Sechs Lügen über den globalisierten Handel

Nach ca. 500 Tagen von Donald Trumps Präsidentschaft wird klar, dass jede Beziehung zwischen seinen Aussagen und der Wahrheit rein zufällig ausfällt.

Antwerpen Express (ship, 2000) 002
Containerschiff im Hafen von Seattle, USA

Er prahlte sogar mit seinem Mangel an Interesse an der Wahrheit, wobei er die Tatsache anpries, dass er keine Ahnung hatte wie hoch das US-Handelsdefizit mit Kanada war, als er den kanadischen Premierminister Justin Trudeau mit einem „100 Milliarden Dollar Handelsdefizit“ konfrontierte (aktuell beträgt es tatsächlich nur 20 Milliarden Dollar).

Aber Donald Trumps Verachtung für die Wahrheit sollte nicht dazu führen, dass wir anderen auch zu Lügnern werden. In der Tat ist es wichtiger denn je, dass progressive Argumente sich an der Realität orientieren.

Dies gilt insbesondere für den globalen Handel, bei dem das Lügen schon die Norm war, lange bevor Donald Trump in die Politik eintrat. Hier sind sechs übliche Unwahrheiten, die jedes Mal wenn sie auftauchen, eine gewichtige Richtigstellung verdienen.

1. Jeder profitiert vom internationalen Handel.
Dies ist noch nicht einmal getreu der Lehrbuchgeschichte. Das ökonomische Standard-werk sagt uns nämlich, dass es tatsächlich Gewinner und Verlierer gibt. In dieser üblichen Geschichte verdienen die Gewinner am Ende mehr als die Verlierer draufzahlen. Das bedeutet, dass die Gewinner die Verlierer kompensieren könnten, so dass es allen besser ginge. In der realen Welt findet diese Kompensation allerdings niemals statt, also verlieren die Verlierer eben einfach.

Wenn das so schwer zu verstehen ist, nehmen wir einmal an, dass 300.000 hoch-qualifizierte Ärzte aus anderen Ländern in den Vereinigten Staaten praktizieren. Dieser Zustrom würde die Bezahlung unserer Ärzte wahrscheinlich um etwa 100.000 US-Dollar pro Jahr auf ungefähr europäisches Niveau senken. Dies würde uns fast 100 Milliarden Dollar pro Jahr (700 Dollar pro Familie) für die Gesundheitskosten weniger kosten. Das wäre dann ein großer Gewinn für den Rest von uns, aber ein großer Verlust für die US-Ärzte. Das ist im Grunde die Geschichte des Handels, dabei trifft diese Konkurrenz allerdings vor allem die Arbeitnehmer in der Produktion.

2. Der Verlust von Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe ist auf das Produktivitätswachstum zurückzuführen, nicht auf den Handel.
Dabei handelt es sich um einen der üblichen Taschenspielertricks der klassischen Wirtschaftswissenschaftler. Die Produktivität in der Industrie steigt normalerweise um 2-3 Prozent pro Jahr. (Dies verlief in den letzten zwölf Jahren allerdings bedeutend langsamer.) Ähnlich hoch fällt auch in etwa die Wachstumsrate der gesamt-wirtschaftlichen Nachfrage aus, so dass der gestiegene Konsum von Gütern die Arbeitsplätze, die durch das Produktivitätswachstum verloren gehen, in der Regel ausgleicht.

Die Datenlage dazu ist eindeutig. In den drei Jahrzehnten von Dezember 1970 bis Dezember 2000 sank die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe nur um 100.000 Personen, also weniger als 1 Prozent. Im Gegensatz dazu haben wir von 2000 bis 2007 (vor dem Crash) mehr als 3,4 Millionen Arbeitsplätze in der Produktion verloren, das waren mehr als 20 Prozent der Gesamtbeschäftigung.

Dies lässt sich auf die Explosion des Handelsdefizits in diesen Jahren zurückführen, welches 2005 und 2006 mit fast 6% des BIP seinen Höhepunkt erreichte. Das wären heute immerhin etwa 1,2 Billionen Dollar pro Jahr. Es hatte natürlich Vorteile, billige Importe zu erhalten, jedoch ist es unglaublich unredlich den enormen Arbeitsplatzverlust nicht anzuerkennen, der mit der Ausweitung des Handelsdefizits in diesen Jahren verbunden war.

