Bekanntlich endete die erste Weltwirtschaftskrise von 1857 nach nur wenigen Jahren vor allem deshalb, weil in vielen Ländern die Löhne während und nach der Krise entgegen heutiger Annahmen gerade nicht in gleichem Maße dem Absinken der vorher spekulationsbedingt hohen Preise folgten oder diese noch unterboten.
Der Historiker Hans Rosenberg beschrieb in seinem Werk Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859, Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Auflage Göttingen 1974 (1. Auflage Stuttgart 1932), wie die Krise vor allem wegen der Konsumausgaben der Verbraucher, die aufgrund der erhaltenen Kaufkraft ihrer Löhne einen Zusammenbruch der Verbrauchsgüterindustrie weitestgehend verhinderten, relativ zügig überwunden werden konnte.
Doch nicht alle Staaten folgten dieser wirtschaftlichen Logik, mit der Nachfragesteigerung nach Fertiggütern und dank gleichzeitigem Anziehen der Preise auch die heimische Investitionsgüterindustrie wieder anzukurbeln und so der Stagnierungs- und Schrumpfungsgefahr der Wirtschaftskrise zu entgehen.
Wie alle großen Krisen des 19. und 20. Jahrhunderts beschränkte sich die Wirkung der Rezession von 1857 nicht nur auf Störungen des ökonomischen Kreislaufsystems, sondern beeinflusste auch die externe Wirtschaftspolitik vieler Länder, da sie in den Augen vieler zeitgenössischer Beobachter vor allem als eine internationale Handelskrise angesehen wurde.
So erscheint es auch nicht verwunderlich, dass gerade von vielen der arg in Bedrängnis geratenen Unternehmer und Produzenten der Ruf nach Hilfe des Staates, nach unterstützenden und protektionistischen Eingriffen in die wirtschaftlichen Abläufe, ja nach grundsätzlichen Reformen der Wirtschaftspolitik laut wurde.
Nicht anders als heute sollte mit diesen Forderungen die Privatisierung der Gewinne mit der Sozialisierung der Verluste verknüpft werden und die Bürde der nachlassenden Konjunktur auf die öffentliche Hand, die Verbraucher und Gehaltsempfänger sowie die ausländische Konkurrenz abgeschoben werden.
1857 und in den folgenden Jahren konzentrierte sich die Suche nach dem „Sündenbock“ vor allem auf die Handelspolitik, deren wichtigstes Instrument, die Schutzzölle, schon immer ein besonderes Ziel politischer Streitigkeiten darstellte.
Doch während viele Staaten auf andere ökonomische Lösungen setzten und im Großen und Ganzen den Freihandel als wichtigstes Element des europäisch-amerikanischen Konkurrenzkapitalismus präferierten, konnte sich die Schutzzollbewegung nur in Österreich, im Deutschen Zollverein und ausgerechnet in Nordamerika durchsetzen.
Dazu notierte Hans Rosenberg bedeutungsvoll:
Einen wirklich großen Sieg von wahrhaft weltgeschichtlicher
Tragweite hat die durch die Krise ausgelöste Schutzzollagitation
nur in den Vereinigten Staaten von Nordamerika davongetragen.
Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859, S. 196
Der Zwist um die Erhebung von Schutzzöllen bestand eigentlich schon seit der Gründung der Vereinigten Staaten und war die Folge eines der bedeutendsten politischen Konflikte innerhalb der USA, des Streits um die Kompetenzen der Einzelstaaten und der Zentralregierung. Bereits um 1820 brandete erstmalig der Widerstand einiger südlicher Staaten gegen die rigide Zollgesetzgebung der Regierung auf, 1832/33 hätte die Nullifikationskrise beinahe schon einen Bürgerkrieg ausgelöst.
Doch 1846 entspannte sich die ökonomische Situation etwas, als die Demokraten einen auf die Interessen der Baumwoll- und Getreideexporteure in den West- und Südstaaten optimierten Zolltarif durchsetzen konnten. Und nur wenige Monate vor dem Beginn der Krise trat wohl unter dem Eindruck der durch eine allgemeine wirtschaftliche Prosperität geprägten 1850er Jahre ein noch mehr auf den Freihandel zugeschnittenes Zollgesetz im März 1857 in Kraft.
Es wird auch heute nicht verwundern, dass aufgrund des Konjunkturaufschwungs in den USA ab 1850 vor allem der Einnahmeüberschuss in der Staatskasse sowie der Glaube an die nicht endende wirtschaftliche Boomphase für eine erhebliche Deeskalation der erbitterten Auseinandersetzungen über die nationale Zollpolitik sorgten.
