Rechte Tasche, linke Tasche der europäischen Zentralbanken: das Unverständnis über die TARGET2-Salden geht (immer) weiter

ZURÜCK AUS DEM ARCHIV aus aktuellem Anlass: auch für die derzeitige TARGET2-Debatte bleibt dieser vor drei Jahren geschriebene Beitrag weiterhin akut wichtig.

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Zahlungsverkehrs-Salden ausgewählter Staaten des Euro-Systems

Das Prinzip der TARGET2-Salden ist nicht ganz einfach zu verstehen. Auch Wikipedia hilft da nicht recht weiter, weil deren Beitrag hauptsächlich von den (falschen) Ansichten von Hans-Werner Sinn geprägt ist, worauf aber nur in der etwas anderen englischen Version hingewiesen wird. Selbst die Bundesbank sorgte mit einer nebulösen Erläuterung eher für weitere Verwirrung denn für echte Aufklärung.

Doch zum Glück findet man im Internet einfachere, bessere und logischere Erklärungen, wie etwa bei den Geldsystempiraten. Mit dem Beitrag von Sinn auf Project Syndicate beschäftigte sich zudem die britische Finanzexpertin Frances Coppola auf ihrem Blog.

Um die Erwiderungen von Frau Coppola auf Sinns erneuten Versuch, den Griechen ihren negativen TARGET2-Saldo als „Schulden“ aufs Auge zu drücken, richtig zu verstehen, bedarf es einiges an Grundwissen über das Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System (dt.: Echtzeit-Brutto-Clearingsystem) des Eurosystems.

Die Geldsystempiraten beginnen ihre TARGET2-Erläuterungen richtigerweise mit einem einfachen Vergleich anhand von Bank-Überweisungen. Diese simplen Vorgänge aus der Finanzwelt kennt eigentlich jeder. Doch wie genau eine solche Überweisung wirklich abläuft, welche Details im Hintergrund eine Rolle spielen, weiß dagegen so gut wie niemand.

Also lasse ich hier Nicolai Hähnle von den Geldsystempiraten zu Wort kommen (ausführlicher hier):

Wenn Person A von ihrem Konto bei der A-Bank etwas Geld an Person B mit Konto bei der B-Bank überweist, dann gleichen die Banken diese Zahlungen untereinander aus, indem die A-Bank eine zweite, parallel laufende Überweisung tätigt, bei der Zentralbankgeld vom Konto der A-Bank bei der Zentralbank auf das Zentralbankkonto der B-Bank überwiesen wird. So logisch, so einfach (und zugegebenermaßen auch etwas vereinfacht), so gut.

So ähnlich funktioniert auch der Zahlungsverkehr zwischen den einzelnen Filialen des Europäischen Zentralbanksystems. Mit der Einführung der Europäischen Währungsunion wurde zwar die EZB als eigentliche Zentralbank der Eurozone neu geschaffen, doch die einzelnen Zentralbanken der Länder existieren als Zweigstellen in diesem System weiter und müssen dementsprechend auch eigene Bilanzen erstellen.

Die Konten dieser nationalen Zentralbanken bei der EZB tauchen nun in deren Bilanzen auf der Passiv-Seite auf, wie das nun einmal in einer Bankbilanz eben gängig ist.

Hähnle schreibt weiter:

Wenn nun Menschen und Unternehmen in Griechenland weitaus mehr aus Deutschland importieren als umgekehrt, dann wird mehr Geld aus Griechenland nach Deutschland überwiesen als umgekehrt. Das bedeutet natürlich auch, dass — netto betrachtet — griechische Banken Zentralbankgeld an deutsche Banken überwiesen haben. Die Passiv-Seite der Bilanz der Bundesbank ist deshalb im Laufe der Jahre deutlich gewachsen.

Da in einer ordentlichen Bilanz die Passiv- und Aktiv-Seiten gleich groß sein müssen, muss demnach auch die Aktiv-Seite entsprechend gewachsen sein. Dazu dient dann das TARGET-System, indem bei den Aktiva eine korrespondierende TARGET2-„Forderung“ steht. Damit wird die Summe an Zentralbankgeld dokumentiert, die seit Einführung des Euros aus den anderen Ländern der Eurozone nach Deutschland überwiesen wurde.

Weiter:

Was die Target-Salden heute tatsächlich dokumentieren hat mit Geldflüssen seit Gründung des Euroraums zu tun. In dieser Zeit hat Deutschland massive Import-Defizite angehäuft: Deutschland hat im Vergleich zu seinen Exporten viel zu wenig importiert. Folgerichtig ist mehr Geld zur Bezahlung der Importe nach Deutschland geflossen als umgekehrt.

In den Target-Salden hat sich das in den ersten Jahren nicht gezeigt, weil deutsche Banken Wertpapiere aus Südeuropa gekauft haben. So ist das Zentralbankgeld, das im Zuge der Überweisungen nach Deutschland geflossen ist, auch wieder zurück geflossen. Dabei floss das Geld natürlich nicht unbedingt immer direkt in die Länder zurück, aus dem es kam. Die Zahlungsströme sind weit verzweigt, aber zumindest indirekt und netto kam es zu Rückflüssen und damit weitestgehend zum Ausgleich der Target-Salden.