Und natürlich gingen in den letzten 50 Jahren viel mehr Arbeitsplätze durch die gestiegene Produktivität als durch den Handel verloren. Das ist zwar richtig, aber in diesem Zusammenhang völlig irrelevant.

3. Es ist unvermeidlich, dass weniger qualifizierte Arbeitnehmer Jobs an die Entwicklungsländer verlieren.
Dies ist ein großartiges Beispiel dafür, wie die Standesdünkel unserer Eliten das klare Denken behindern. Es ist absolut wahr, dass es Hunderte von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern gibt, die bereit sind, in Fabriken zu einem Bruchteil der Löhne zu arbeiten, die die Arbeiter in der verarbeitenden Industrie in den USA erhalten. Dies bedeutet, dass die Öffnung für den Handel die Löhne der US-amerikanischen Beschäftigten in der Industrie und der weniger gebildeten Arbeitnehmer im Allgemeinen unter Druck setzt, da sie entweder hohe Lohnkürzungen akzeptieren müssen oder ihre Arbeitsplätze verlieren.

Die Komplikation besteht nun aber weiter darin, dass es in Entwicklungsländern ebenso Dutzende von Millionen sehr schlauer, hart arbeitender Menschen gibt, die gerne in den USA als Ärzte, Zahnärzte, Rechtsanwälte oder als andere hochbezahlte Fachkräfte zu einem Bruchteil der Bezahlung arbeiten würden als die einheimischen Profis. Sie könnten nach unseren Standards trainieren und Englisch lernen, wo es nötig ist. Dies würde die Gehälter in hochbezahlten Berufen senken und dadurch zu Einsparungen für die Verbraucher führen, jedoch lassen wir so etwas gar nicht zu. Bei den Handelsabkommen ging es um die Senkung der Löhne von weniger gut ausgebildeten Arbeitnehmern, während hochbezahlte Fachkräfte weiterhin Schutz vor dem internationalen Wettbewerb genießen.

4. Handelsbilanzdefizite kosten keine Arbeitsplätze.
Es ist sehr beliebt unter den Experten zu behaupten, dass Defizite aus dem internationalen Handel keine Jobs kosten, indem sie auf die derzeitige Arbeitslosenquote von 3,8 Prozent verweisen, obwohl das Minus in diesem Jahr 600 Milliarden Dollar (3 Prozent des BIP) übersteigt. Ein Handelsbilanzdefizit kostet zwar nicht unbedingt Arbeitsplätze, aber in einer Zeit, in der wir keine Vollbeschäftigung haben, verringert eine Zunahme dieses Fehlbetrages um 100 Milliarden US-Dollar Konsum und Beschäftigung ebenso wie eine entsprechende Verringerung der Investitionen es tun würde.

Das gewaltige Handelsdefizit des letzten Jahrzehnts spielte sicherlich eine wichtige Rolle bei der schwachen Erholung des Arbeitsmarktes nach der Rezession 2001. Wir haben diese Nachfragelücke aufgrund der defizitären Handelsbilanz schließlich mit dem Konsum aus der Immobilienblase gefüllt. Dies kann aber kaum ein gutes Modell für die Zukunft sein.

5. Es ist wichtig, dass andere Länder „unser“ geistiges Eigentum respektieren.
Dies ist eine Aussage, die wiederholt in Trumps Handelskrieg mit China aufgekommen ist. Uns wurde gesagt, dass wir ein Interesse daran haben, dass China für das geistige Eigentum von US-Konzernen bezahlt, das es angeblich stiehlt.

Okay, es ist klar, dass Pfizer ein Interesse daran hat, dass seine Arzneimittel-Patente von China respektiert werden, ebenso wie Microsoft mit seinen Software-Urheberrechten und Patenten. Aber was ist mit der überwiegenden Mehrheit von uns, die nicht viele Aktien von diesen oder anderen Unternehmen besitzen, bei denen die Rechte an geistigem Eigentum gefährdet sind?

