Die makroökonomische Bedeutung des gesetzlichen Mindestlohns

Mit dem Problem der Mindestlöhne und ihrer angeblichen individuellen Produktivität habe ich mich ja schon einmal im Rahmen dieses Blogs beschäftigt.

Hier soll es nun noch mehr um die gesamtwirtschaftliche Bedeutung des gesetzlichen Mindestlohnes gehen und warum die einzelwirtschaftliche Argumentation dagegen meistens zu kurz greift. Dazu gehören dann auch die Gründe, weshalb er generell staatlichen Transferzahlungen wie z. B. einem Kombilohn-Modell vorzuziehen ist.

Oft wird argumentiert, dass es doch sinnvoller sei, sehr niedrige Löhne durch staatliche Transfers aufzustocken. Denn wenn eine Arbeitskraft aufgrund ihrer spezifischen Produktivität nicht höher bezahlt werden könnte, wäre durch die Einführung eines Mindestlohnes oberhalb dieser Produktivitätsrate der Arbeitgeber zur Kündigung eben dieser Arbeitskraft gezwungen.

Dass sich in der heutigen Gesellschaft aufgrund der allgemein praktizierten Arbeitsteilung eine individuelle Produktivität nur in Ausnahmefällen überhaupt ermitteln läßt und deren Festlegung in Geldeinheiten absolut unüblich geworden ist, hatte ich in dem oben verlinkten Beitrag bereits festgehalten.

Doch es gibt auch noch weitere Gründe, warum es beim gesetzlichen Mindestlohn vor allem auf seine allgemeine Bedeutung für die Gesamtwirtschaft ankommt.

Wegbrechen einfacher Tätigkeiten durch den technischen Fortschritt
So ist klar ersichtlich, dass einfache Arbeiten in einer Marktwirtschaft am ehesten wegrationalisiert werden, völlig unabhängig davon, wie hoch die Entlohnung auf Dauer ist oder sein wird.

Es ist z. B. in der Landwirtschaft absolut unwahrscheinlich, dass der Einsatz moderner Großgeräte wie Mähdrescher u. ä. durch die erhöhte Beschäftigung von Pflückern oder Pflanzern jemals hätte verhindert werden können, selbst wenn die Stundenlöhne noch so niedrig gewesen wären.

Solange aber für eine Arbeit noch keine Rationalisierungsmöglichkeit entwickelt worden ist und diese Arbeit für die Produzierung eines Guts unbedingt erforderlich ist, so muss sie auch in dem Ausmaß gemacht werden, wie dieses Produkt nachgefragt wird.

Dies impliziert dann aber auch, dass derjenige, der diese Arbeit verrichtet, auch ohne Wenn und Aber davon leben können muss, auch ohne staatliche Zuschüsse. Es ist nämlich auf Dauer vergeblich, sich mittels Lohnsubventionen gegen den (notwendigen) Strukturwandel in einer arbeitsteiligen Gesellschaft wehren zu wollen, denn der technische Fortschritt führt automatisch zum Aussterben eben dieser Berufe.

Allgemein anerkannt und gutgeheißen wurde das Verdrängen vieler niedrig qualifizierter Berufsbilder in den Phasen der steigenden Konjunktur der 50er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Damals kam keinem der Einfall, diese einfachen Arbeitsplätze durch Niedriglöhne erhalten und damit die technische Weiterentwicklung ausbremsen zu wollen.

Diese Diskussion kam erst zum Zuge, als sich nach Ölpreiskrisen und später nach der Wiedervereinigung aufgrund falscher Wirtschaftspolitik das Niveau der Arbeitslosigkeit nicht mehr auf das vorherige Niveau abbaute. Je länger diese Situation andauerte, umso mehr wurde die einzelwirtschaftliche Erklärung der Lohnhöhe als wichtigste Ursache der Massenarbeitslosigkeit in der breiten Öffentlichkeit akzeptiert.

Gesamtwirtschaftlich aber sind die Zusammenhänge, die infolge von Ölpreisschocks und Strukturwandeln zusammen mit Lohn- und Geldpolitik sowie dem Einwirken von Wechselkursänderungen zu Erwerbslosigkeit führen, wesentlich komplexer.

