Über eine „neue“ strukturierte Ökonomie

Bietet die ökonomische Theorie so etwas wie ein konkretes Paket verlässlicher Strategien zur Schaffung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums in einem sogenannten „Middle-Income“-Staat?


Blick in eine Fabrikhalle in Indonesien

Einige zeitgenössische Ökonomen sind der Ansicht, dass es möglich ist, diese Frage positiv zu beantworten. Allerdings sollte man hinterfragen, ob dieses Vertrauen tatsächlich gerechtfertigt erscheint.

Einer dieser Wirtschaftswissenschaftler ist Justin Yifu Lin. Lin gilt als einer der führenden chinesischen Volkswirte, der zudem 2008-2012 auch als Chefökonom bei der Weltbank tätig war. So konnte sich Lin ein umfangreiches Wissen über die Erfahrungen der Entwicklungs-länder und ihre Bemühungen zur Erzielung eines nachhaltigen Wachstums erwerben.

Er glaubt, dass die Antwort auf die oben gestellte Frage „ja“ sei, und er legt die zentralen Komponenten einer solchen Politik in einem Rahmen dar, den er als „neue Struktur-ökonomie“ bezeichnet. Seine Analyse hat er mit der Studie New Structural Economics: Eine Struktur für ein Umdenken bei Wachstum und Politik vorgelegt (auch als Buch im PDF-Format bei der Weltbank direkt erhältlich).

Lins Analyse soll für alle Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen relevant sein (z. B. Brasilien, Nigeria oder Indonesien); doch primär bezieht sie sich vor allem auf China. Seine Frage stellt sich demnach hauptsächlich so: Welche Schritte muss der chinesische Staat unternehmen, um aus der „mittleren Einkommensfalle“ auszubrechen und das Pro-Kopf-Einkommen im Land bis zur Höhe der Staaten mit hohen Einkommen in der OECD zu steigern?

Was sind also die Kernprinzipien von Lins Analyse des nachhaltigen Wirtschafts-wachstums? Zwei der grundlegendsten: Der Markt sollte die Preise bestimmen, und der Staat sollte intelligente Strategien und Investitionen einsetzen, um die „richtige Art“ der Innovation in der Wirtschaftstätigkeit im Land zu fördern. Hier ist eine erweiterte Beschreibung der Kernansprüche des Buches:

Langfristig nachhaltiges und integratives Wachstum ist die treibende Kraft für die Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern und für die Konvergenz mit den Industrieländern. Die gegenwärtige globale Krise, die schwerwiegendste seit der Großen Depression, fordert ein Umdenken der ökonomischen Theorien.

Es ist daher eine gute Zeit für Ökonomen, auch die Entwicklungstheorien neu zu untersuchen. Dieses Papier diskutiert die Evolution des Denkens über Wachstum seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und stellt eine grundlegende Struktur vor, um es Entwicklungsländern zu ermöglichen, ein nachhaltiges Wachstum zu erreichen, die Armut zu beseitigen und die Einkommenslücke zu den entwickelten Ländern zu verkleinern. Der vorgeschlagene Rahmen, ein neoklassischer Ansatz zur Strukturierung und Veränderung des Prozesses der wirtschaftlichen Entwicklung (kurz: neue Strukturökonomie) basiert dabei auf folgenden Ideen:

Erstens entwickelt sich die Struktur der Faktorausstattung einer Volkswirtschaft von einer Entwicklungsstufe zur nächsten. Daher wird die industrielle Struktur einer bestimmten Wirtschaft auf verschiedenen Ebenen der Entwicklung auch unterschiedlich sein. Jede industrielle Struktur erfordert eine entsprechende Infrastruktur (sowohl materiell als auch immateriell), um ihre Operationen und Transaktionen zu fördern.