Die Standard-Handelstheorie sagt uns, dass, wenn China und andere Länder aufgrund von Patent- und Urheberrechtsmonopolen weniger Geld an Pfizer und Microsoft zahlen müssen, sie mehr Geld für andere Produkte ausgeben, die wir produzieren. Mit anderen Worten, das Geld, welches sie diesen Unternehmen zahlen, erhöht das Handelsdefizit in anderen Bereichen.

Wir müssen Innovation unterstützen, aber das ist ein anderes Thema. Es gibt wesentlich effizientere Mechanismen als Patent- und Urheberrechtsmonopole für die Finanzierung von Innovationen im 21. Jahrhundert.

6. Die Entwicklungsländer mussten die US-Industrie „killen“, um es den Menschen zu ermöglichen, der Armut zu entkommen.
Hunderte Millionen Menschen in den Entwicklungsländern haben in den letzten drei Jahrzehnten enorme Verbesserungen des Lebensstandards erfahren, insbesondere in China. Diese Menschen gingen von nahe oder unterhalb der Armutsgrenze zu einem bürgerlichen Lebensstandard über.

Dies ist in der Tat eine großartige Geschichte, aber es ist schlicht nicht wahr, dass dieser Anstieg des Lebensstandards zwangsläufig auf Kosten der Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten und der anderen reichen Ländern gehen musste. In den 1990er Jahren waren die ostasiatischen Länder (die großen Erfolgsgeschichten) noch schneller gewachsen als in der Dekade davor. Dies war aber auch eine Periode, in der sie große Handelsdefizite aufwiesen, mit der wichtigen Ausnahme von China, das eine nahezu ausgeglichene Handelsbilanz vorweisen konnte.

Im Prinzip hätte es keinen Grund gegeben, warum diese Länder nicht auf einem Weg weitergehen könnten, auf dem die Binnennachfrage das Wachstum ankurbelte und durch ausländische Investitionsströme finanziert wurde. Die Finanzkrise in Ostasien beendete 1997 jedoch diese Vorstellungen. Die Vereinigten Staaten führten die Rettungsaktion des Internationalen Währungsfonds (IWF) an und forderten im Wesentlichen, dass diese Länder große Handelsüberschüsse als Voraussetzung für die Gewährung von Hilfe erzielen sollten.

Die Verlagerung von Defiziten zu andauernden Handelsbilanzüberschüssen war eine Forderung des IWF, kein Gesetz der wirtschaftlichen Entwicklung. Wenn diese Länder weiterhin Importeure von Auslandsinvestitionen (das Standard-Lehrbuchmodell) hätten bleiben und den Wachstumspfad der 90er Jahre fortsetzen können, wären sie heute sehr wahrscheinlich noch viel wohlhabender. Tatsächlich wären Länder wie Südkorea oder Malaysia jetzt pro Person gesehen reicher als die Vereinigten Staaten.

Kurz gesagt, es ist einfach nicht wahr, dass der Schmerz für Fabrikarbeiter, die in den USA ihre Arbeit verloren haben, irgendwie eine notwendige Bedingung für Hunderte von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern war, um damit der Armut zu entkommen. Andere Wege hätten in diesen Ländern ein noch schnelleres Wachstum ermöglicht.

Wie man zu einer realitätsbasierten Handelspolitik gelangen könnte:
Es scheint wahrscheinlich, dass Trumps Handelskrieg in sich zusammenfallen wird, wenn er schlussendlich das Interesse daran verliert und wieder zur Jagd auf die kenianische Geburtsurkunde von Ex-Präsident Obama zurückkehrt. Seine rücksichtslosen Handlungen verdienen dagegen den ganzen Spott und die Verachtung, die sie hervorgerufen haben.

Wir jedoch sollten nicht zu einer Handelspolitik zurückkehren, die hauptsächlich auf Unwahrheiten beruht. Wir benötigen stattdessen eine Handelspolitik, die darauf abzielt, den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung in den Vereinigten Staaten und in den Entwicklungsländern zu erhöhen und nicht nur das gesamte Geld den Reichen zu übereignen.

(Eigene Übersetzung eines Blogbeitrages des amerikanischen Ökonomen Dean Baker)