Bereits in meinem ersten Beitrag zu dem „deutschen Keynes“ Wilhelm Lautenbach hatte ich auf die besondere Bedeutung der wirtschaftstheoretischen Arbeiten dieses frühen deutschen Ökonomen hingewiesen.
Da aber im Lichte der heutigen politischen Entwicklungen das bessere Verständnis für gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge dringender denn je erforderlich ist, habe ich mich dazu entschlossen, Lautenbachs Ansatz einer alternativen „Wirtschaftstheorie“ noch einmal etwas mehr zu „entstauben“ und hier ausführlicher zu thematisieren.
Theoretische Grundlagen
Wie immer in der Volkswirtschaftslehre ist am Anfang etwas Theorie notwendig, um die zu entwickelnden Zusammenhänge und Erkenntnisse besser verstehen und einsetzen zu können.
In dem nach seinem Tod veröffentlichten Werk Zins, Kredit und Produktion (PDF; 1,6 MB) sah Lautenbach in der ersten Ausgangsuntersuchung noch von den Auswirkungen staatlicher Wirtschaftstätigkeit ab und verwendete der Einfachheit halber das simple Modell einer geschlossenen Volkswirtschaft.
Teil 1: Unternehmereinkommen und Unternehmernachfrage
Zu den wichtigsten Annahmen der klassischen und der neoklassischen Theorie gehörte auch zu Lautenbachs Zeiten der Grundsatz, dass bei vollständiger Konkurrenz sich eine geschlossene Volkswirtschaft immer zu einem wirtschaftlichen Gleichgewichtszustand hin orientiere, bei dem alle produktiven Kräfte (Arbeit und Kapital) am besten genützt würden und daher die besten ökonomischen Ergebnisse erzielt würden.
Für den offensichtlichen und immer wieder auftauchenden Gegensatz der Konjunkturentwicklung und dem theoretischen Ansatz dieser Theorie gab es zwei Erklärungsansätze:
1. Man ging einfach davon aus, dass die Bedingung, unter der diese Prämisse gültig sei, nämlich der der vollständigen Konkurrenz, in einem solchen Falle dann nicht erfüllt sei.
Damit verliere das gesamte Wirtschaftssystem seine Anpassungsfähigkeit und die Möglichkeit, auf Störungen der Gleichgewichtstendenz korrekt reagieren zu können.
2. Durch die moderne Art des Geldes als Buchgeld und Banknote wäre das Wirtschaftssystem in seinem Ablauf entscheidend gestört, so dass durch Inflation und Deflation abwechselnd Hochkonjunkturen und Krisen auftreten würden.
Ähnlich wie John Maynard Keynes war Wilhelm Lautenbach der Ansicht, dass diese Sichtweise durch die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise 1928-30 praktisch unhaltbar geworden war.
Es hat des ökonomischen Erdbebens, das 1929 über die ganze wirtschaftliche Welt hereinbrach, bedurft, um wenigstens einige Theoretiker aus dem dogmatischen Schlummer zu wecken, der die ganze ökonomische Wissenschaft fester umfangen hielt als der Zauber, der Dornröschen und seine ganze Umgebung bannte.
Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 16
Trotzdem sind die Vertreter der neoklassischen Schule bis heute weiter davon überzeugt, daß die Neigung der Wirtschaft zum idealen Gleichgewicht, d. h. zum Gleichgewicht bei voller Beschäftigung existiert und deswegen wird die Politik des billigen Geldes und der öffentlichen Investition als Mittel der Krisenbekämpfung und Konjunkturdämpfung von ihnen abgelehnt.
Bereits Lautenbach war damals schon der Meinung, dass man diese Anschauung daher Punkt für Punkt analysieren und ihre Widersprüchlichkeiten, Tautologien und teils völlig imaginären Grundsätze besonders deutlich machen müsste.
Er begann damit bei der Definition des Unternehmergewinns, der auch der klassischen Theorie zufolge bei gegebenen Produktionsbedingungen durch ein steigendes Beschäftigungsvolumen aufgrund höherer Grenzkosten und dadurch steigender Preise entsprechend höher sein müsste.
