Soziale Mobilität und Ungleichheit in der Republik Venedig, 1400-1700

Die wirtschaftsgeschichtliche Forschung hat bisher unbekannte Tatsachen über die langfristigen Trends der Ungleichheit aufgedeckt. Wir haben jetzt zumindest für einige Gebiete Europas kontinuierliche Zeitreihen von Schlüsselindikatoren für Ungleichheit ab etwa 1300.

Venezia c.1650
Venedig um 1650. Kupferstich 30,5 cm × 70 cm von Merian d. Ä.

Diese neuen Daten verändern die Art und Weise, wie wir wirtschaftliche Ungleichheit nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch heute noch wahrnehmen. Eine wichtige Lehre aus der Geschichte ist die, dass die wirtschaftliche Ungleichheit (insbesondere, aber nicht nur die des Wohlstandes) im Laufe der Zeit deutlich zunimmt und nur Katastrophen im Ausmaß des Schwarzen Todes oder der Weltkriege haben es bisher geschafft diesen Trend zu stoppen, wenn auch nur vorübergehend (siehe Abbildung 1 in der Studie).

Die neuen historischen Erkenntnisse sind auch für die Debatte über die langfristigen Determinanten des Ungleichheitswachstums relevant. Dies scheint zumindest weitgehend unabhängig vom Wirtschaftswachstum zu sein. Andere Faktoren scheinen eine ent-scheidende Rolle gespielt zu haben, darunter institutionelle Faktoren und insbesondere (in der frühen Neuzeit) der Aufstieg des fiskalisch-militärischen Staates.

Diese jüngsten Akquisitionen werfen jedoch viele Fragen zu den tatsächlichen Auswirkungen der Verteilungsdynamik auf die Gesellschaft auf. Das aktuelle vom Europäischen Forschungsrat finanzierte Projekt – SMITE: Soziale Mobilität und Ungleichheit in Italien und Europa zwischen 1300 und 1800 – untersucht zumindest einige Schlüsselaspekte der sozialen Auswirkungen und der Bedeutung von Ungleichheitsänderungen.

In diesem Zusammenhang wird besonderes Augenmerk auf den Fall der Republik Venedig gelegt, der Gegenstand der Studie ist, die auf der Jahreskonferenz 2019 der Economic History Society vorgestellt wurde. In der Republik Venedig nahm die wirtschaftliche Ungleichheit, wie es anscheinend in ganz Europa üblich war, vom 15. Jahrhundert bis zum Ende der frühen Neuzeit (die auch das Ende der Republik Venedig als spezifische politische Einheit darstellt) gleichbleibend zu.

Generell kann diese Zunahme der Ungleichheit nicht einfach als Folge des Wirtschafts-wachstums angesehen werden, da es auch Phasen der wirtschaftlichen Stagnation abdeckt. In der Tat wandelten sich die italienischen Gebiete der Republik Venedig zwischen 1500 und 1900 von einem der reichsten und am weitesten fortgeschrittenen Gebiete Westeuropas zu einem der ärmsten. Teilweise als Folge davon ist es sehr unwahr-scheinlich, dass während des Zeitraums und insbesondere ab 1600 ein Ungleichheits-wachstum in einem Kontext leichter sozialer Aufwärtsmobilität stattgefunden haben könnte.

Diese Forschung zielt darauf ab, die sozioökonomische Mobilitätsrate in verschiedenen Zeiträumen anhand einer Reihe von Fallstudien zu messen, einschließlich der großen und sehr wichtigen Stadt Verona. Die bisherigen Ergebnisse bestätigen, dass das Wachstum der Ungleichheit in der frühen Neuzeit zunehmend mit einer schwierigeren sozio-ökonomischen Aufwärtsmobilität verbunden war.

Dies liefert nützliche Hinweise auf die Natur und die Ursachen des Ungleichheits-wachstums im vorindustriellen Europa. Besonderes Augenmerk wurde auf die Rolle der staatlichen Besteuerung bei der Festigung der relativen Position der Reichsten und bei der Beeinträchtigung der Ambitionen anderer sozioökonomischer Gruppen nach oben gelegt. Die Studie stellt auch einer der ersten Versuche dar, Maßnahmen der sozialen Mobilität auf Ebene einzelner Haushalte für die vorindustrielle Zeit durch umfassende Verknüpfung der verfügbaren Quellen und unter Verwendung der Standardmethoden für Mobilitätsstudien zu rekonstruieren.

Das dabei rekonstruierte Bild deutet darauf hin, dass die italienischen Gebiete der Republik Venedig ab etwa 1600 oder 1650 gleichzeitig von wirtschaftlicher Stagnation, zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit und niedrigen (und sich verschlechternden) Raten sozioökonomischer Mobilität geprägt waren. Dieses Bild entspricht ziemlich genau der Situation Italiens und anderer Teile Südeuropas seit dem Ausbruch der Großen Rezession im Jahr 2008 – was definitiv kein sehr ermutigendes Szenario darstellt.

(Eigene Übersetzung eines Blogbeitrages des italienischen Ökonomen Guido Alfani)