Die Hillsborough-Katastrophe – nach über 28 Jahren endlich Gerechtigkeit?

Nur wenige Meldungen in der heute so schnelllebigen Zeit lassen die Uhr nahezu still stehen. In der letzten Woche war es für mich wieder einmal soweit, denn eine aus dem normalen Rahmen fallende Nachricht sorgte dafür.

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Denkmal für die 96 Toten der Hillsborough-Katastrophe gegenüber
dem Stadion von Sheffield

Die Schlagzeile England: 28 Jahre nach Hillsborough-Katastrophe wird Anklage erhoben konnte ich in den folgenden Tagen einfach nicht mehr abschütteln. Warum? Nun, weil ich irgendwie schon immer, seit ich ein wenig mehr die Premier League verfolge, gerade dem FC Liverpool mit seinen fantastischen Fans eine Menge Sympathie entgegenbringe. Denn ebenso wie der FC Schalke 04 gehört auch dieser Verein zu den großen Traditionsclubs des europäischen Fußballs.

Und da war dann noch dieses geile Spiel in der Europa League gegen den BVB, als die „Reds“ von Jürgen Klopp seinen Ex-Verein nach einem 1:3-Rückstand an der Anfield Road noch mit 4:3 aus dem Wettbewerb warfen. Mindestens genauso beeindruckend wie den Ablauf dieser Begegnung fand ich die Choreographie der Liverpooler Fans vor dem Anpfiff, als sie zusammen mit den BVB-Anhängern den 96 Opfern der Katastrophe gedachten und inbrünstig „You’ll never walk alone“ sangen. Einer der wenigen richtig emotionalen Gänsehaut-Momente, von denen der immer mehr kommerzialisierte Sport Fußball nicht mehr so wirklich viele zu bieten hat.

Dieser Film spielte sich wieder in meinem Kopf ab, als ich die obige Nachricht im Internet und den sozialen Medien immer öfter nachlesen konnte. Meine Erinnerung an jenen 15. April des Jahres 1989 war allerdings nicht mehr so besonders. Ein paar Bilder und die Meldung in den TV-Nachrichten blieben noch übrig, sonst eigentlich nicht mehr viel. Also machte ich mich daran, im Netz meinem Gedächtnis wieder ein wenig auf die Sprünge zu helfen.

Auch heute noch lassen einem diverse Videos (u.a. eine Spielreportage des englischen Fernsehens der ersten Minuten) die Nackenhaare zu Berge stehen. Trotz des Abstandes von fast 30 Jahren gehen mir diese Szenen sehr nahe, denn damals war ich ähnlich alt wie viele der Opfer und ebenso ein Fußball-Fan und Stehtribünen-Benutzer (wie etwa fünf Jahre zuvor beim legendären 6:6 im DFB-Pokal gegen Bayern München, als der Stern eines gewissen Olaf Thon aufging, dies ist allerdings eine ganz andere Geschichte).

Die meisten Fakten dieser Tragödie sind inzwischen schon lange und ausführlich bekannt, doch manche Einzelheiten verstärken nur noch das unglaubliche Grauen, welches ich beim „Einlesen“ in die Materie immer stärker verspürte:

Unfassbar, dass diese Begegnung um 15:00 Uhr an jenem Tag überhaupt angepfiffen wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits 21 Menschen nicht mehr lebten, zu Tode gequetscht an den Zäunen im Eingangsbereich hinter der Westtribüne.

Unbeschreiblich, dass noch 6 Minuten gespielt wurden, als sich in dem als Käfig konstruierten Stehplatz-Block der Liverpooler Fans bereits unmenschliche Dramen abgespielt haben müssen.

Empörend, dass von 44 herbeigerufenen Ambulanzen nur Eine(!!) in den Stadion-Innenraum gelassen wird. Unglaublich, dass ein Polizist diese Maßnahme so rechtfertigte: „Wir ließen die Fans die erste Hilfe machen, sodass sie ihren Frust nicht an uns auslassen würden“.

Doch besonders niederträchtig erscheint mir das Verhalten eines Teils der britischen Zivilgesellschaft über Jahrzehnte nach dieser Katastrophe. Es wurde gelogen, betrogen, verschwiegen, vertuscht und bestochen was das Zeug hielt. Allen voran das Boulevardblatt „The Sun“, welches die Liverpool-Fans als Räuber, Vergewaltiger und Hooligans beschimpfte und erst 15 Jahre später ihre falschen Behauptungen zurücknahm. Aber auch verschiedene britische Regierungen übten sich in merkwürdiger Zurückhaltung, hatte man doch nach Heysel gerade die Liverpool-Anhänger nur allzu oft schnell und gern in die Rolle der „blutrünstigen Vandalen“ abgedrängt.

Eine Unterscheidung fand im jahrelangen Abnutzungskampf gegen die „Hools“ der 1980er und 90er Jahre leider oft nicht statt, wie heute neigte man dazu, alle „Fans“ in einen Topf zu werfen und pauschal zu verurteilen. Doch während für das Desaster in Brüssel tatsächlich die Hooligans von Liverpool hauptsächlich verantwortlich waren (allerdings gab es auch etliche Provokationen der Juventus-Anhänger und organisatorische wie bauliche Mängel), traf das auf die Tragödie von Hillsborough in keinster Weise zu.

Fast drei Jahrzehnte lang werden die Angehörigen und Freunde der 96 Opfer mit ihrer Trauer, den Schmerzen und Tränen, der Hilfslosigkeit und Wut allein gelassen, ja die Betroffenen als betrunkene Randalierer verunglimpft. Erst nach und nach kommt die Wahrheit ans Licht, werden die unfassbaren Versäumnisse und Fehler von Polizeiführung und Organisatoren offenbar. Und trotzdem dauert es 28 Jahre, bis es jetzt wirklich zu einer Anklageerhebung gegen einzelne Verantwortliche kommt.

Was bleibt noch? Natürlich die Tatsache, dass Hillsborough den englischen (und auch den europäischen!) Fußball grundlegend verändert hat: es gibt keine Stehplätze mehr, keine an Tigerkäfige erinnernde Absperrungen, die nur den einzigen Zweck besaßen, das grassierende Hooligan-Unwesen der 1990er einzudämmen. Doch diese Tragödie hat auch die Stimmung in vielen Arenen „getötet“, die heute eher an Konzertsäle denn an lebendige Fankurven erinnern.

Und hier gehen dann meine Gedanken weiter in die Stadien der Bundesliga: Was wäre Schalke heute ohne eine bebende „Nordkurve“, aus der laut und mitreißend „Die Legende vom Schalker Markt“ erschallt? Oder der BVB ohne die „Gelbe Wand“ und ihre durchaus gelungene Kopie des „You’ll never walk alone“?

Auf jeden Fall nicht mehr dasselbe wie bisher…