makroökonomischen Rahmenbedingungen an. Hierbei geht es nicht um eine Verengung der Wirtschaftspolitik auf Angebotspolitik, sondern um eine zeitgemäße Interpretation angebotspolitischen Denkens im Sinne einer Sozial-ökologischen Marktwirtschaft.“ – aus BMWK: Zeit für eine transformative Angebotspolitik
Angesichts der aktuellen Rezession und der bedrohlichen Entwicklungen um Thyssenkrupp fallen mir wieder jede Menge Gründe ein, warum eine Angebotspolitik, auch wenn sie „transformativ“ sein soll, nicht weiterhelfen kann.
Nicht zu vergessen, es handelt sich dabei wieder einmal um die neoklasissche Variante des Sayschen Theorems, nachdem sich jedes Angebot automatisch seine Nachfrage schaffe. Dieses international auch Say’s Law genannte Theorem ist einer der Grundsätze der Angebotspolitik, nach der Wachstum und Beschäftigung in einer Volkswirtschaft in erster Linie von den Kosten der Unternehmensseite abhängen.
Wie die Bundesregierung um Robert Habeck weisen auch die neoklassischen Theoretiker dem Say-schen Gesetz einen generelle und wortwörtliche Bedeutung zu: Der Satz „Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage selbst“ sei immer richtig.
In der Folge der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 war es neben dem Briten John May-nard Keynes auch der deutsche Ökonom Wilhelm Lautenbach, die mit ihren Arbeiten die generelle Bedeutung dieser Auslegung des Theorems anzweifelten und widerlegten.
Doch es bedarf gar nicht unbedingt genauer Kenntnisse über die Zusammenhänge zwischen dem gesamtwirtschaftlichen Unternehmergewinn und den Investitionen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Es reicht ein wenig gesunder Menschenverstand, um Say’s Ansichten über die Unmöglichkeit von Überproduktionskrisen aufgrund mangelnder Nachfragepläne ins Reich der Fabeln zu verweisen.
Einzelwirtschaftlich genügt ein aufmerksamer Besuch eines heutigen Supermarktes oder eines anderen großen Verkaufsmarktes. Wäre die klassische Ansicht richtig, so dürfte es keine Artikel geben, „die in den Regalen liegenbleiben“. Es bräuchte auch keine Rabattaktionen zu geben, mit denen die Kunden zum Kauf verführt werden sollen. Ebenso dürfte es keine verdorbenen Lebensmittel geben, die von den Verkäufern „entsorgt“ werden, weil sie niemand gekauft hat.
Nicht zu vergessen, dass die Bedeutung von Marketing und Werbung heute immer mehr zunimmt, mit der klaren Zielrichtung, bestimmte Produkte „an den Mann zu bringen“. Auch das wäre wohl in diesem Maße nicht notwendig, wenn der Automatismus von Say’s Theorem richtig sein soll.
Doch die eigentliche Bedeutung von Say’s Law soll ja auf der volkswirtschaftlichen Ebene liegen. Wie also sieht es dann in der Makroökonomie aus? Nun, auch hier reicht ein einfacher Blick zurück, diesmal mit ein paar Zahlen aus der Vergangenheit:
Ein guter Gradmesser wäre hier die Kapazitätsauslastung der deutschen Industrie. Dieser Wert pendelte im Zeitraum von 2008 bis 2013 zwischen 70 und 88 Prozent. Dem Sachverständigenrat zufolge aber ist eine Normalauslastung des Produktionspotenzials erst dann gegeben, wenn die vorhandenen Produktionsfaktoren zu 96,75 % ausgelastet sind.
Wie aber kann das sein, wenn doch das Saysche Gesetz behauptet, das Angebot schaffe sich die Nachfrage selbst? Wie können dann Kapazitäten nicht ausgelastet sein? Und warum sank die Auslastung im Zuge der Finanzkrise bis auf 70 Prozent?
Die neoklassische Erklärung dieses Phänomens kann da nicht weiterhelfen. Denn wieso sollte die Industrie ihr Angebot drosseln, wenn sie eigentlich davon ausgehen kann, dass sie sich um die Nachfrage nach ihren Produkten keine Gedanken machen muss?
