Vorspiel zur Krise: Long-Term Capital Management 1998

Sechs Stunden dauerte das Treffen der mächtigsten Bankiers und Spekulanten in der New Yorker Zentralbank.
Einige der größten Finanztycoone der Welt, darunter die Vorsitzenden bzw. Hauptteilhaber der Travelers Group bzw. Citigroup, von Goldman Sachs, von Merill Lynch, von J.P. Morgan & Co. und eines Dutzend weiterer Unternehmen, darunter auch der Deutschen Bank und der Dresdner Bank hatten sich dort eingefunden, um unter dem Vorsitz des Präsidenten der New Yorker Federal Reserve (Fed) zu tagen.

Federal Reserve Bank of NY, 33 Liberty Street

Na ja, denkt sich da der geneigte Leser, das kennen wir doch alles schon, diese Sitzungen gab es doch häufiger, um den fatalen Auswirkungen der globalen Finanzkrise ab 2007 zu begegnen.

Doch dieses Treffen fand bereits am 23. September 1998 statt, und es ging natürlich noch nicht um die Folgen der Finanzkrise, sondern „nur“ um die Auswirkungen des drohenden Zusammenbruchs des Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM), dessen Eigenmittel in dramatischen Ausmaßen dahinschwanden.

„Das Vakuum, das die Nickels von der Straße aufsaugt, die sonst keiner sehen will“

Es war 1994 ein besonderes Ereignis in der Finanzwelt, als John Meriwether, ehemaliger Top-Händler der Investmentbank Salomon Brothers einen neuen Hedgefonds auflegte. LTCM war von Anfang an ein Fonds der Superlative. Fast 1,3 Milliarden US-Dollar zahlten 80 Investoren damals ein, vor allem deshalb, weil Meriwether zur Creme de la Creme der Investment-Szene zählte.

Aber auch, weil mit Myron S. Scholes und Robert Carhart Merton zwei weitere Koryphäen auf dem Gebiet der Finanzwissenschaften, die 1997 für ihre auf dem Black-Scholes-Modell beruhende Optionspreistheorie den „Wirtschaftsnobelpreis“ erhalten sollten, von Anfang an mit ihren Namen für das Renditemodell des Fonds einstanden.

Die Strategie von LTCM zielte darauf ab, Arbitrage-Gewinne durch die Ausnutzung von Bewertungsdifferenzen zu erreichen, die sich in kurzer Zeit auf unterschiedlichen Märkten oder zwischen unterschiedlichen Wertpapieren ergaben. Dabei konzentrierte man sich vor allem auf sehr große Volumina von an sich nur geringe prozentuale Gewinne abwerfenden Geschäften, eben sogenannten „Nickels“, welche man mit einer Staubsauger-Strategie einsammeln wollte.

Um aber dabei ausreichende Erträge zu erwirtschaften, mussten neben dem Eigenkapital sehr hohe Kredite aufgenommen werden. LTCM operierte damals mit einem Hebelfaktor (Leverage) von 30, durch den jeder Gewinn des Fonds praktisch um das Dreizigfache „gehebelt“ wurde.

In den ersten drei Jahren ihres Wirkens konnten Meriwether und Co. mit LTCM dann auch spektakuläre Renditen in Höhe von 20, 43 und 17 Prozent abliefern.
Anfang 1998 setze der Fonds neben 5 Milliarden Dollar Investoren-Einlage noch etwa 125 Milliarden Dollar Kredite ein, da die Erfolge für immer weitere Mittelzuflüsse, darunter auch günstige Darlehen von vielen Banken sorgten.

Angespornt von diesen ersten beeindruckenden Gewinnen erweiterte LTCM sein Geschäftsmodell und spekulierte fortan neben den ursprünglichen Arbitragegeschäften unter anderem auch mit Wertpapieren der sogenannten „Emerging Markets“.

Der Staat muss eingreifen

Doch die Erfolgsgeschichte des Fonds fand im Laufe des Börsenjahres 1998 ein plötzliches Ende. Als im August die durch massive Kapitalabflüsse ausgelöste russische Wirtschaftskrise den dortigen Finanzmarkt zum Einsturz brachte (Russlandkrise) und die russische Regierung daraufhin den Rubel abwertete und seine Schuldenrückzahlungen einstellte, geriet LTCM in massive Schwierigkeiten.
Die Anleger zogen ihr Kapital Hals über Kopf aus den sogenannten „Schwellenländern“ ab und legten es in sicheren Anlagen, vor allem US-Staatsanleihen an.

Diese Reaktionen waren aber in den theorethischen Modellen, mit denen Meriwether, Scholes und Merton arbeiteten, schlicht nicht vorgesehen.

