Die heutige gesellschaftspolitische Relevanz der Bonner Wende von 1982

Helmut Schmidt SPD Parteitag Köln a
Mit dem Ende seiner Regierung nahm die Bonner Wende ihren Anfang:
der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt

Das tägliche Wegsehen

Die Videoaufnahmen aus der Essener Bankfiliale sind schwer erträglich. Ein hilfloser alter Mann am Boden, vier Menschen, die ihn einfach ignorieren und ihren Geschäften nachgehen: Das Opfer hätte auch mein Vater sein können, denkt man. Und man fragt sich: Was geht in diesen Köpfen vor?

Kommentar in der WAZ vom 18.09.2017

Die Wende von 1982: Der Tag, an dem die Gegenwart begann

Am 17. September 1982 zerbrach die sozialliberale Koalition. Es war der Tag, an dem die Zukunft begann, die heute noch neoliberale Gegenwart ist – und die zu überwinden es viele gute Gründe gibt.

Tom Strohschneider im OXI-Blog am 17.09.2017

Auf den ersten Blick haben diese beiden kurzen Auszüge so rein gar nichts miteinander zu tun. Doch wenn man sich länger mit den heutigen gesellschaftlichen Missständen beschäftigt, findet man viele Grundzüge, die einen ins Grübeln bringen sollten.

Da lassen Menschen ungerührt jemanden liegen, um ungestört ihren Interessen nachgehen zu können. Da werden Polizisten oder andere uniformierte Vertreter der Staatsgewalt immer öfter attackiert, wenn sie die Interessen anderer einschränken wollen. Da sind Kinder kaum noch zu beschulen, weil sie offenbar nie gelernt haben, Autorität anzuerkennen. Da herrschen auf unseren Straßen „Wild-West“-Zustände, weil jeder anscheinend nur sein angebliches eigenes Recht durchsetzen will.

Dagegen stehen die Parolen der damaligen Bonner Wende, auch als geistig-moralische Wende bezeichnet, mit der neben der Konzentration auf eine neoliberale Wirtschafts-politik vor allem eine Individualisierung der Gesellschaft erreicht werden sollte. Man müsse endlich wieder „die Ellbogen einsetzen“ dürfen und wieder „lernen, sich durchzusetzen“, klang es aus den einschlägigen Medien.

Stück für Stück wurde den Menschen eingeimpft, dass ihr eigenes Wohl und Wehe immer Vorrang habe vor den Interessen anderer, dass ein „gesunder Egoismus“ unabdingbar sei, um den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen „Wandel“ erfolgreich mitgestalten zu können. Rücksichten auf andere, Altruismus oder gar Solidarität galten nun als Schwächen, weil man nicht unbedingt persönliche Vorteile aus ihnen ziehen konnte.

Mit der Einführung des Privatfernsehens erobern Seifenopern und das sogenannte „Hartz-IV“-Fernsehen den Bildschirm. Neben der immer mehr zunehmenden Anzahl an Kanälen, die ein gemeinschaftliches TV-Erlebnis bald unmöglich machten, sind es vor allem diese Formate, mit denen Stimmung gegen Arbeitslose und sonstige als „Asis“ bezeichnete prekäre Bevölkerungsschichten gemacht wird.

Ganze Generationen wuchsen ab den 1980ern mit dieser neokonservativen „Gehirnwäsche“ auf, immer nach dem Motto „meinen Kindern soll es mal besser gehen“ und „Regeln gelten sowieso nur für die anderen“. Das Aufkommen der Computer und später der sozialen Medien und Netzwerke förderten die soziale Vereinzelung, können aber allein dafür auch nicht verantwortlich gemacht werden, denn die gesellschaftlichen Wurzeln dazu wurden bereits vorher gelegt.

