In Teil 1 dieser Serie über die volkswirtschaftlichen Aufgaben der Gewerkschaften identifizierten wir anhand des Buches „Marktpreis und Menschenwürde“ von Wolfgang Stützel die Beschränkung der Individualkonkurrenz der Arbeitnehmer untereinander als eine fundamentale Basis ihrer ordnungspolitischen Legitimation.
Sicherlich waren es zunächst die Gesetzgeber, die mit entsprechenden Arbeitszeitregeln Schutzvorkehrungen gegen die Gnadenlosigkeit der unmenschlichen Unterbietungs- konkurrenz einrichteten. Doch nach der Ächtung der Möglichkeiten zum Mehrangebot an Arbeitszeit blieb es den konkurrierenden Arbeitnehmern jedoch selbst überlassen, etwas gegen die nächste Eskalationsstufe bei der Vermeidung der Erwerbslosigkeit zu unternehmen.
Diese nächste „Waffe“ war nämlich nichts anderes als der Versuch, die anderen Arbeitnehmer durch die direkte Unterbietung der geforderten Lohnzahlung auszustechen. Doch dies führte dann sowohl die Beschäftigten als auch die Unternehmen selbst direkt in die nächste Rationalitätenfalle.
Um nicht als Arbeitsloser zu enden, hatte nach der Arbeitszeitbeschränkung jeder Arbeitnehmer ja nur noch die Möglichkeit, freiwillig auch bereit zu sein, für einen etwas niedrigeren Stundensatz zu arbeiten. Und nahm dann ein Unternehmer viele solcher Dumpinglohn-Angebote gnädigerweise an, so blieb aufgrund dieser kostengünstigen Vorteile für den Faktor Arbeit in dessen Betrieb seinen Mitbewerbern, wenn sie nicht aus dem Felde geschlagen werden wollten, nicht anderes übrig, als ihren eigenen Arbeitnehmern ebenso die Möglichkeit einzuräumen, für einen geringeren Lohn zu arbeiten, um damit auch die eigene Erwerbslosigkeit zu vermeiden.
Unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge kam Stützel zu folgender „Zentralfunktion von Gewerkschaften in einer Marktwirtschaft“:
Sie üben als Arbeitsangebots-Preiskartelle die menschlich eminent wichtige Funktion aus, den Arbeitnehmern die Möglichkeit abzuschneiden, sich gegenseitig durch Lohnunterbietung in die Rationalitätenfalle gnadenloser Verelendungskonkurrenz hineinzumanövrieren.
Dabei muss festgehalten werden, dass — anders als kraft vieler unpräziser Darstellungen dieser zentralen Gewerkschaftsfunktion vielfach vermutet wird — der eigentliche Gegner und primäre Adressat des zentralen tarifvertraglichen lmperativs, nicht unter Tariflohn zu gehen, gar nicht die Unternehmer sind, sondern die jeweils übrigen Arbeitnehmer. Ihnen soll die Waffe der Lohnunterbietung nicht mehr zu Gebote stehen.
Stützel, Marktpreis und Menschenwürde (1982), S. 80
Automatisch schütze dieses angebotsseitige „Preiskartell“ der Arbeitnehmer auch die Unternehmer davor, ihrerseits ebenfalls „in den Teufelskreis einer auch für sie unangenehmen Rationalitätenfalle zu geraten“. Die Gewerkschaften würden damit die Betriebe von dem Marktzwang befreien, im Konkurrenzkampf selbst mit unmenschlichen Maßnahmen Druck auf die Höhe der Stundenlohnsätze machen zu müssen.
Stützel schrieb weiter, „hätten ja auch nur einige Unternehmer Zugang zu dieser Waffe, so müssten die anderen, um zu überleben, zur selben Waffe greifen. Genau das aber bleibt ihnen dank des gewerkschaftlichen Arbeitsangebots-Preiskartells erspart“.
Der primäre Adressat dieser zentralen Funktion der Gewerkschaften, der Verhinderung der Arbeit unter Tariflohn, seien dabei allerdings gar nicht die Unternehmen, sondern die jeweils anderen Arbeitnehmer. Sie sollen die „Waffe der Lohnunterbietung“ nicht mehr einsetzen können.
Zur Auswirkung auf die Unternehmen zitierte Stützel dazu Günter Triesch, damals Leiter der Abteilung „Unternehmerische Politik“ im arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln mit den Worten:
Gleichartige Arbeits- und Entlohnungsbedingungen für eine Branche sichern auch die Unternehmen vor einer Konkurrenz zu Lasten der Arbeitnehmer.
Letztendlich stellte Stützel abschließend fest, dass er in dieser wichtigen Aufgabe keineswegs einen dogmatischen Gegensatz zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in der Form des oft gepredigten Klassenkampfes erkennen könne, sondern im Kontrast dazu eine für beide Seite sehr nützliche Einrichtung ähnlich einer „Friedensordnung“ oder einer „Abrüstungsvereinbarung“ sehe, die den „zulässigen Waffengebrauch“ zum Vorteil beider Parteien entscheidend einschränke.
Heute, dreißig Jahre später und nach dem Siegeszug des Neoliberalismus erscheinen solche damals durchaus ernstgemeinten Worte eines der FDP nahestehenden Volkswirtes sowie eines Interessenvertreters der Wirtschaft arg befremdlich, zeigen sie doch eindeutig, wie sehr sich das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmern verändert hat.
Weiter geht es in Teil 3 mit einem heute nahezu vergessenen Thema, der Rolle der Gewerkschaften als „Haltepflöcke von Papier-Währungen bei freien Wechselkursen“.