Michal Kalecki 1943: Politische Aspekte der Vollbeschäftigung – Teil 1

1. Eine solide Mehrheit der Ökonomen ist inzwischen der Meinung, dass selbst in einem kapitalistischen System Vollbeschäftigung durch ein Ausgabenprogramm der Regierung gesichert werden kann, sofern ein entsprechender Plan vorliegt um alle existierenden Arbeitskräfte in eine Tätigkeit zu bringen.

Michal Kalecki
Der polnische Ökonom Michal Kalecki (1899-1970)

Notwendige nicht vorhandene Rohstoffe könnten aus dem Ausland im Austausch gegen Exporte bezogen werden.

Wenn die Regierung öffentliche Investitionen tätigt (z. B. Schulen, Krankenhäuser und Autobahnen errichtet) oder den Massenkonsum subventioniert (durch Familienzulagen, Reduzierung der indirekten Steuern oder andere Zuschüsse, um die Preise für das Nötigste niedrig zu halten), und falls diese Ausgaben darüber hinaus mittels Kreditaufnahme und nicht durch Besteuerung (die sich nachteilig auf private Investitionen und Verbrauch auswirken könnte) erfolgen, könnte die effektive Nachfrage nach Gütern und Dienst-leistungen bis zu einem Punkt gesteigert werden, an dem Vollbeschäftigung erreicht würde.

Solche Staatsausgaben erhöhen die Erwerbstätigkeit nicht nur direkt sondern auch indirekt, da die höheren Einkommen zu einem sekundären Anstieg der Nachfrage nach Verbrauchs-und Investitionsgüter führen.

2. Es könnte hinterfragt werden, woher die Öffentlichkeit das Geld für die Kreditvergabe an die Regierung bekommen wird, wenn sie ihre Investitionen und ihren Konsum nicht einschränken. Um diesen Prozess zu verstehen, ist es meines Erachtens am besten, sich für einen Moment vorzustellen, dass die Regierung ihre Lieferanten mit Staatsanleihen bezahlen würde.

Diese Firmen werden diese Wertpapiere im allgemeinen nicht behalten wollen, sondern beim Kauf anderer Waren und Dienstleistungen in Umlauf bringen, bis diese Anleihen Personen oder Firmen erreichen, die sie als zinsbringende Vermögenswerte halten wollen.

In jedem Zeitraum wird der Gesamtanstieg der Regierungspapiere im Besitz von Personen und Unternehmen (vorübergehend oder endgültig) gleich den an die Regierung verkauften Waren und Dienstleistungen sein.

Somit sind alle Kredite an die Regierung gleichzeitig Waren und Dienstleistungen, deren Produktion durch Staatspapiere ‚finanziert‘ werden. In Wirklichkeit zahlt die Regierung für die Dienstleistungen nicht in Wertpapieren sondern in bar, gibt aber simultan auch Anleihen heraus und schöpft so das Bargeld wieder ab; das ist somit gleichbedeutend mit dem oben beschriebenen imaginären Prozess.

Was passiert jedoch, wenn die Öffentlichkeit nicht bereit ist, den gesamten Anstieg an Staatsanleihen zu absorbieren? Sie wird sie letztlich den Banken im Austausch gegen Bargeld (Banknoten oder Sichteinlagen) anbieten.

Sollten die Banken diese Angebote annehmen, so wird der geltende Zinssatz aufrecht erhalten. Wenn nicht, werden die Kurse der Wertpapiere fallen, was einen Anstieg des Zinssatzes bedeuten würde, und dies würde die Öffentlichkeit ermutigen, mehr Wertpapiere als Spareinlagen zu halten.

Daraus folgt, dass der Zinssatz von der Politik der Banken abhängt, insbesondere von der der Zentralbank. Wenn diese Politik darauf abzielt, den Zinssatz auf einem bestimmten Niveau zu halten, so kann dies leicht erreicht werden, egal wie groß der Betrag der staatlichen Kreditaufnahme ausfällt.

So war es bisher immer und so ist auch die Position in diesem gegenwärtigen Krieg. Trotz astronomischer Budgetdefizite hat sich der Zinssatz seit Anfang 1940 nicht erhöht.

3. Es kann natürlich beanstandet werden, dass durch Kreditaufnahme finanzierte Staatsausgaben eine Inflation verursachen. Darauf kann jedoch geantwortet werden, dass die von der Regierung geschaffene effektive Nachfrage wie jeder andere Anstieg der Nachfrage wirkt.

Wenn Arbeitskräfte, Pflanzen und ausländische Rohstoffe reichlich vorhanden sind, wird der Anstieg der Nachfrage durch eine Steigerung der Produktion ausgeglichen. Wenn jedoch der Punkt der Vollbeschäftigung der Ressourcen erreicht ist und die effektive Nachfrage weiter steigt, werden die Preise steigen, um die Nachfrage nach und das Angebot an Waren und Dienstleistungen auszugleichen.

(In dem Zustand der Überbeschäftigung von Ressourcen, wie wir ihn derzeit in der Kriegswirtschaft beobachten, wurde ein inflationärer Preisanstieg nur insoweit vermieden, als die effektive Nachfrage nach Konsumgütern durch Rationierung und direkte Steuern gedrosselt wurde.)

Daraus folgt, dass keine Angst vor Inflation besteht, wenn die staatliche Intervention auf Vollbeschäftigung abzielt, die effektive Nachfrage jedoch nicht über diese Grenze hinaus ansteigt.

Ein weiteres eher technisches Problem ist das der Staatsverschuldung. Wenn die Voll-beschäftigung durch mittels Kreditaufnahme finanzierter Staatsausgaben aufrechterhalten wird, so wird die Staatsverschuldung kontinuierlich steigen.

Dies muss jedoch keine Produktions- und Beschäftigungsstörungen mit sich bringen, wenn die Zinsen für die Schulden durch eine jährliche Kapitalsteuer refinanziert werden.

Das laufende Einkommen einiger Kapitalisten nach Zahlung der Kapitalsteuer wird niedriger und einiger anderer höher sein, als wenn die Staatsverschuldung nicht gestiegen wäre, aber ihr Gesamteinkommen wird unverändert bleiben und ihr Gesamtverbrauch wird sich wahrscheinlich nicht wesentlich ändern.

Darüber hinaus wird der Anreiz, in festes Kapital zu investieren, nicht durch eine Kapitalsteuer beeinflusst, da sie auf jede Art von Vermögen gezahlt wird.

Unabhängig davon, ob ein Betrag in bar oder in Staatspapieren gehalten oder in den Bau einer Fabrik investiert wird, wird dieselbe Kapitalsteuer darauf gezahlt, und somit bleibt der komparative Vorteil unverändert.

Und wenn Investitionen durch Kredite finanziert werden, sind sie eindeutig nicht von einer Kapitalsteuer betroffen, denn diese bedeuten keine Erhöhung des Vermögens des investierenden Unternehmers.

Somit sind weder der Konsum noch die Investitionen der Unternehmer vom Anstieg der Staatsverschuldung betroffen, wenn die Zinsen durch eine jährliche Kapitalsteuer finanziert werden.

(übersetzt aus Jacobin: Political Aspects of Full Employment by Michal Kalecki)