Wenn man die derzeitige Entwicklung in Argentinien und die wirtschaftliche Radikalisierung durch die Regierung Milei besser verstehen will hilft ein Blick in die Geschichte des Landes und seiner Ver-quickung mit globalen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF).
Argentiniens Präsident Fernando De la Rúa (rechts) 1999 mit seinem Vorgänger Carlos Menem
Argentinien eignet sich besonders als Beispiel für die Folgen der IWF-Politik, da das Land lange als „Musterschüler“ des Fonds galt und Anfang der neunziger Jahre als Vorzeigebeispiel für die Wirk-samkeit der Strukturanpassungsprogramme diente.
Die Ausgangslage
Im Jahr 1976 unterwarf sich die Militärdiktatur unter Jorge Videla das Land. Die Staatsausgaben wurden drastisch in die Höhe gefahren. Beim Auf- und Ausbau der nationalen Industrie setzte man verstärkt auf Lohnsenkungen und auf Kredite aus dem Ausland, auch vom IWF.
Mit Folgen: Bis zum Ende der Diktatur 1983 verfünffachte sich die Auslandsverschuldung Argentiniens (von 8 auf 43 Milliarden Dollar), während der Anteil der Löhne am BIP von 43% auf 22% sank. Doch das Wirtschaftswachstum blieb hinter den Erwartungen zurück, und die Inflationsrate schoss nach oben – ebenso wie in vielen anderen Drittwelt-Staaten, die diesen Entwicklungspfad eingeschlagen hatten, meist ohne Erfolg.
Ergebnis war die globale Schuldenkrise der achtziger Jahre, die auch Argentinien traf. Um einen Kollaps des Weltfinanzsystems zu verhindern, sprang der IWF mit Milliardenkrediten ein. Die Ursache der argentinischen Krise sah der Fonds allerdings nicht im Weltkredit- und wirtschaftssystem, sondern in der „dirigistischen“ Politik der Vergangenheit.
Also wurde gemäß der neoliberalen Theorie des IWF der öffentliche Dienst „entschlackt“, Unternehmen wurden an ausländische Kapitaleigentümer verkauft, die wirtschaftlichen Grenzen wurden für das internationale Kapital und die transnationalen Konzerne geöffnet.
Reformen im Geiste des IWF
Zu Beginn der neunziger Jahre übernahm die Regierung unter Carlos Menem die Geschäfte. Ihre IWF-geleiteten Reformen gehörten zu den radikalsten des Kontinents: Privatisierung der öffentlichen Unternehmen (im Gegensatz zu Mexiko einschließlich des Ölsektors), Erhöhung der Zinssätze, Liberalisierung der Wirtschaft auch im Agrarbereich und vor allem Schaffung einer neuen Währung, die an den Dollar gekoppelt wurde (1 argentinischer Peso hatte einen Wert von einem Dollar).
Parallel dazu wurden die Arbeitsgesetze flexibilisiert, die Steuern für Unternehmen gesenkt (auf 33% gegenüber 45% in den USA), um Kapital ins Land zu locken. Zur Finanzierung des Staates wurden gemäß dem IWF-Konzept vor allem die Konsumenten herangezogen: Die Mehrwertsteuer wurde von 14% auf 21% erhöht, was vor allem jene am stärksten belastete, die den Hauptteil ihres Einkommens zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse ausgeben – also die Ärmsten.
40% der Unternehmen und 90% der Banken Argentiniens wurden privatisiert und zumeist ans Ausland verkauft, mehrere Hunderttausende Beamte wurden entlassen und die Ausgaben für Schulbildung drastisch zurückgefahren.
Damit begann der kurze Frühling des „IWF-Musterschülers“: Die Inflation wurde gestoppt, und die Investitionen zogen an. Ausländisches Kapital floss in das Land und übernahm viele der großen argentinischen Unternehmen.
Nach Jahren der Finanzstagnation wuchs das Bruttoinlandprodukt um 25% innerhalb von 3 Jahren. Ende 1994 war die Begeisterung für diese schnelle Entwicklung allgemein: Die Märkte hatten Vertrauen, internationale Kapitalströme flossen und das laufende Defizit verringerte sich.
Die Krise
Doch dann rutschte 1994 Mexiko in die Krise und konnte seine Schulden nicht mehr bedienen. Dieser so genannte „Tequila-Schock“ führte die Verwundbarkeit eines Landes wie Argentinien vor, das sich von ausländischem Geldzufluss abhängig gemacht hat.
Die durch die Mexiko-Krise beunruhigten internationalen Anleger zogen ab 1995 massiv Kapital aus dem Land ab. Das Defizit in der Staatskasse wurde damit immer tiefer. Parallel dazu stiegen die Auslandsschulden, deren Bedienung immer teurer wurde (der jährliche Schuldendienst stieg von 6 auf 21 Milliarden Dollar).