Aber auch im privaten Umfeld machten sich diese Veränderungen allmählich nach und nach bemerkbar, vor allem als der eigene Nachwuchs Kindergärten und Schulen anvertraut wurde. Als vor den 1990ern sozialisierter und erzogener Mensch stand ich manchmal jüngeren Erwachsenen, die völlig selbstverständlich für sich und ihre Kinder Dinge in Anspruch nahmen, die sie anderen mit gleicher Gewissheit verweigerten, völlig sprachlos gegenüber. Ebenso wenig vermochte ich zu verstehen, wie man „Freundschaften“ einfach so aufkündigen konnte, wenn der andere einem nicht mehr von Nutzen war.

So langsam begann ich zu begreifen, dass da zwischen den Generationen Unterschiede bestanden, die weit über das normale Maß hinausgingen. Auch wenn es natürlich viele jüngere Leute gab und gibt, die einen solchen Mangel an Empathie und Mitgefühl nicht besitzen, war ich doch erschrocken, wie sehr die Weltbilder auseinanderliegen können. Was mir allerdings fehlte, war ein Ansatz, der irgendwie für eine Erklärung dieser Wahrnehmungen herhalten konnte.

Diesen erhielt ich erst bei der Lektüre des Buches „Meinungsmache“ (2009) von Albrecht Müller, in dem dieser z.B. folgende Sätze schrieb:

Zwischen den Siebzigern und heute verschoben sich die herrschenden Ideologien. Unser Land wird heute von anderen Ideen beherrscht als damals, vor allem aber ist unter den Ideologien jeglicher Wettstreit versiegt. Es gibt nur noch die eine Lehre, die neoliberale, in deren Glaubensbekenntnis Deregulierung, wirtschaftliche Liberalisierung, Privatisierung, der Rückzug des Staates, „Freie Fahrt für freie Bürger“ (als Formel für den hemmungslosen Umgang mit den natürlichen Ressourcen) und die Umverteilung zugunsten der Besserverdienenden dominieren.

Deutschland wird heute von neoliberaler Ideologie und Praxis beherrscht…
Helmut Kohl etwa sprach von der „geistig-moralischen Erneuerung“ und leitete hinter diesem Paravent eine Politik zur Kommerzialisierung aller Lebensbereiche ein. Tatsache ist, dass diese neoliberale Ideologie heute bei uns nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche okkupert hat: die Politik, die Wirtschaft sowieso, weite Teile der Wissenschaft und der Medien, sogar die Kunst, die Philosophen, die Historiker, das Bildungsbürgertum und die konservativen Intellektuellen.

Das war das große Aha-Erlebnis. Zum ersten Mal las ich einen logischen, aber natürlich nicht unumstrittenen Ausgangspunkt für eine weitreichende Analyse der heutigen Gesellschaftsverhältnisse und einen möglichen dahinführenden Weg. Andere Ansätze, wie etwa die „linke Durchsetzung“ wichtiger Volksgruppen und Meinungsbildner vermochten mich nicht zu überzeugen, da heute die Gewinner und Profiteure dieser Veränderungen ganz klar im konservativen Milieu und unter den sogenannten „oberen Zehntausend“ zu finden sind, während sich linke Ideen und linke Einflussnahme auf Presse und Medien eindeutig im Rückzug befinden.

Stattdessen war es ja die rot-grüne Regierung Schröder, die mit der Agenda 2010 und Hartz IV endgültig die „echte“ Sozialdemokratie der 1970er Jahre beendete und die Hoffnung auf eine Rückkehr linker Politik zunichte machte. Seitdem ist es der Konservatismus einer nur an Machterhalt tatsächlich interessierten Merkel-Partei, der die entscheidenden Strömungen in Gesellschaft und Medien formt und abbildet, liebdienerisch den radikalen Organisationen des Unternehmertums folgend, die offen immer wieder neoliberale Parolen vorbeten.

Doch ohne eine strikte Abkehr vom solidarischen Verhalten, dem Mitgefühl für andere oder einfacher gesagt einem Blick über den Tellerrand von Ichsucht und Egoismus hinaus wäre eine solche Veränderung der Gesellschaft niemals möglich gewesen. Das ideale Instrumentarium für diese Art von „Revolution“ ausgehend vom öffentlichen Raum bis in die Intimität vieler Familien hinein aber bot vor allem der „Homo Oeconomicus“ der neoliberalen Theorie, der den Vorzug der einzelwirtschaftlichen Sichtweise und des individualistischen Liberalismus mit Staatsferne und dem unternehmerischen Wettbewerbsgedanken verquickte und als beste aller Lösungen präsentierte.