Mit dem Ausbruch der Krise aber war es mit dieser freihändlerischen Tarifpolitik vor allem im Nordosten, wo der Absatz der Textil- und Stahlindustrie ins Stocken geriet und die sich vermehrtem Druck der ausländischen Konkurrenz ausgeliefert sah, schnell vorbei. Zusätzlich sorgte ein Einbruch der Staatseinnahmen und das Auftreten eines erheblichen Budgetdefizits infolge der Krise für weitere lautstarke Forderungen nach Zollerhöhungen.
Rosenberg schrieb dazu:
Der Schutzzollagitation war damit vollends Tür und Tor geöffnet. Sahen sich doch die Anhänger einer Tarifreform in protektionistischem Sinne nunmehr in der glücklichen Lage, ihre geschäftlichen Sonderinteressen als volkswirtschaftliche Gesamt- und öffentliche Wohlfahrts- und Fiskalinteressen ausgeben zu können.
Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859, S. 198
Politisch erhielt diese Schutzzollbewegung einen erheblichen Auftrieb, als die 1854 in Wisconsin (wohlgemerkt einem Farmerstaat) gegründete Partei der Republikaner die Beseitigung des Freihandels als einen der wichtigsten Punkte in ihr Parteiprogramm aufnahm. Diese Partei sorgte zudem für eine Annäherung zwischen den Farmerstaaten des Nordwestens (die seit dem Ende des Krimkrieges 1856 unter der Wiederaufnahme der preisgünstigen Weizenlieferungen Russlands an Europa litten) und den Industriestaaten des Nordostens, weil sie bei den kommenden Präsidentschaftswahlen für ihren Kandidaten Abraham Lincoln auf die Wahlmännerstimmen aus den Industriestaaten angewiesen war.
Einen echten Höhepunkt erreichte dieser Streit zwischen Nord und Süd am 12. März 1860, als der Abgeordnete Justin Smith Morrill im Repräsentantenhaus einen Gesetzentwurf einbrachte, der vor allem den 1846 beschlossenen Zolltarif widerherstellen sollte und massive Zollerhöhungen für Eisen und Wolle vorsah, um die heimische Wirtschaft im Norden zu schützen und den Absatz der dort produzierten Industriegüter zu verbessern.
Doch da dieser sogenannte Morrill-Tarif in erster Instanz im demokratisch beherrschten Senat durchfiel, konnte diese Regelung erst ein Jahr später, nachdem Lincolns Wahl dem Schutzzollsystem zum Durchbruch verholfen hatte, am 02. März 1861 in Kraft treten. Trotzdem muss man diesem Zoll-Tarif eine geradezu epochemachende Wirkung bescheinigen. Obwohl er nur wenige Monate galt, brachte er doch mit seiner durch die wirtschaftliche Krise geborenen protektionistischen Grundtendenz den Anstoß für die Beendigung der von den Sklavenhaltern und Großgrundbesitzern des Südens bestimmten bisherigen Handelspolitik der Vereinigten Staaten.
Da der Süden aber kaum Industriegüter herstellte, war er vor allem auf den Import aus dem Ausland und dem Norden angewiesen. Ein Preisanstieg auf die Einfuhren aufgrund der starken Zollerhöhung hätte die Wirtschaft des Südens wohl massiv getroffen. Ohne die Zollpolitik aber litt der Norden unter den günstigen Importen aus Europa und sah sich durch hohe Arbeitslosigkeit und drohende massive Unruhen gefährdet.
Die endgültige Entscheidung brachte die Wahl Abraham Lincolns zum Präsidenten im November 1860, mit der sich die Republikaner und ihr protektionistisches Programm gegen die in Nord und Süd gespaltenen Demokraten durchsetzen konnten. Damit war klar, dass der freihändlerische Weg des Südens in der Union gescheitert war und nicht weiter durchführbar sein würde. Es folgte der Austritt der meisten Staaten des Südens aus der Union im Winter 1860/61 und die Gründung der Konföderation. Am 12. April 1861 begann der amerikanische Bürgerkrieg mit der Beschießung von Fort Sumter, pikanterweise eine Zollstation.
Rosenberg resümierte über die weitreichenden Auswirkungen des Morrill-Tarifs:
Er hat den Auftakt gebildet nicht allein zu jener bis zur unmittelbaren Gegenwart reichenden protektionistischen Abschließung der Vereinigten Staaten gegenüber der ausländischen Konkurrenz, sondern auch zu der Revolutionierung und Radikalreform der öffentlichen Finanzwirtschaft, die den Bürgerkrieg begleitete, seine Durchführung und den endgültigen Sieg des Nordens überhaupt erst möglich machte.Schlag auf Schlag erfolgten im fiskalischen Einnahme- sowohl wie im politisch-ökonomischen Machtinteresse vom August 1861 bis zum Frühjahr 1865 Zollerhöhungen auf Zollerhöhungen.