Trotzdem wies ihm Lautenbach im Vergleich zur Klassik eine noch bedeutendere Funktion innerhalb seiner alternativen Wirtschaftstheorie zu.
Die traditionelle Theorie unterscheidet beim Unternehmereinkommen zwei Teile, nämlich den Unternehmerlohn und den Unternehmergewinn. Der Unternehmerlohn ist demnach bestimmt durch den Betrag, für den eine gleichwertige fremde Kraft zu engagieren wäre, die die eigentliche Unternehmertätigkeit im Betriebe übernehmen würde.
Der Unternehmergewinn wird in der Theorie als der sich aus der Leistungsfähigkeit des Betriebes ergebende Gewinn bezeichnet, der sich – bei gleichem Marktpreis – aus niedrigeren Stückkosten ergibt. Im klassischem Gleichgewicht stellen sich die Preise auf die Kosten des Grenzerzeugers ein, also desjenigen Unternehmers, der nur noch die Kosten und den Unternehmerlohn, aber keinen Gewinn mehr erwirtschaftet. Die mit niedrigeren Kosten produzierenden anderen Unternehmer erzielen dann einen entsprechend diesen geringeren Aufwendungen höheren Gewinn.
Die neoklassische Theorie erhebt dann die Behauptung, dass bei vollkommener Konkurrenz und neutralem Geld die Wirtschaft zur Tendenz neige, die vorhandenen Produktivkräfte komplett und vollständig zu nutzen.
Darstellung von Gesamtangebot und -nachfrage eines Produkts
Lautenbach aber zeigte die Probleme dieser Ansicht anhand der folgenden Grafik auf:
(Abbildung selbst erstellt)
Die Kurve CD zeigt hier die Kostenkurve aller Unternehmer, die auf einem großen Markt dasselbe Produkt anbieten, ausgehend von der Produktion mit den geringsten Kosten bei C und entsprechend denen mit weiter steigenden Kosten bis zum Punkt D. Diese Kurve ist damit auch gleichzeitig die Darstellung des Gesamtangebotes dieses Gutes.
Dem entgegengesetzt soll die Kurve AB die Gesamtnachfrage nach diesem Produkt zeigen. Der Schnittpunkt M verdeutlicht somit die Produktionsbreite, Punkt N stellt die Produktionsmenge und die Höhe NM die zu erzielenden Erlöse pro Stück dar.
Der graue Bereich zeigt dann den Unternehmergewinn an, der sich aus der Differenz der einzelnen Punkte der Kostenkurve CD und dem erzielbaren Preis (Punkt M) ergibt.
Diese Darstellung ist so oder ähnlich auch jedem heutigen BWL-Studenten geläufig, und solange es sich dabei um die Betrachtung des Gewinns bei der Produktion eines bestimmten Guts auf einem gegebenen Markt bei bekannter Nachfrage handelt, ist dagegen auch gar nichts einzuwenden.
Problematisch wird es aber dann, wenn von dieser einzelwirtschaftlichen Analyse auf die Gesamtheit aller Waren, also auf die Gesamtwirtschaft, geschlossen werden soll.
Das wird besonders deutlich, wenn man versucht, sich z. B. die einzelnen Angebotskurven für alle Verbrauchsgüter als eine Gesamtkurve vorzustellen. Nahezu unmöglich wird es aber dann, dazu eine Nachfragekurve zeichnen zu wollen.
Denn nach den Prämissen der klassischen Theorie kann man diese ja nicht als unabhängig von der Angebotskurve betrachten. Für die Gesamtnachfrage gilt nämlich das Saysche Theorem, dem zufolge die Nachfrage genau gleich dem Angebot ist.
Zirkelschluss bei der Darstellung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
Die Gesamtnachfrage nach Verbrauchsgütern ist aber hauptsächlich abhängig von dem Gesamteinkommen einer Volkswirtschaft, d. h. von dem Einkommen, welches insgesamt bei der Produktion dieser Güter sowie durch die Investitionen (damit sind alle anderen nicht verbrauchten Produkte gemeint) erzielt wird.
Während man nun davon ausgehen kann, dass die Kosten der Produktion (Löhne und Kapitalkosten) bekannt sind und damit auch das Einkommen der Beschäftigten insgesamt feststellbar ist, so gilt dies nicht für das Einkommen der Unternehmer, vor allem für den Unternehmergewinn.
