Mythos New Deal – Teil 4: John Maynard Keynes und die Reformen des New Deal

Bereits in den 1920er Jahren hatte John Maynard Keynes als Dozent des King’s College in Cambridge sowie als wirtschaftspolitischer Berater der englischen Regierung und Teilnehmer an den Friedensgesprächen von Versailles einen enormen Bekanntheitsgrad erreicht. Seine Werke „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ (1919), „Ein Traktat über Währungsreform“ (1923) und vor allem seine große Abhandlung „Vom Gelde“ (1930) wurden öffentlich wahrgenommen und ausgiebig diskutiert.

John Maynard Keynes
John Maynard Keynes (1946)

Beim Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 gehörte Keynes zu den aufmerksamsten ökonomischen Beobachtern der darauf folgenden politischen und wirtschaftlichen Irrungen und Wirrungen. So verfolgte er auch sehr intensiv den von dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt eingeschlagenen Weg des New Deal, mit dem die „Große Depression“ in den USA überwunden werden sollte.

Als im Verlauf der Krise die Produktion weltweit massiv einbrach und die Arbeitslosenquoten immer weiter stiegen, erkannte auch Keynes, dass die damals vorherrschende klassische ökonomische Theorie keine funktionierenden Lösungen anbieten konnte.

Diese Theorie lehrte nämlich, dass jede Abweichung von der Vollbeschäftigung entsprechende Gegenbewegungen auslösen würde, die rasch wieder zurück zu einem stabilen Gleichgewicht bei voller Beschäftigung führen würden, wenn Preise und Löhne flexibel genug seien.

In den Jahren bis 1932 aber sanken in den meisten Industrieländern die Löhne und Gehälter dramatisch um bis zu 30 %, und die Preise folgten dieser Entwicklung. Doch entgegen den Annahmen der Klassiker verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation weiter, und besonders in Deutschland und den USA fielen die Löhne am stärksten.

So kamen Keynes und einige andere prominente Ökonomen (selbst Arthur Pigou als erklärter Anhänger der klassischen Theorie schloss sich ihnen an) zu der Ansicht, dass die Lösungsvorschläge der orthodoxen Neoklassik unwirksam seien und sie forderten im Oktober 1932 in einem Brief an die „Times“ Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und weiteres staatliches Handeln gegen die unbewältigten Auswirkungen der Krise.

In diesen Jahren begann dann Keynes auch an den Arbeiten zu seinem größten Werk, der „Grand Theory“, mit der er 1936 den klassischen Überzeugungen einen eigenständigen wirtschaftspolitischen Ansatz entgegenstellte. Darin richtete er den Fokus seiner Untersuchungen erstmals auf die Gesamtnachfrage nach Waren und Dienstleistungen, während die Flexibilität von Preisrelationen und -anpassungen in den Hintergrund traten.

Ferner negierte er die Aussage der klassischen Theorie, nach der das System der Marktwirtschaft automatisch zur Vollbeschäftigung tendiere, so wie es die falsche Auslegung des Sayschen Theorems immer wieder behauptete. Stattdessen wies er auf die große Bedeutung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage hauptsächlich durch Löhne und Gehälter hin, ohne deren Erhöhung (notfalls über entsprechende staatliche Maßnahmen) die Unterbeschäftigung nicht abgebaut werden könne.

Da die von Roosevelt in seinem „New Deal“ verfolgte Programmatik der Krisenbekämpfung auffallend viele auch von Keynes favorisierte Elemente enthielt, ist es nicht verwunderlich, dass der britische Ökonom die wirtschafts- politischen Vorgänge jenseits des Atlantiks aufmerksam beobachtete.

Keynes‘ Ablehnung der ersten Schritte
So kritisierte er einige Maßnahmen des ersten Versuchs, weil sie seiner Ansicht nach die Geschäftsleute und die Unternehmer bevorzugten, während die Verbraucher unter Arbeitslosigkeit, sinkenden Löhnen und steigenden Preisen litten und sich nicht in freien Gewerkschaften organisieren durften.

Vor allem den National Industrial Recovery Act (NIRA) hielt Keynes für viel zu einseitig auf die Bedürfnisse der Industrie ausgerichtet, während er gleichzeitig das Ziel der wirtschaftlichen Erholung durch eine Wiederbelebung der darbenden Produktion und die Steigerung des Arbeitsplatzangebotes behindere.