Dazu traten die Schaffung und der Ausbau eines neuen, ertragreichen, die Papiergeldinflation ablösenden Bundessteuersystems und die Aufnahme großer Kriegsanleihen, die die öffentliche Schuld der Vereinigten Staaten von 90,9 Millionen $ im Jahre 1861 auf 2.682,6 Millionen $ im Jahre 1865 anwachsen ließ.
Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859, S. 199/200
Entgegen der bis heute meistens vertretenen Ansichten war es demnach nicht die Sklavenfrage, die den Hauptgrund für die Eröffnung der Feindseligkeiten lieferte. Lincoln galt als eher gemäßigter Gegner der Sklaverei, in verschiedenen Reden im Wahlkampf ließ er zudem unterschiedliche Haltungen zur Gleichstellung der Farbigen anklingen. Auch im Süden stand das Thema nicht wirklich an der Spitze der politischen Agenda, schon allein deshalb, weil nicht einmal 30 Prozent der Bevölkerung im Dixie Country überhaupt Sklaven besaß.
Tatsächlich aber war die Sklaverei eher das Hauptthema eines unablässigen Propagandakampfes zwischen Nord und Süd, der immer wieder von den ideologischen Hitzköpfen beider Seiten befeuert und am Leben gehalten wurde.
Und erst nach der Schlacht am Antietam im September 1862 erklärte die Lincoln-Regierung mit der Emanzipations-Proklamation die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten, hauptsächlich offenbar um eine Parteinahme der europäischen Mächte England und Frankreich für die Konföderation moralisch unmöglich zu machen. Konsequenterweise waren die Sklavenhalterstaaten der Union zudem von dieser Regelung nicht betroffen.
Vielmehr muss man den Blick auf die ökonomischen Gründe für den Kriegsausbruch richten. Und hier ist nun mal in erster Linie die Zollproblematik zu nennen. Der verzweifelte Versuch des Nordens, mit seiner protektionistischen Handelspolitik die eigenen Industrien gegen die billigen Importe aus Europa zu schützen und mit den geplanten Einnahmen die Verdienstausfälle aus der Wirtschaftskrise abzufedern, traf das auf Export von Baumwolle und Agrarprodukten (und den dringend erforderlichen Import aller anderen Güter) angewiesene Wirtschaftsmodell des Südens mitten ins Herz.
Mit der Wahl Lincolns, der in der Frage der Zölle und Abgaben sehr viel kompromissloser war als in seiner Haltung zur Sklaverei, hatten sich die Vereinigten Staaten insgesamt in eine aussichtslose Lage manövriert. Keine Seite wollte und konnte mehr nachgeben. Beide, sowohl die Konföderation als auch die Union, waren kompromisslos darauf aus, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Der Süden, indem er an dem System der menschenverachtenden Sklavenhaltung festhielt (das ihm zudem einen nahezu uneinholbaren Konkurrenzvorteil in Form niedrigster Lohnkosten gegenüber allen anderen Staaten garantierte), der Norden, indem er eine für die exportorientierten Südstaaten fatale Zollgesetzgebung verfolgte.
Dabei ist es besonders tragisch, dass der Norden der irrigen Ansicht anhing, mit protektionistischen Maßnahmen die Folgen der Krise von 1857 bewältigen zu können. Während im Süden der Wohlstand langsam wieder zunahm, weil man immer mehr Baumwolle in die durch steigende Konsumausgaben prosperierenden europäischen Staaten liefern konnte, darbten die Bauern, Fabrikanten und Arbeiter der Union, verarmten immer mehr Menschen, da im Norden die dringend notwendige Nachfrage fehlte.
Erst der Bürgerkrieg und die mit Staatsverschuldung bezahlten Rüstungsaufträge befreiten die Staaten des Nordens endgültig aus der Stagnation der Krise, allerdings nicht ohne auch weiterhin für Unruhen aufgrund sozialer Missstände (wie z. B. die Draft Riots im New Yorker Armenviertel Five Points 1863) zu sorgen.
In Anbetracht des Nachwirkens der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 sollte man heute die Tragik einer verfehlten Wirtschaftspolitik wie die der Union vor 1861 besonders genau analysieren. Sie kann als ein Fanal dienen, was mit einer gutgemeinten aber sachlich falschen Krisenstrategie letztendlich angerichtet werden kann. Heute sind Austerität und Angebotspolitik das, was damals die protektionistische Zollpolitik darstellte. Gerade wir Bürger der Eurozone, die noch immer unter dem Eindruck der Eurokrise stehen, sollten diese Einblicke als mahnende Erkenntnis ansehen und ein besonderes Augenmerk auf die von unseren Regierungen betriebene Krisenpolitik werfen.