Auch der Verkauf der großen Unternehmen an ausländische Investoren zeigte nun seine Schatten-seiten: Die privatisierten Staatsunternehmen (Banken, Fluglinien, Telekomunternehmen, Versorger) erwirtschafteten Einnahmen in argentinischen Peso. Dann tauschten sie diese Peso-Gewinne bei der argentinischen Zentralbank in harte Devisen um und überwiesen diesen Betrag – das hatte man ihnen gestattet – an ihre Muttergesellschaften in Nordamerika oder Europa.
Während diese also vom Argentinien-Geschäft profitierten, erlitt Argentinien einen steten Abfluss von Devisen. Argentinien war also dringend auf Devisen angewiesen, um seine Schulden zu bedienen und um seine Importe vom Weltmarkt auf dem hohen Niveau zu halten.
Devisen jedoch konnten nur durch ausländische Investoren ins Land kommen – und die flüchteten ja gerade – oder durch eine Erhöhung der Steuern – das vermied man, um die Investoren nicht zu vertreiben – oder durch vermehrte Exporte in Hartwährungsländer.
Eine Abwertung des Peso zur Förderung des Exports allerdings kam nicht in Frage – der Peso war ja 1 zu 1 an den Dollar gekoppelt worden, um ausländischen Investoren eine wertstabile Anlage zu bieten.
Eine Abwertung hätte die Massenflucht aus dem Land noch verstärkt. Doch genügte allein die Angst vor der Abwertung, um inländische wie ausländische Geldbesitzer dazu zu bewegen, ihr Geld außer Landes und in Sicherheit zu bringen. Argentiniens Devisenbestand trocknete so allmählich aus, und das auf Kapitalimport basierende Entwicklungsmodell begann zu wanken.
In Folge der umfassenden Liberalisierung der Wirtschaft konnten die ausländischen Konzerne ihre Gewinne ins eigene Land leichter transferieren und inländische Unternehmen konnten – auch unter Umgehung gesetzlicher Hürden – ihr Kapital ins Ausland überweisen.
Die Steuerflucht, die 1998 ca. 40 Milliarden Dollar betrug, entzog dem Staat die Hälfte der Steuer-einnahmen – auch dies eine Folge der Liberalisierung. In den folgenden Jahren bekamen viele Länder die Folgen liberalisierter Finanzmärkte zu spüren: 1997 rutschte zunächst Thailand und dann ganz Asien in eine Finanzkrise, 1998 erklärte sich Russland faktisch bankrott.
Für Argentinien noch schlimmer war jedoch, dass 1999 die Krisenwellen auch Brasilien erreichten, das 30% der argentinischen Ausfuhren aufnahm. Dies bedeutete für Argentinien einen dramatischen Einnahmerückgang.
Am 24. Oktober 1999 trat Fernando de la Rua die Nachfolge von Präsident Carlos Menem an und übernahm ein Land in Rezession. Die Landesfinanzen waren ruiniert und von den 36 Millionen ArgentinierInnen lebten 14 Millionen offiziell unter der Armutsgrenze.
Doch folgte auch die neue Regierung zunächst dem alten Pfad: Während des Jahres 1999 nahmen die argentinischen Schulden um 12 Milliarden Dollar zu. Bevorzugte Geldquelle waren dabei weiter die privaten Investoren: Drei Viertel aller seiner Schulden hatte sich das Land an den internationalen Finanzmärkten geborgt – zu immer höheren Zinsen, da von einem Krisenland höhere Zinsen verlangt werden.
Denn nach der Logik der Finanzmärkte steigt das Risiko und damit der Zins, je dringender ein Land frisches Geld braucht. Die Politik der massiven Kreditaufnahme reichte jedoch nicht aus, um die Schulden zu bedienen. Das Land musste ein weiteres Abkommen mit dem IWF unterzeichnen, der ihm 7,2 Milliarden Dollar lieh.
Bedingung: Argentinien müsse sein Haushaltsdefizit innerhalb nur eines Jahres von 7,1 auf 4,7 Milliarden Dollar senken, was eine Streichung von Ausgaben in Höhe 2,5 Milliarden im Haushalt für 2000 bedeutete. (Von Mai 2000 bis März 2004 war übrigens der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler Chef des IWF.)
Der Offenbarungseid
Doch konnten auch diese Kredite den „IWF-Musterschüler“ nicht retten. Im Dezember 2000 wuchs der Druck, und die argentinische Regierung schöpfte ihre Geldreserven aus, wobei sie verzweifelt versuchte, die feste Bindung zwischen dem Peso und dem Dollar aufrecht zu erhalten.
Es war ein Kampf um die behauptete Parität von Peso und US-Dollar, die die Inflation eindämmen und das Vertrauen der ausländischen Investoren wecken sollte, was den Dollarwert ihrer argentinischen Investitionen angeht.
Doch als mehrere wichtige Nachbarländer ihre Währung abwerteten (z.B. Brasilien), stand Argentinien mit einer für die Region überbewerteten Währung da, was seine Ausfuhren gegenüber mehreren lateinamerikanischen Ländern verteuerte und das Handelsdefizit vergrößerte.