Zweitens stellt jedes Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung einen Punkt entlang des Kontinuums von einer einkommensschwachen agrarischen Wirtschaft zu einer hochindustriellen Ökonomie mit hohen Einkommen und keine Aufteilung in zwei ökonomische Wachstumslevel („arm“ versus „reich“ oder „aufkommend“ gegen „industrialisiert“) dar. Industrielle Modernisierungs- und Infrastrukturverbesserungsziele in Entwicklungsländern sollten nicht unbedingt aus den bereits in Ländern mit hohen Einkommen bestehenden entworfen werden.

Drittens ist der Markt auf jeder gegebenen Entwicklungsstufe der grundlegende Mechanismus für eine effektive Ressourcenallokation. Die wirtschaftliche Entwicklung als dynamischer Prozess beinhaltet jedoch strukturelle Veränderungen, die eine industrielle Modernisierung und entsprechende Verbesserungen der „harten“ (greifbaren) und „weichen“ (immateriellen) Infrastrukturen auf jeder Ebene mit sich bringen.

Solche Verbesserungen und Steigerungen erfordern eine inhärente Koordination mit großen Externalitäten gegenüber Transaktionskosten und Kapitalerträgen der Unternehmen. Daher sollte die Regierung neben einem wirksamen Marktmechanismus eine aktive Rolle bei der Erleichterung struktureller Veränderungen spielen. (S. 14-15)

Ein Staat muss also die Voraussetzungen für gut funktionierende Märkte sichern; und unbedingt eine industrielle Strategie etablieren, die durch eine sorgfältige empirische Analyse der komparativen Vorteile dieses Landes im globalen wirtschaftlichen Umfeld geleitet wird.

In der Praxis scheint diese Idee dann darauf hinauszulaufen, dass die Ökonomien mit den mittleren Einkommen die untergehenden Industrien der führenden Volkswirtschaften identifizieren und mit diesen auf der Grundlage von Arbeitskosten und „Mid-Level“-Technologie konkurrieren sollten.

Lin unterstreicht auch die wichtige Rolle des Staates bei der Bereitstellung geeigneter Infrastrukturinvestitionen zur Unterstützung der gewählten Industriestrategie. Dabei handelt es sich um eine „strukturelle ökonomische Theorie“, weil sie von der Vorstellung geleitet wird, dass eine wachsende Wirtschaft einen strukturellen Wandel aus einer bestimmten Mischung von Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistung benötigt, um schrittweise einen Nachfolgemix auf der Grundlage der Ressourcen dieses Landes zu erreichen, damit ein Vorteil in einem bestimmten Satz von Technologien und Produktionstechniken hergestellt werden kann. Hier eine repräsentative Aussage:

Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsstand haben aufgrund ihrer Divergenzen verschiedene ökonomische Strukturen. Die Faktorausstattung für Länder auf einer frühen Entwicklungsstufe sind typischerweise durch eine relative Knappheit des Kapitals und der relativen Fülle von Arbeit oder Ressourcen gekennzeichnet.

Ihre Produktionsaktivitäten sind in der Regel arbeitsintensiv oder ressourcenintensiv (meist in der Subsistenzlandwirtschaft, Viehzucht, Fischerei und im Bergbau) und setzen in der Regel auf konventionelle, ausgereifte Technologien und produzieren „reife“, gut etablierte Produkte.

Abgesehen von Bergbau und Plantagen verfügt ihre Produktion nur über begrenzte Skalenerträge. Ihre Firmen sind in der Regel relativ klein, mit oft nur informellen Markttransaktionen auf lokalen Märkten begrenzt auf vertraute Menschen. Die für die Erleichterung dieser Art von Produktion und Markttransaktionen erforderliche harte und weiche Infrastruktur ist begrenzt und relativ einfach und rudimentär. (S. 22)

Einige gemeinsame Entwicklungsstrategien entsprechen nicht diesen Ideen. So ist z. B. die Importsubstitution eine schlechte Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung, weil sie den Markt untergräbt und die Anlagestrategien des Staates und des privaten Sektors verzerrt; sie scheitert daran, die vorhandene Wirtschaft dieses Landes auf einen Weg zu leiten, der einen inkrementellen komparativen Vorteil verfolgt (S. 18).