Anstatt den Unternehmern mit einem Stopp des Preisverfalls und einer Begrenzung der Erzeugung zu helfen, waren nach Keynes vor allem drei Wege zur Stärkung der wirtschaftlichen Gesundung notwendig:

1. Die Konsumenten sollten mehr aus ihren laufenden Einkommen ausgeben,
2. die Unternehmer müssten ihren Arbeitnehmern mehr Geld geben, was ihnen durch niedrigere Zinsen oder durch bessere Geschäftsaussichten ermöglicht werden sollte,
3. die öffentliche Hand sollte mehr Einkommen schaffen entweder durch Kredite oder Gelddrucken.

Aufgrund der politischen und ökonomischen Situation in den USA sah der britische Wirtschaftswissenschaftler die beiden erstgenannten Möglichkeiten als blockiert an, sodass nur der Faktor Verschuldung des Staates noch als Initiator für einen Aufschwung übrig blieb.

Dagegen würden die Maßnahmen der Regierung in dieser ersten Phase nicht entsprechend wirken, da sie auf falschen Annahmen fußten. So war man davon ausgegangen, dass steigende Preise immer ein Hinweis auf eine wachsende Produktion und die Schaffung von Arbeitsplätzen seien.

Keynes aber hatte in seinen Werken ausgearbeitet, dass diese Auswirkungen nur dann einträfen, wenn auch die allgemeine Kaufkraft zulegen würde. Die ersten Schritte der Regierung Roosevelt sorgten allerdings über die Verknappung des Warenangebots für steigende Preise.

Die praktischen Auswirkungen dieser Politik, die im Frühjahr 1934 zu einer Rückkehr der Krise führten, bestätigten Keynes darin, dass nur die Ausweitung der Produktion durch eine steigende Nachfrage aufgrund höherer Löhne und Gehälter zum Ziel einer nachhaltigen Wirtschaftserholung führen würde.

Diese Ausweitung der Nachfrage dürfe auch durch Steuererhöhungen nicht wieder zunichte gemacht werden, so dass dem Staat nur der Weg der Verschuldung offen stünde, wenn die Einkommen der Steigerung der Ausgaben nicht folgen könnten.

Stärkerer Einfluss auf den zweiten New Deal
Sehr viel näher an den Ansichten Keynes richtete sich dann der Second New Deal aus, mit dem Roosevelt auf die enttäuschenden Ergebnisse der ersten Phase seiner Politik reagierte.

Die Zulassung von freien Gewerkschaften, der Mittel des Arbeitskampfes und kollektiver Tarifverträge durch den Wagner Act stärkten die Rechte der Arbeitnehmer und trugen so ihren Teil zu einer Festigung der allgemeinen Kaufkraft bei. In die gleiche Richtung gingen die Reformen der Regierung im Bereich der Sozialversicherungen, und auch das Holding-Verbot zielte durch die Schwächung der Monopole und Konzerne vorrangig auf den Ausbau des privaten Konsums.

Nur bei der Ausgabenpolitik hielten sich Roosevelt und seine Berater zurück. Da zunächst hauptsächlich die Preise gestützt werden sollten, fanden zwar Beschäftigungsmaßnahmen statt, allerdings ohne eine besondere Belastung für das Budget der Vereinigten Staaten darzustellen. Erst allmählich wandelten sich die Meinungen innerhalb der demokratischen Administration zu der Überzeugung, dass ein ausgeglichener Haushalt hinter den Notwendigkeiten einer Konjunkturbelebung durch höhere staatliche Ausgaben zurücktreten müsse.

Gerade John Maynard Keynes hat hier seinen Einfluss geltend gemacht und auf verschiedene Vertreter der Regierung eingewirkt, dass in der Krise die Möglichkeiten der Unternehmer für Investitionen nicht ausreichen würden und der Staat hier in die Lücke springen müsse. Es sei notwendig, von einer restriktiven Fiskalpolitik abzusehen und durch öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen den Rückgang der privaten Nachfrage zu „kompensieren“.

Bis heute ist es jedoch umstritten, ob es eine systematische Ausgabenpolitik der Art, wie man sie später unter dem Begriff „keynesianische Wirtschaftspolitik“ verstand, überhaupt gegeben habe.