Dieser Rückfluss ist durch die Finanzkrise gestoppt worden. Dieser Effekt wird noch weiter verstärkt, wenn die Reichen in den Krisen-Staaten ihr Geld auf Bankkonten in Deutschland überweisen.

Demnach können diese „Forderungen“ auch nicht zurückgezahlt werden, indem „wir“ von den „Griechen“ Geld erhalten. Die deutschen TARGET-„Forderungen“ werden im Gegenteil nur dann weniger, wenn von Deutschland aus wieder mehr Geld in die restlichen Eurostaaten zurück überwiesen wird, da die deutschen Unternehmen das Geld aus dem Ausland bereits vorher erhalten haben. Eine Rückzahlung ist aber nicht wirklich erforderlich, da das Eurosystem auch mit beliebig hohen TARGET2-Salden weiterhin reibungslos funktionieren kann.

Am einfachsten vorstellen kann man sich die realen Auswirkungen der TARGET-Salden mit einem kleinen Gedankenexperiment: Gäbe es die nationalen Zentralbanken gar nicht und würde somit der Zahlungsverkehr mit Zentralbankgeld direkt durch die EZB erfolgen, gäbe es auch gar keine TARGET-Salden mehr. Da sie nur die „Buchungsvorgänge“ zwischen den Zentralbanken abbilden, würden sie dann ohne weitere negative Folgen für die „echte“ Wirtschaft zwischen den Eurostaaten einfach wegfallen.

Auch Frances Coppola sieht die Thematik der TARGET-Salden ähnlich und führte zu Sinns Beitrag aus (eigene Übersetzung):

Da Professor Sinn glaubt, dass die Target2-„Defizite“ tatsächliche Schulden sind, und Griechenland bereits sehr hoch verschuldet ist, ist er der Ansicht, dass Griechenland Schritte unternehmen sollte, um die Target2-Ungleichgewichte zu stoppen.

Griechenland sollte deshalb Kapitalverkehrskontrollen verhängen, so dass unser griechischer Kunde sein Geld nicht mehr außerhalb Griechenlands in Sicherheit bringen kann. Vermutlich ist Professor Sinn auch der Meinung, dass Griechenland sein Handelsdefizit beseitigen sollte, obwohl er es nicht direkt sagt.

Weiter erklärte Coppola, dass Zentralbanken Banken keine anhaltenden Defizite auf ihren Mindestreserve-Konten erlauben würden. Daher müssten sich von der Kapitalflucht betroffene griechische Banken entsprechende Reserven leihen, um ihre Mindestreserve bei der EZB wieder aufzufüllen. Da ihnen im Moment aber niemand Kredit gibt, wären sie gezwungen, sich diese Reserven bei der griechischen Zentralbank zu leihen. Deren Bilanz erweitert sich daher um einen Betrag, der dem Wachstum des griechischen TARGET2-Defizits entspricht. Dies aber seien zwei verschiedene Angelegenheiten, die Sinn leider miteinander verquicke.

Momentan sei das griechische TARGET2-Defizit vollständig durch ELA-Kredite von der hellenischen Zentralbank abgedeckt. Auch im Falle eines Ausstiegs Griechenlands aus dem Euro bliebe es weiter bestehen, und solange keine weiteren Transaktionen über dieses System liefen, auch seine Höhe (weiterhin in Euros) nicht verändern. Trotzdem könnte es im Falle eines „Grexits“ komplett ignoriert werden, so Coppola.

Das bestehende Target2-Defizit Griechenlands ist bereits vollständig durch Zahlungen von griechischen Banken an Banken anderswo in der Eurozone ausgeglichen. Niemand wird Geld verlieren, wenn Griechenland die Nutzung von Target2 stoppt, weil es den Euro verlässt.

Auch so mancher eigentlich progressive Blogger lässt sich von dieser Konfusion offenbar anstecken. So rechnete Joachim Jahnke die TARGET2-„Forderungen“ an Griechenland kurzerhand zu den gewährten Kredithilfen durch die EU hinzu, um so „beweisen“ zu können, dass der größte Teil der den Griechen bewilligten Gelder nicht wieder zurück an die großen europäischen Banken zum Abbau ihrer Forderungen geflossen sei.

Leider ist diese Ansicht aus den oben genannten Gründen falsch. Da die TARGET2-„Forderungen“ eben gerade keine Gelder des Eurosystems zulasten der an diesem System beteiligten Zentralbanken darstellen, sondern nur bereits erfolgte Geldflüsse dokumentieren, kann man sie auch nicht als „zusätzliche Kredite“ bezeichnen.

ZUSATZ VON HEUTE (12.07.2018): Und schon ist die ganze schöne Aussage, dass die Südländer (heute sind es die Italiener, vor drei Jahren die Griechen) auf unsere Kosten über die TARGET2-Salden „in Saus und Braus leben“ und Schulden ohne Ende machen würden, nicht mehr haltbar.

Aber gut, dass darüber geredet und viel Panik erzeugt wurde. Gemeinsam mit dem unappetitlichen nationalen Einschlag hat man noch ein wenig Stimmung gegen angeblich faule und ewig tricksende Italiener, Spanier und Griechen erzeugt und somit auch gleich noch die Ressentiments der rechten Populisten bedient. Zurück bleiben wütende und verwirrte Bürger, deren Zorn dann auch noch gegen die Falschen gelenkt wird. Bravo, deutsche Medien, gut gemacht!