Was diese Analyse völlig unterschlägt und außen vor lässt, ist das Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung – die Verbesserung des menschlichen Wohlergehens. Tatsächlich erscheint dieses Wort nicht ein einziges Mal im gesamten Buch. Und ebenso fehlt die Entwicklungsperspektive von Amartya Sen aus seiner Theorie über Potentiale und realisierte Erkenntnisse völlig.

Das erscheint sehr bedauerlich, denn es bedeutet, dass dieses Buch nicht auf das wichtigste Thema in der Entwicklungsökonomie eingeht: was eigentlich das fundamentale Gut der ökonomischen Entwicklung sein soll und wie wir dieses Gut am besten erreichen können.

Sens Antwort besteht daraus, dass das fundamentale Gut die Erhöhung des Wohlbefindens der Weltbevölkerung sei; er interpretiert dieses Ziel in Bezug auf seine Idee des menschlichen Gedeihens. (Sens Theorie des wirtschaftlichen Wachstums gibt es beispielsweise hier Entwicklung als Freiheit. Es gibt zudem eine aktuelle Stellungnahme von Sen, Stiglitz und Fitoussi darüber, warum das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und damit auch das Wachstum des BIP nur unzureichende Maßstäbe für den Fortschrittserfolg darstellen: Die fehlerhafte Vermessung unserer Existenz: Warum das BIP nicht steigt).

Sens fundamentale Sicht ist diese: das wichtigste Ziel, das ein Staat haben kann, sei es, eine Politik zu schaffen, die die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten seiner Bevölkerung erhöht.

Insbesondere sollten soziale Ressourcen eingesetzt werden, um Bildung, Gesundheit, Wohnsituation und persönliche Sicherheit zu verbessern. In solch einer Umgebung können Einzelpersonen die vollste Zufriedenheit für ihre Lebensziele erreichen; gleichzeitig können sie zudem produktivste Beiträge zu Innovationen und Wachstum in ihren Gesellschaften darstellen. Gut ausgebildete und gesunde Menschen sind ein wesentlicher Bestandteil des wirtschaftlichen Erfolges eines Landes. Doch Lin bezieht sich ausdrücklich überhaupt nicht auf diese Faktoren der „Lebensqualität“ (eine weitere Formulierung, die nicht in seinem Buch genannt wird).

Noch weniger löst die Theorie von Lin jene Probleme, die von „Post-Development“-Denkern wie Arturo Escobar in der Begegnung mit der Entwicklung: Über das Entstehen und Verschwinden der Dritten Welt aufgeworfen werden. Escobar fordert einige der grundlegendsten Annahmen der klassischen ökonomischen Entwicklungstheorie heraus, beginnend mit der Vorstellung, dass die strukturelle Transformation in der Industrie der einzige Weg sei, die Prosperität der Menschen in der weniger entwickelten Welt zu verwirklichen.

Escobars Kritik beinhaltet mehrere Ideen. Erstens die Beobachtung, dass die ökonomische Entwicklungstheorie seit 1945 eurozentrisch und implizit kolonial sei, da sie von exotisierten Darstellungen des industrialisierten Nordens und des traditionellen landwirtschaftlichen Südens abhänge.

Gegen diese koloniale Repräsentation der globalen Entwicklung unterstreicht Escobar die Notwendigkeit eines mehr ethnographischen und kulturellen Entwicklungsverständnisses. Zweitens bringt diese eurozentrische Sichtweise einige entscheidende Implikationen für die Verteilung mit sich – im Wesentlichen, dass die Ressourcen und die Arbeitnehmer der Entwicklungsländer weiterhin einen Teil des Überschusses ausmachen sollten, der den Wohlstand des Nordens unterstützt. Drittens wirft Escobar Zweifel am Nutzen von Entwicklungs-„experten“ bei der Gestaltung von Entwicklungsstrategien für arme Länder im Süden auf (S. 46).