Ich begann nun immer besser zu verstehen, wie diese marktradikale „Umformung“ der Gesellschaft über die Jahrzehnte verlief und sich in den Köpfen, Vorstellungen und Handlungsweisen der Menschen verankerte. Jetzt waren auch die extremen Auswirkungen wie etwa das völlige Fehlen von Reue bei vielen Gewalttätern oder die sprunghafte Zunahme an blutigen Amokläufen in der westlichen Welt seit den 1980er Jahren viel besser erklärbar, die vor allem auf den Abbau von Tugend und Moral zulasten einer regellosen Selbstsucht zurückzuführen sind.

Meiner Ansicht nach kann man daher die „Bonner Wende“ von 1982 durchaus als Ausgangspunkt für unbegreifliche Geschehnisse wie das oben angeführte Wegsehen der Bankkunden ansehen, denn mit ihr wurde die neoliberale Saat eines solchen Verhaltens ausgelegt. Über die Jahrzehnte und Generationen fand sie immer mehr fruchtbaren Boden, auf dem der egoistische Wettbewerbsgedanke mit gleichzeitig abnehmender Empathie dank entsprechender Unterstützung durch die Medien wunderbar gedieh.

Nun mag sich so mancher Leser natürlich denken, ist ja alles schön und gut und diese These kann man ja auch so vertreten, aber was bringt mir das, wenn nicht gleichzeitig Lösungsansätze für dieses weitreichende Dilemma angeboten werden können. Ich bin allerdings der Ansicht, dass man erst einmal, bevor man sich um Mittel und Wege bemüht, dieser gesellschaftlichen Fehlentwicklung entgegenzutreten, eine für alle Institutionen und Gruppen akzeptable Problem-Beschreibung entwerfen sollte.

Daran hapert es aber offensichtlich noch gewaltig, da es zwar über die wirtschafts-politischen Auswirkungen der neoliberalen Ideologie jede Menge kritische Unter-suchungen und Lesenswertes vor allem im Internet zu finden gibt, die gesellschafts-politischen Folgen dieser jahrzehntelangen Indoktrination allerdings zumeist nur sehr stiefmütterlich oder gar nicht behandelt werden oder wurden. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellen dabei die Bücher u. a. von Albrecht Müller (siehe hier) sowie die Diplomarbeit Denkgifte des Psychologen Thomas Gerlach dar.

Sie sind hervorragende Ansatzpunkte, um sich in diese Thematik einarbeiten bzw. sich mit ihr auseinandersetzen zu wollen. Vor allem für das Verständnis der Auswirkungen der neoliberalen Revolution bis weit in den öffentlichen und privaten Raum hinein bieten sie einige recht gute Erklärungsansätze. Mir ist es vor allem wichtig, mit diesem Blogbeitrag einen aufklärerischen Blick in diese Richtung zu werfen, aber auch um zum Schluss eine Verbindung zu den ökonomischen Folgen herzustellen:

Die Beschränkung auf das eigene Ich, d.h. der für das Funktionieren der neoliberalen Idee offenbar notwendige Egoismus erschwert meines Erachtens nach erheblich das Denken in gesamtwirtschaftlichen Kategorien. Stattdessen wird oft die Sicht des Einzelwirtschaftlers widerspruchslos auf die Rolle des Staates und die Gesamtheit aller Volkssubjekte angewandt (wie es u. a. die beiden deutschen Ökonomen Wilhelm Lautenbach und Wolfgang Stützel schon lange vor mir angeprangert haben). Dieser falschen Auffassung von der Wirtschaft eines ganzen Landes entgegenzutreten, ist auch eines der Hauptziele dieses Blogs.