Der makroökonomische Marktmechanismus bei Arbeitslosigkeit
Bei fortdauernder Arbeitslosigkeit sind die Arbeitnehmer mit der geringsten Qualifizierung aufgrund des technischen Fortschritts immer die am meisten betroffene Gruppe. Daher ist eine weiterführende Aus- und Weiterbildung durchgehend sinnvoll, aber zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit aufgrund gesamtwirtschaftlicher Nachfrageschwäche allein nicht ausreichend.

Denn Bildung an sich, so wichtig sie für den einzelnen, die Gesellschaft und die Volkswirtschaft auch sein mag, schafft keine Arbeitsplätze. Und wenn es zu wenige Arbeitsplätze gibt, wird auch eine Bildungsexpansion nicht viel nützen.

Da ein wirtschaftlicher Abschwung eben grundsätzlich die relativ am wenigsten Qualifizierten treffen würde, könnte das insgesamt gestiegene Ausbildungsniveau der Bevölkerung die Rezession und den folgenden Anstieg der Arbeitslosigkeit trotzdem nicht aufhalten. Es wären lediglich die Arbeitnehmer betroffen, die trotz gestiegener individueller Qualifikation immer noch das niedrigste Eignungsniveau darstellen würden.

Allein die Lohnhöhe auf dieser Befähigungsschiene wäre für diese negative Entwicklung nicht verantwortlich, eine Senkung daher nicht hilfreich bzw. noch rezessionsverschärfend, da die gesamtwirtschaftliche Nachfrage weiter nachlassen würde.

Da bei andauernder Arbeitslosigkeit der rationale (einzelwirtschaftliche) Marktmechanismus dazu tendiert, zur Erhaltung von Beschäftigung Arbeit/Produkte billiger anzubieten, gerät das Lohnniveau logischerweise unter Druck. Es gibt dabei aus diesem Mechanismus heraus keine eigene Grenze nach unten. Ganz im Gegenteil, wenn durch die Politik keine Eingrenzung dieser Entwicklung erfolgt, ist dieser Prozeß nicht ohne Weiteres noch aufzuhalten, da auch die Gewerkschaften dazu nicht mehr die nötige Verhandlungsmacht besitzen werden.

Die stabilisierende Rolle der Wirtschaftspolitik
In einer solchen Phase (in der sich auch Deutschland nun schon seit längerem befindet) ist letztendlich nur die Politik in der Lage und fähig, durch einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn diesem Mechanismus Einhalt zu gebieten.

Erstaunlicherweise ist dies im entgegengesetzten Fall, also bei einer sogenannten Boomphase, auch überhaupt nicht strittig. Es wird als allgemein akzeptiert angenommen, dass die Politik das Marktgeschehen während einer überbordenden Entwicklung nicht allein lassen darf, da es ansonsten zu einer sich ständig weiter befeuernden Inflation kommen würde.

Mit der Geldpolitik können dann die Leitzinsen erhöht werden, um die Sachinvestitionen in Schach zu halten. Diese Methode wurde z. B. von der Bundesbank in der Vergangenheit häufig angewendet. Ebenso haben die Gewerkschaften lernen müssen, in solchen Phasen ihre Forderungen auch unter dem wirtschaftlich Möglichen zu halten, um nicht die Zinskeule der Geldpolitik riskieren zu wollen.

Es ist also völlig klar, dass die Politik in solchen Fällen auch notwendigerweise gegen den Marktmechanismus arbeiten muss, ohne dass jemand dies als Bruch der Regeln der Marktwirtschaft beklagen würde. So ist es auch nur logisch, dass die Bewahrung der Preisstabilität als die wichtigste Aufgabe der Wirtschaftspolitik hierzulande und auch in der Europäischen Union zu gelten hat, der sich selbstverändlich auch die Lohnpolitik unterzuordnen hat.

Warum ist aber in einem Abschwung dann von einem vernünftigen Wirken der Lohnpolitik gegen den Abwärtstrend plötzlich nicht mehr die Rede?

Was ist, wenn die Geldpolitik durch sinkende Zinsen oder Zinsen nahe Null praktisch ihre Wirksamkeit eingebüßt hat, private Investitionen anzuregen? Was ist, wenn die Fiskalpolitik durch verunglückte Regeln wie etwa die Schuldenbremse dann ebenfalls nicht mehr ihre Aufgabe als gegensteuernde Wirtschaftskraft erfüllen kann?