Der Wert von $1000 investiert in den Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM), $1,000 investiert in Aktien des Dow Jones (DJIA), und von $1,000 investiert in U.S. Staatsanleihen mit konstanter Fälligkeit (US Treasury)

So schrumpfte das Eigenkapital des Fonds im September 1998 auf nur noch 600 Millionen Dollar, zudem kam nun auf jeden Dollar verbliebener Investoren-Einlage ca. 250 Dollar Schulden.
Gleichzeitig hatten die Anlagen von LTCM so schwindelerregende Volumen erreicht, dass ein Umsteuern unmöglich wurde, ohne einen weiteren Kurssturz auszulösen.

Die missliche Finanzsituation des Fonds war mittlerweile allgemein bekannt, und so begannen etliche andere Marktteilnehmer ihrerseits mit erheblichen Summen gegen LTCM zu spekulieren.

Da auch fast jede größere Bank inzwischen an diesem Debakel beteiligt war, sei es durch gewährte Darlehen oder indem sie Positionen gegenüber LTCM hielten, drohten bald zusätzliche Konsequenzen das globale Finanzsystem weit über die Bedeutung des Fonds hinaus zu erschüttern.
Um einen möglichen Dominoeffekt zu verhindern, leitete die New Yorker Zentralbank schließlich eine groß angelegte Rettungsaktion ein.

Ein Konsortium von 14 Großbanken übernahm die Kontrolle über LTCM und verhinderte mit 3,6 Milliarden Dollar Kapitaleinlage den Zusammenbruch.

Nicht gelernte Lektionen

Anders als bei der Insolvenz von Lehman Brothers knapp zehn Jahre später war LTCM zwar offenbar nicht „too big to fail“, aber innerhalb des Finanzsystems so stark vernetzt, dass ein ganz ähnlicher Effekt erwartet und eine staatliche Rettungsaktion als „alternativlos“ gesehen wurde.

So hätte man aber auch aufgrund der Ereignisse um den Fall LTCM die notwendigen Schlüsse ziehen und die 2007 zur globalen Finanzkrise führenden Probleme eigentlich schon vorher klar erkennen müssen.

Eine immer weiter ausgehöhlte Regulierung, die zu immer mehr kreditfinanzierter Spekulation mit undurchschaubaren Finanzinstrumenten führte, an deren Ende letztlich der Staat einspringen mußte, um Schlimmeres zu verhindern. Dies war bereits 1998 eindeutig ersichtlich, wenn man es denn überhaupt sehen wollte.
Tatsächlich aber unternahm die Politik keinerlei Anstrengungen, um die Regulierung zu verbessern.

Weiterhin blieben Hedgefonds von den wesentlichsten aufsichtsrechlichen Bestimmungen befreit, für andere Finanzstrukturen wie etwa Conduits wurden sie erst gar nicht eingeführt.
Ganz im Gegenteil: 2008 war es auch für andere Finanzinstitute (und nicht nur für Hedgefonds) absolut normal, mit dem Dreißigfachen des Eigenkapitals verschuldet zu sein.

Auch 1998 galt noch die Hypothese von der uneingeschränkten Markteffizienz, die selbst von vielen Politikern und Notenbankern (einschließlich dem damaligen US-Zentralbanchef Alan Greenspan) völlig unkritisch „geglaubt“ wurde.

Ebenso war man damals schon der Ansicht, dass es keine „unberechenbaren“ Kursausschläge gab, bzw. auf absehbare Sicht sich Kurse wieder rational und von allein korrigieren würden.
Man hatte dabei schlicht die Möglichkeit des „Herdenverhaltens“ der Anleger außer Acht gelassen, die in Zeiten der Krise in Panik ihr Geld abzogen, auch wenn die Fonds-Manager immer wieder versicherten, es würde sich doch nur um eine vorübergehende Unterbewertung ihrer Positionen handeln.

Dazu kam dann noch ein völlig unzureichendes Risikomanagement bei LTCM, das fast ausschließlich auf theoretischen Modellen zum Marktrisiko beruhte. Hatte man in Simulationen einen Verlust von ca. 15 Prozent für ein ganzes Jahr veranschlagt, so übertraf die Wirklichkeit diese Stress-Tests bei weitem: 85 Prozent in nicht einmal einem halben Jahr waren in diesen Risikostudien schlicht nicht vorgesehen.

Die wichtigste Lehre aus dem Desaster von Long-Term Capital Management dürfte die einfache Einsicht sein, dass das Verhalten der Finanzmärkte auch mit den ausgeklügelsten und komplexesten theoretischen Rechenmodellen niemals gänzlich korrrekt dargestellt werden kann. Es wird immer ein Restrisiko an nicht rational erfassbaren und erklärbaren Verhaltensweisen sowie unerwarteten Marktereignissen und externen Einflüssen geben.

Im Hinblick auf die 2007 folgende schwere Finanzkrise wäre es ein Segen nicht nur für die Wertpapiermärkte gewesen, wenn die Gesetzgeber diese Lehren beachtet und in ihre Regularien mit hätten einfließen lassen.

Heute wissen wir, dass sie es fatalerweise nicht getan haben.