Logischerweise bleibt hier als Antwort nur die Auswirkung einer mangelnden Nachfrage übrig. Denn nur wenn Produkte nicht ausreichend nachgefragt werden, werden auch die Produktionskapazitäten nicht ausgelastet.
Dieser einfache Vergleich zeigt schon ohne große Umstände die Fragwürdigkeit der generellen Gültigkeit der klassischen Auslegung von Say’s Gesetz.
Die Lösung für diese offensichtlich falsche Deutung der Aussagen von Jean-Baptiste Say findet man, wenn man sich anschaut, was er selbst damals gesagt und geschrieben hat:
Wenn der Produzent die Arbeit an seinem Produkt beendet hat, ist er höchst bestrebt es sofort zu verkaufen, damit der Produktwert nicht sinkt. Nicht weniger bestrebt ist er, das daraus eingesetzte Geld zu verwenden, denn dessen Wert sinkt möglicherweise ebenfalls. Da die einzige Einsatzmöglichkeit für das Geld der Kauf anderer Produkte ist, öffnen die Umstände der Erschaffung eines Produktes einen Weg für andere Produkte.
Jean Baptiste Say: A treatise on political economy (1803), S. 57
Danach wird klar, dass Say ursprünglich etwas ganz anderes aussagen wollte, als ihm später von den Anhängern der klassischen Lehre in den Mund gelegt wurde. Richtigerweise müsste die General-aussage seines Theorems nämlich lauten: „Jedes Angebot will sich seine Nachfrage schaffen“
Auf diesen entscheidenden Unterschied hatte auch Heiner Flassbeck bereits in seinem Buch Das Ende der Massenarbeitslosigkeit – Mit richtiger Wirtschaftspolitik die Zukunft gewinnen hingewiesen:
Er erläuterte die Bedeutung dieses Satzes dahingehend, dass jeder, der etwas anbiete, dies mit dem Wunsch täte, für sein Angebot auch selbst etwas zu erhalten, mit dem er seine eigene Nachfrage befriedigen könne. Dies bedeute dann aber auch, dass jeder, der im Sinne seines Konsums „glücklich“ sei, also keine Wünsche mehr habe, auch keine Notwendigkeit sehe, seine Arbeitskraft in irgendeiner Form in die Produktion einzubringen.
Flassbeck betonte auch, dass dieses Gesetz aber eben nicht bedeute, dass man für sein Angebot auch tatsächlich und immer automatisch etwas erhalte, mit dem dann der Wunsch, die eigene Nachfrage zufrieden stellen zu können, auch erfüllt wird.
Gibt es keine ausreichende marktwirksame Nachfrage, bedeutet dass nicht, dass es keine Konsum-wünsche gab und deshalb weniger angeboten wurde (wie es der oben erläuterten falschen klassischen Interpretation zufolge sein müsste), sondern dass im Gegenteil offenbar jemand unfreiwillig sein Angebot nicht absetzen konnte und nun mangels Einkommen nicht die eigentlich erwartete Nachfrage entwickeln kann.
Dabei ist es egal, ob es sich um Güter, die nun nicht mehr gekauft werden, oder um nicht genutzte Arbeitszeit handelt, die nun in Form von Arbeitslosigkeit ebenso nicht mehr produktiv genutzt wird. In beiden Fällen konnte der Wunsch, etwas als Angebot einzubringen, nicht erfüllt werden und gerade deshalb entwickelte sich die Nachfrage der umsonst Anbietenden nicht so wie erwünscht.
Dies stellt den entscheidenden Unterschied zur angebotstheoretischen Interpretation von Say’s Law dar. Im Gegensatz zur herrschenden Lehre sah Flassbeck schon damals einen allgemeinen und wechselseitigen Zusammenhang von Angebot und Nachfrage auch für die Gesamtwirtschaft. Er erteilte damit ihrer Begründung, sich nur um die Angebotsbedingungen kümmern zu müssen, da sich ja die Nachfrage daraus automatisch ergeben werde, eine klare Absage.
Auch aktuell sieht er keine besonders guten Gründe, mit einer „transformativen Angebotspolitik“ andere, bessere Ergebnisse erzielen zu können. Und die Wirklichkeit gibt ihm dabei offenbar recht.