Dann bleibt nur noch die Lohnpolitik, die durch zukunftsweisende Abschlüsse und Regelungen dem weiteren Abdriften der Gesamtwirtschaft entgegentreten kann. Doch statt dies anzuerkennen, ist dann plötzlich die Rede von Marktkräften, gegen die man sich nicht stemmen könne, weil man ansonsten der Marktwirtschaft Schaden zufügen würde.

Nicht nur, dass das weitverbreitete Dogma „Lohnsenkungen verringern Arbeitslosigkeit“ landauf landab durch alle Talkshows und sonstige Medien immer wieder mantra-artig wiederholt wird. Nein, im Gegensatz zur anerkannten staatlichen Inflationsbekämpfung im Boom wird während der Rezession die Verhinderung und der Abbau von Beschäftigungslosigkeit zur Stabilisierung der Gesamtwirtschaft auch noch als allein ursächliche Aufgabe des Marktes angesehen, bei der staatliches Handeln nur zu weiteren Schäden führen würde.

Doch Märkte können generell nicht gegen ihre eigenen Strömungen agieren. So ist es auch kein Wunder, wenn alle diese marktkonformen Lösungen nicht greifen und die Erwerbslosigkeit nicht oder nur scheinbar verringert werden kann.

Staatliche Lohnsubventionen helfen nicht weiter
Angesichts dieser regelmäßigen Erfolglosigkeit des Selbstregelungsmechanismusses des Marktes wird dann das Eingreifen des Staates mittels Lohnsubvention noch als einziges Zugeständnis den am schlechtesten Bezahlten als vermeintliche Lösung gewährt.

Dabei aber wird regelmäßig übersehen, dass dadurch allerdings der Preis derjenigen Produkte, die mit der geförderten Arbeitsleistung erstellt wurden, im Vergleich zu anderen Produktpreisen, die ohne Lohnzuschuss zustande gekommen sind, massiv ins Negative verzerrt werden. Zudem muss der Fiskus die Mittel, die zur Förderung der Niedriglohnarbeit notwendig sind, aus der übrigen Güterproduktion erzielen, so dass diese im Vergleich dann auch teurer werden.

Hat man aber erst einmal aufgrund ständig erhöhter Arbeitslosigkeit die Existenzsicherung der Geringverdiener durch staatliche Lohnförderung auf Dauer zugelassen, so ist es natürlich einfach, von Arbeitgeberseite jegliche geforderte Einstellung dieser Zuschüsse mit der Drohung von Beschäftigungsabbau zu beantworten.

Denn wer immer wieder behauptet, nur das Reduzieren der Entgelte der Niedriglohnempfänger wäre die einzige Möglichkeit, in diesem Segment die Arbeitslosigkeit zu verringern, hat natürlich umgekehrt die scheinbare Logik auf seiner Seite, dass Lohnsteigerungen hier die Lage nur weiter verschlimmern würden.

Die Ansicht, dass die Gehaltssenkungen der Geringqualifizierten offensichtlich nicht zu einer Verbesserung der Situation geführt haben, sondern die Beschäftigungsprobleme eher noch weiter verschärften, wird dann nach Kräften ignoriert oder schlichtweg als aufgrund negativer Rahmenbedingungen nicht für durchführbar erklärt.

Ganz im Gegenteil wird dann oft behauptet, man müsse wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage die Löhne noch weiter senken.

Es muss hier wohl nicht darauf hingewiesen werden, dass die tatsächlichen Ergebnisse von Mindestlohn- einführungen diese These eher nicht unterstützen. In der Gebäudereinigung beispielsweise sieht selbst ein Großteil der Arbeitgeber die Auswirkungen eines gesetzlichen Mindestlohns nicht negativ oder ist sogar von dessen positiver Wirkung überzeugt (siehe Grafik).

Daher kann man mit Fug und Recht behaupten, dass alle Versuche, mit Lohnzuschüssen die Probleme von Niedrigverdienenden am Arbeitsmarkt beseitigen zu wollen, nichts weiter als eine Ausbeutung dieser Menschen auf Kosten der Steuerzahler darstellen, ohne die eigentliche Thematik lösen zu können.