Über die Ursachen der Wirtschaftskrise von 1857, aus der schließlich die erste echte Krise der Weltwirtschaft erwuchs, ist im Zuge der Aufarbeitung der globalen Wirtschaftskrise seit 2007 schon einiges geschrieben worden:
Der tickende Zusammenbruch | WOZ Die Wochenzeitung, Weltwirtschaft: Alles ist weg | ZEIT ONLINE oder sehr ausführlich in Die „erste“ Weltwirtschaftskrise 1857-1859 | Texte zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Häufig wurde dabei auf die Ähnlichkeiten zur aktuellen Lage verwiesen. Auch damals begann alles mit einer Finanzkrise, die sich zu einer weltumspannenden Wirtschaftskrise entwickelte. Über die verschiedenen Aspekte, die schließlich zum Ausbruch der Krise führten, findet man in den obigen Texten sehr detaillierte Angaben.
Erstaunlich ist dabei allerdings, dass über die Gründe, die diese Krise 1859 und in den Folgejahren doch recht zügig beendeten, eher wenig bis nichts bekannt ist.
So resümiert der oben verlinkte Zeit-Artikel etwa: „Die Rezession währt ein Jahr, mancherorts auch zwei. Die Arbeitslosen der Welt begnügen sich mit kostenloser Suppe, ein paar Demonstrationsmärschen und hier und da einer Schlägerei mit der Polizei. Die Revolution bleibt aus. Irgendwann schöpfen die Geschäftsleute wieder Vertrauen, die Banken bekommen wieder Kapital, die Fabrikanten wieder Kredit, die Tagelöhner wieder Arbeit.“
Noch platter ist die Beschreibung in der Schweizer Wochenzeitung: „Mitte Dezember 1857, nach einer Pause von nur 59 Tagen, öffnen die meisten New Yorker Banken wieder ihre Schalter – als sei nichts geschehen. Das kindliche Vertrauen der Menschen in Fortschritt und Kapitalismus ist nicht nur in den USA bald wiederhergestellt.“
Doch zum Glück gibt es ein schon älteres Werk des Historikers Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859, Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Auflage Göttingen 1974 (1. Auflage Stuttgart 1932), in dem er sich auch sehr ausführlich mit dem Ende der Krise befasste.
Und dort finden wir dann einige Aussagen, die besonders im Bezug auf die momentan vor allem in Europa vorherrschende Angebotspolitik mit ihren Lösungsansätzen der flexiblen Arbeitsmärkte und dem Gebot von Lohnzurückhaltung/-kürzung in den Krisenländern etwas befremdlich anmuten.
So gab es damals zwar eine ganze Anzahl von erbittert geführten Arbeitskämpfen, da die Produzenten die nach dem Ende der Spekulation wieder sinkenden Warenpreise in Form von drastischen Lohnsenkungen an ihre Arbeitnehmer weitergeben wollten. Doch offenbar ist dies in größerem Umfang nicht erfolgreich gewesen:
Innerhalb der Faktorenreihe, die die Überwindung der Krise erleichtert, bzw. überhaupt erst möglich gemacht hat, ist der Tatsache entscheidende Bedeutung beizumessen, daß auf der Wertseite der Wirtschaft der Preisverfall den Grad der erst allmählich auf ihn folgenden Lohnsenkung erheblich übertroffen hat.Trotz aller Versuche, die Löhne zu drücken und dem niedrigen Preisstande anzupassen, hat das Lohnniveau eine bemerkenswerte Stabilität behauptet, dürfte doch, im großen Durchschnitt gesehen, in den kapitalistischen Ländern die Nominallohnsenkung kaum mehr als 10 % betragen haben.
In nicht wenigen Branchenzweigen und Wirtschaftsbezirken ist es zudem überhaupt nicht zu einer Lohnsenkung, sondern lediglich zu einer Abschwächung der aufsteigenden Lohnbewegung gekommen.
Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859, S. 181/182
So waren es vor allem die Vollbeschäftigten (auch damals gab es übrigens schon bemerkenswerte und heute wenig bekannte Staatseingriffe in Form von Kurzarbeitssystemen einzelner Länder) und die Arbeitnehmer mit fester Besoldung (die Beamten, Angestellten und Rentenbezieher), die aufgrund der relativ unveränderten Lohn- und Gehaltszahlungen gut durch die Krisenjahre kamen.
Die Tragweite dieser nicht erfolgten Lohnzurückhaltungen in den meisten betroffenen Staaten war nach Rosenberg einschneidend für den weiteren Verlauf der Krise:
Für diese Verbraucherschichten hat die Krise nicht allein durch Senkung der Lebenshaltungskosten einen Gewinn bedeutet, sie hat hier auch eine zusätzliche Kaufkraft geschaffen, die in dem Augenblick eine konjunkturankurbelnde Wirkung üben mußte, wo der Preissturz und damit auch die Kaufzurückhaltung ihr Ende gefunden hatten.Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859, S. 182
Und so stellte Rosenberg schon 1932 erstaunlich nüchtern und eindeutig die Wirkung einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik am Beispiel der Konsolidierung nach der Krise 1859 fest:
Und da letzten Endes der „Konsum der Konsumenten“ den Produktionsumfang bestimmt, so haben schließlich nach dem Aufschwung der auf den wirtschaftlichen Gesamtorganismus zurückwirkenden Verbrauchsgüterindustrien auch die kapitalproduzierenden Industrien sich wieder zu erholen vermocht.Mit dem Steigen der Nachfrage nach erzeugten Fertiggütern und dem Wiederanziehen der Preise ist der Boden für die Wendung von der Schrumpfungs- und Stagnierungs- zur Anstiegstendenz bereitet worden.
Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859, S. 183
Rosenbergs Fazit wirkt aus heutiger Sicht erstaunlich aktuell und modern.
Seine Feststellung, dass trotz vorherigen Überschiessens (die Löhne und Gehälter waren in allen Industriestaaten während des Wirtschaftsaufschwungs der 1850er Jahre erheblich gestiegen) es vor allem die Tatsache war, dass die Löhne während und nach der Krise eben nicht in gleichem Maße dem Absinken der vorher spekulationsbedingt hohen Preise folgten oder gar diese noch unterboten, wesentlich zur raschen Erholung der realen Wirtschaft beigetragen hatte, liest sich wie ein modernes Bekenntnis zu keynesianischer Wirtschaftspolitik.
Es ist gleichzeitig auch ein frühes Plädoyer für die Einhaltung der „goldenen Lohnregel“:
Der Lohnzuwachs sollte demnach möglichst immer dem Produktivitätszuwachs einer Volkswirtschaft plus der Preissteigerungsrate folgen, nicht nur, um der arbeitenden Bevölkerung eine gerechte Beteiligung an dem erwirtschafteten Wohlstand zu ermöglichen, sondern auch um in einer Depression oder Krise ein deflationäre Abwärtsentwicklung durch sinkende Löhne und dadurch schrumpfender Nachfrage zu verhindern.
Gerade in Deutschland, wo die Mehrheit der Ökonomen immer noch und vielen empirischen gegensätzlichen Nachweisen zum Trotz der Angebotspolitik anhängen, wäre es an der Zeit, des öfteren auch aus der Historie die richtigen ideologiefreien Schlüsse zu ziehen.