Damit aber wird klar, dass die Darstellung der Gesamtnachfrage äußerst problematisch würde, denn im Gegensatz zur Angebotskurve könnte man eine Nachfragekurve ohne Kenntnis der gesamten Einkommen nicht einzeichnen. Somit wäre auch die Festlegung eines Produktions-Grenzpunktes nicht möglich.
Um dieses Problem zu umgehen, geht die neoklassische Theorie davon aus, dass aufgrund der immanenten Tendenz zur Vollbeschäftigung zumindest die Höhe der Beschäftigung bekannt sei.
Doch auch das hilft nicht weiter, da ja trotzdem die Höhe des Gesamteinkommens der Volkswirtschaft nicht bekannt ist, bzw. die Darstellung schon der Angebotskurve nahezu unmöglich wird, wenn man nicht die einzelnen Grenzpunkte für jedes Gut kennt, dessen Nachfrage in der einzelwirtschaftlichen Betrachtung als gegeben vorausgesetzt wird, was aber gesamtwirtschaftlich ja nicht der Fall sein kann.
Damit aber dreht sich die klassische Theorie völlig im Kreise, da man eine Größe als gegeben annimmt, deren Wert tatsächlich aber unbekannt ist.
Diesem erneuten Dilemma versucht sich die orthodoxe Lehre mit dem Hinweis auf die alleinige Gültigkeit ihrer Grundsätze unter der klar definierten Bedingung der vollkommenen Konkurrenz zu entziehen.
Lautenbach formulierte das treffenderweise so:
Wenn in der realen Wirtschaft Erscheinungen auftreten, die mit dem theoretisch abgeleiteten Reaktionsmechanismus in Widerspruch stehen, so liegt es nur daran, daß die Prämissen der Theorie nicht erfüllt sind, daß eine Datenkonstellation gegeben ist, mit der die Theorie nicht rechnet, wobei der strenge Theoretiker hinzufügen wird: und nicht zu rechnen braucht, weil diese Datenkonstellation sündhaft ist.
Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion (1952), S. 21
Gleichzeitig gab er sich aber nicht nur mit der Feststellung der offenbaren Unrichtigkeit der klassischen Lehrsätze zufrieden, er wies obendrein noch nach, dass es sich dabei auch um Tautologien ohne jeglichen weiteren Erkenntniswert handelte.
Eine Volkswirtschaft kann nie automatisch von allein wieder ein Gleichgewicht finden
So könne die Behauptung, die Volkswirtschaft würde sich bei vollkommener Konkurrenz automatisch auf ein Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung aussteuern, nichts anderes als ein Zirkelschluss sein, da das Unternehmereinkommen ja erst am Markt durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage festgelegt werde. Die Nachfrage insgesamt werde aber erst durch das Gesamteinkommen bestimmt.
Nähme man nun an, dass ähnlich wie bei der Nachfrage der Nichtunternehmer auch die Nachfrage der Unternehmer hauptsächlich von ihrem Einkommen bestimmt würde, so wäre das ganze System aber tatsächlich völlig unbestimmt, da ja das Einkommen der Unternehmer erst durch ihre Nachfrage ermittelbar wäre.
Damit aber wird auch klar, dass aufgrund der Unmöglichkeit, im Vorhinein das Gesamteinkommen der Unternehmer der Höhe nach festzulegen, eine Aussteuerung der Volkswirtschaft auf einen Gleichgewichtspunkt undurchführbar ist.
So wies Wilhelm Lautenbach bereits in den 1930er Jahren nach, dass die Behauptungen der orthodoxen Lehre, man dürfe nicht mit staatlicher Geldpolitik in den Konjukturverlauf eingreifen, da ja der Markt selbst für den notwendigen Ausgleich hin zu völliger Auslastung der Produktionsfaktoren und Vollbeschäftigung sorgen würde, jeglicher logischer Grundlage entbehren.
Die Darstellung der von Lautenbach vollzogenen Berechnungen in mathematischen Formeln ist dann Gegenstand des zweiten Beitrags.