Argentinien stand also vor der Wahl, seine Währung abzuwerten und damit eine irrationale Panik zu verursachen, die den Peso abstürzen lassen könnte (wie es der Fall in Mexiko, Thailand, Russland oder Brasilien gewesen war). Oder es konnte versuchen, die Parität mit dem Dollar aufrecht zu erhalten und auf das Vertrauen der ausländischen Investoren zu hoffen, die die Löcher des laufenden Defizits stopfen sollten.
Ende Dezember 2000 blieb kein Ausweg mehr. Argentiniens Regierung hatte ihre Dollarreserven erschöpft und konnte den Peso nicht mehr 1 zu 1 in US-Dollar tauschen. Der Peso wurde also freigegeben und der IWF schnürte ein weiteres Hilfspaket – diesmal über 39,7 Milliarden Dollar.
Auch diese neuen Kredite wurden nicht ohne Bedingungen vergeben: Liberalisierung des Gesund-heitswesens, Deregulierung der Schlüsselbereiche wie Energie und Telekommunikation, Verringerung der Einfuhren, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Verstärkung der Privatisierungen usw.
Im Sommer 2001 kündigte die Regierung außerdem eine Kürzung der Gehälter im öffentlichen Dienst um 14% an. Der IWF forderte zudem eine Politik des „Nulldefizits“ und riskierte damit Hungerrevolten, den Sturz der Regierung und den Zusammenbruch des Landes.
In der Folgezeit versank Argentinien im Chaos. Die Armut wuchs, die Staatskasse war leer und die Bevölkerung revoltierte. Praktisch alle industriellen und finanziellen Potenzen waren an das aus-ländische Kapital verkauft, Schulbildung und Gesundheit waren nur noch für wenige zahlungs-kräftige Personen erschwinglich.
Im Jahr 2001 gehörten 90% der Banken und 40% der Industrie ausländischen Unternehmen, vor allem aus Europa (speziell Spanien) und den USA. Westliche Konzerne dominierten den Energie-, Telekom- und den Bankensektor. Gleichzeitig waren die Auslandsschulden viermal so hoch wie 1983, das Gesundheits- und das Bildungswesen waren demontiert, und der mittlere Lohn nur noch halb so viel wert wie 1974.
Im Jahr 2002 musste sogar der IWF zugeben, dass er im Falle Argentinien falsch agiert hatte. Die Argentinien-Krise sorgte für kurze Zeit für eine Krise des Fonds. Aus Unzufriedenheit mit seinen Leistungen forderten nicht nur Globalisierungskritiker seine Abwicklung, auch die US-Regierung spielte offiziell mit diesem Gedanken.
Konsequenzen und Lösungsansätze
Eine politische Neuorientierung des IWF hat seitdem allerdings nicht wirklich stattgefunden. Statt neuer Politikansätze erwog man etwa die Schaffung eines Konkursrechts für Staaten.
Zu beachten ist im Falle Argentinien, dass die Finanzkrisen anderer Länder und die Abhängigkeit vom Auslandskapital lediglich schlechte Bedingungen für die argentinische Wirtschaft darstellten, nicht aber Ursache der Krise waren.
Ursache der Katastrophe waren auch nicht allein die Rezepte des IWF, obwohl sie die Krise verschärft haben. Der letzte Grund für das Scheitern Argentiniens – und vieler anderer Staaten der Dritten Welt – liegt im von den G-7 durchgesetzten und garantierten Weltwirtschaftssystem, das wenig Platz für Aufsteiger lässt und nachholende Entwicklung nur in Ausnahmefällen ermöglicht (z.B. Südostasien, China).
Denn in diesem System gilt das Gesetz des „Stärkeren“ (= ökonomisch Mächtigeren). Da im weltweiten Kapitalismus die wichtigste Voraussetzung für ökonomischen Erfolg ökonomischer Erfolg selber ist, da also ökonomischer Erfolg die beste Bedingung für weiteren ökonomischen Erfolg ist, sind es stets dieselben Staaten, die die vorderen Plätze der Wirtschaftsmächte belegen. Nämlich die G-7, die diese Ordnung verteidigen, weil sie sie zu dem macht, was sie sind: die „Großen 7“.
Und da kann ein Javier Milei zum wiederholten Male die alten neoliberalen Rezepte hervorholen und mit verheerender Wirkung einsetzen, er wird daran nichts ändern. Ganz im Gegenteil wird auch er scheitern und das Pendel wieder umschlagen, ohne dass allerdings eine sozialere Regierung dauerhaft Erfolg haben wird.
Denn erst wenn die internationale Gemeinschaft und ihre sogenannten Führungsstaaten der G-7 einsehen, dass ihre Rezepte der ökonomischen Dominanz und des Neoliberalismus mit der Globali-sierung gescheitert sind (und das weltweit und auf ganzer Linie), wird es möglicherweise eine Lösung für die endlosen Krisen der Entwicklungsländer und somit auch für Argentinien geben können.