Zwar hatte die Beschaffung von Arbeitsplätzen durch öffentliche Aufgaben die oberste Priorität erhalten, und beispielsweise durch den Bau von Staudämmen und die Elektrifizierung des gesamten Landes auch enorme Erfolge getätigt, doch gleichzeitig wurden solche Effekte durch Steuererhöhungen, Pensionskürzungen und Entlassungen beim Personal des Bundes teilweise wieder zunichte gemacht.

Erst durch die sozialstaatlichen Maßnahmen des zweiten New Deal steigerte sich allmählich die Verschuldung der öffentlichen Hand, während die privaten Schulden zurückgingen.

In der Geldpolitik allerdings war man weit eher bereit, den Ansichten Keynes zu folgen. Mit der Loslösung des Dollars vom Goldstandard und den staatlichen Programmen zur verbilligten Abzahlung der Farmer-Hypotheken sowie dem Bemühen um niedrige Zinsen tat die Regierung sehr viel, um für günstigere Kredite zu sorgen.

Auch die Abwertung des Dollars nach der Londoner Konferenz sorgte durch eine Erhöhung der amerikanischen Exporte für die erleichterte wirtschaftliche Erholung der US-Wirtschaft, allerdings vor allem auf Kosten der vorerst noch im „Goldblock“ verbliebenen Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Italien.

Problematisch war dieser Leistungsbilanzüberschuss der Vereinigten Staaten auch für das Deutsche Reich, da es mit einem Defizit in der Handelsbilanz und der damit verbundenen Verschuldung nicht in der Lage sein würde, die Reparationszahlungen nach dem Versailler Vertrag weiter zu leisten. Keynes Kritik an dieser „ökonomisch unverantwortlichen“ Haltung der alliierten Siegermächte wurde auch von Roosevelt nicht erhört.

Ebensowenig sollte sich Keynes bahnbrechende Idee einer gemeinsamen längerfristigen Währungsparität der größten Industriestaaten erfüllen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Gedanke mit dem Bretton-Woods-System wieder aufgegriffen.

Fazit
Bei der Betrachtung der Maßnahmen und Wirkungen von Roosevelts New-Deal-Politik kann man den Einfluss von J. M. Keynes in mehrfacher Hinsicht erkennen.

In der ersten Phase richteten die Demokraten ihre Aktionen stark an den Forderungen der Unternehmer und ihren Verbänden aus. Damit versuchte die Regierung, ihr Vertrauen zurückzugewinnen und sie so zu mehr Investitionen anzuregen, so wie es die Vertreter der neoklassischen wie auch der „österreichischen“ Theorie immer wieder anmahnten. Wie Keynes allerdings vermutet hatte, blieb der Erfolg aus.

Seine richtige Diagnose einer schwachen Kaufkraft als größtes Hindernis wirtschaftlicher Erholung, die von ihm für nötig gehaltenen staatlichen Eingriffe in die Marktprozesse, eine aktive Geld- und Währungspolitik wie z. B. bei der Aufgabe des Goldstandards, die Durchführung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Investitionsprogrammen für die Infrastruktur, Naturschutz und Energiebewirtschaftung dagegen erwiesen sich als durchschlagend, sie sind zudem bis heute eindeutige Bestandteile seiner ökonomischen Theorie.

Doch Keynes konnte nicht verhindern, dass der Präsident, bedrängt durch die Budget-Falken in seinem Kabinett, 1937 zu der Ansicht gelang, nachdem sich der industrielle Output und die Unternehmensgewinne wieder dem Vorkrisenniveau angenähert hatten und die Arbeitslosenquote stark gesunken war, den Staatshaushalt zu konsolidieren.

Das Ergebnis dieser Drosselung der staatlichen Ausgaben war ein erneuter Rückgang des privaten Verbrauchs und ein Einbruch der Firmen-Investitionen. Die Erwerbslosenzahlen stiegen wieder und die Depression kehrte wieder zurück.

Erst mit der gewaltigen Verschuldung der öffentlichen Hand zum Zwecke der Kriegsführung ab etwa 1940 kehrte die amerikanische Wirtschaft auf den Pfad zur Vollbeschäftigung und der endgültigen Überwindung der Krise zurück. Es war die gigantische Bedrohung eines weltumspannenden Konfliktes notwendig, um die erforderliche Akzeptanz der Krisenbewältigung durch staatliche Defizitpolitik allgemein anzuerkennen.