Lokales Wissen ist ein wichtiger Teil des gesunden wirtschaftlichen Fortschritts für Länder wie Nigeria, Brasilien oder Indonesien; Doch die Entwicklungsprofession versucht lokales Wissen durch Expertenwissen zu ersetzen. So hebt Escobar die lokale Erfahrung, die Bedeutung der Kultur sowie die Bedeutung der Selbstbestimmung in Theorie und Politik als Schlüsselbestandteile eines nachhaltigen Plans für die wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern des postkolonialen Südens hervor.

Warum sind diese alternativen Ansätze zur Entwicklungstheorie so wichtig? Warum ist das Fehlen einer Diskussion über das Wohlergehen, Gedeihen oder die Kultur der Dritten Welt eine wichtige Lücke in den New Structural Economics? Weil sich ansonsten eine Sicht auf die wirtschaftliche Entwicklung ergibt, die keinen Kompass mehr hat.

Denn wenn wir nicht genau darüber nachgedacht haben, was das Ziel der Entwicklung sein soll – und Sen zeigte durchaus, dass dies möglich ist -, dann werden wir nur durch eine Reihe von Empfehlungen geleitet: Steigerung der Produktivität, Steigerung der Effizienz, Steigerung der Durchdringung der Märkte, Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens.

Aber die Tatsache eines erheblichen Anstiegs der wirtschaftlichen Ungleichheiten durch einen Wachstumsprozess bedeutet auch, dass es sehr gut möglich sein kann, dass nur eine Minderheit der Bürger davon betroffen sein wird. Und der Umstand, dass ein typisches Familieneinkommen um 50% gestiegen sei, kann weniger wichtig für das gesamte Wohlbefinden sein als die Verfügbarkeit einer nahe gelegenen Klinik.

Genau diese beiden Überlegungen scheinen im Falle Chinas von erheblicher Bedeutung zu sein. Es ist gut dokumentiert, dass es einen erheblichen Anstieg der Ungleichheiten bei den chinesischen Einkommen (und Reichtümern) in den letzten dreißig Jahren gab (Link). Und es ist auch einigermaßen klar, dass Chinas Engagement für die soziale Absicherung weit unter dem der OECD-Länder liegt. Damit erscheint China aber auch weit davon entfernt, durch die jüngste Wachstumsphase eine wirklich proportionale Verbesserung der Lebensqualität und der menschlichen Blüte für die Masse ihrer Bevölkerung erreicht zu haben (Link).

Die unbestätigte Annahme für Länder, die diesen Rezepten folgen (Beibehaltung effizienter Märkte; Verfolgung einer industriellen Strategie, die Verschiebungen des komparativen Vorteils präzise nachbildet, Unterstützung von Investitionen in eine angemessene Infrastruktur zur Senkung der Transaktionskosten) verspricht langfristig ein überdurchschnittliches Wachstum sowie die Gewährleistung von wesentlichen Verbesserungen in der Lebensqualität ihrer Bürger.

Doch das ist nichts als naives Vertrauen in die sogenannte „Trickle-down“-Ökonomie. Es ignoriert völlig das Problem der Wahrscheinlichkeit steigender wirtschaftlicher Ungleichheiten, und es liefert keine detaillierte Analyse, wie die Lebensqualität und das menschliche Wohlbefinden ansteigen sollen. Eine Entwicklungsökonomie ohne Ausblicke auf Potentiale und das Wohlergehen der Bevölkerung ist inhärent unvollständig; schlimmer noch, es stellt einen schlechten Leitfaden für politische Entscheidungen dar.

(eigene Übersetzung eines Blogbeitrages des amerikanischen Philosophen Daniel Little)