Die gesamtwirtschaftlichen Herausforderungen an die Gewerkschaften – Teil 1: Festlegung der Lohnsätze und Arbeitszeiten

Eine vor kurzem vom IWF vorgestellte Studie thematisierte den sinkenden Einfluss der Gewerkschaften in den Industrieländern und analysierte ihre Schwächen bei den Versuchen, eine gerechtere Einkommensverteilung zu erreichen.

Hamburg 1. Mai 2014 01

Diese Beurteilung der gewerkschaftlichen Arbeit durch eine eher als neoliberal bekannte internationale Institution möchte ich nun zum Anlass nehmen, einmal ein wenig zurückzublättern und anhand des 1982 erschienen Buches „Marktpreis und Menschenwürde“ von Wolfgang Stützel einen anderen Blick auf die Aufgaben der Gewerkschaften zu werfen.

Denn so manche damals gewonnene Erkenntnis ist heute nahezu verschollen und sollte vielleicht wiederbelebt werden, um in der aktuellen Diskussion über den Sinn und Zweck von Gewerkschaften neue Gesichtspunkte einzubringen.

Neben der Festlegung der Unterschiede in den Lohnsätzen der verschiedenen Arbeitnehmergruppen, mit denen die Knappheitsrelationen in den diversen Teilbereichen des Arbeitsmarktes auch von den Gewerkschaften mitgestaltet werden, um möglichst marktlagengerechte Entlohnungen zu erreichen, wies Stützel den Gewerkschaften weitere Funktionen zu.

Dabei war ihm auch wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass mit diesen Aufgaben ebenso wichtige gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge ins Spiel kämen, die seiner Ansicht nach die üblichen Lehren der neoklassischen Theorie von den immer positiven Auswirkungen des freien Spiels der Preise nicht ohne weiteres auf den Arbeitsmarkt übertragbar machten.

Dies träfe vor allem auf die Entwicklung des absoluten Niveaus der Löhne sowie die Festsetzung der sonstigen Arbeitsbedingungen zu. Anhand eines Beispiels legte Stützel dar, was passieren würde, wenn man die Gestaltung der Arbeitsbedingungen völlig dem freien „Markt“ zwischen Arbeitgebern und -nehmern überlassen würde. Solche Fälle habe es beim Übergang von der alten Handwerks- und Zünftewirtschaft hin zur modernen Industrieökonomie bis ca. 1850 auch hier sehr oft gegeben.

Als Rahmenbedingungen für sein Modell setzte er folgende Prämissen voraus:

1. Aus produktionstechnologischen Gründen bestehe für keinen der
Arbeitssuchenden die Möglichkeit, anders als durch abhängige Lohnarbeit den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu bestreiten.
2. Die Arbeiterfamilien leben am Existenzminimum.
3. Es gibt keine Arbeitslosenunterstützung, ebenso keine Beschränkungen bei den gesamten Jahresarbeitsstundenzahlen, die eine ganze Familie, alle Personen eingerechnet, anbieten darf. Es gibt keine Gewerkschaften, die ein Arbeits-Angebotspreiskartell aufstellen können.
4. Die Arbeiter agieren nicht organisiert und damit getrennt voneinander.
5. Es gibt bereits eine kleine Anzahl Arbeitsloser als „industrielle Reserve“, jedem Arbeiter droht also auch das Risiko der Erwerbslosigkeit.
6. Die Arbeiter haben keine Vermögen und es wird unterstellt, dass sie auch nichts „sparen“ können.

Stützel schlüsselte als Folge der Bedingungen eins bis vier – „kein Ausweg zur Bestreitung des für existenznotwendig gehaltenen Lebensbedarfs durch selbständige Eigenarbeit oder irgendwelche Arbeitslosenunterstützung“ – auf, dass die Beschäftigten auf eine Absenkung des realen Stundenlohnes anders als erwartet reagieren würden.

Sie würden nämlich nicht wie nach der vorherrschenden neoklassischen Theorie auf eine Lohnsenkung mit einer mengenmäßigen Einschränkung ihres Angebots reagieren. Stattdessen wäre es eher wahrscheinlich, dass die Arbeiter unter dem Zwang der Sicherstellung des Lebensunterhaltes für sich und ihre Familien nicht weniger, sondern mehr Arbeitsstunden anbieten würden, in Extremfällen auch durch Einbringung der Arbeitskraft von Kindern.

Und käme dann noch Bedingung Nummer 5 hinzu, das Vorhandensein einer Reservearmee an dauerhaft nicht Beschäftigten, durch die abgedrängte Arbeitswillige ohne vorhandene Arbeitslosenversicherung letztlich nicht mehr in der Lage wären, den ihnen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften zu realisieren, so würde zwangsläufig das Auftreten einer sogenannten Rationalitätenfalle unumgänglich werden.

In ihrem Bestreben, möglichst viele Arbeitsstunden anzubieten, um ihre Familien- einkommen wieder auf eine ausreichende Höhe zu bringen, würden die Arbeiter insgesamt den Stundenlohnsatz drücken. Dies könnte dann dazu führen, dass trotz eines erheblichen Mehrangebots an Arbeitszeit die Sicherung der Einkommen nicht mehr erreicht werden kann, da die Löhne zu stark sinken.

Im Gegenteil wird die immense Verlängerung der Familienarbeitszeit dazu führen, dass nicht die Arbeitnehmer, sondern nur die Unternehmer den Profit aus der Mehrarbeit ziehen können.

Aufgrund dieser nicht normalen Reaktion auf die Lohnsenkung wird die angebotene Menge an Arbeitskraft nicht reduziert, sondern vielmehr gesteigert, und das freie Spiel der Marktpreisbildung büßt seine ansonsten Funktion des menschenwürdigen Ausgleichs nahezu vollständig ein.

Diese „Verelendungskonkurrenz“, durch die sich der frühe Kapitalismus besonders „auszeichnete“ (die allerdings auch heutzutage wieder vermehrt auftritt), wurde erstmalig durch den Ökonomen Karl Marx erkannt und belegt. Marx kam dabei zu der Erkenntnis, dass die Arbeiter zum Schutz vor solcher Ausbeutung „als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen [müssen], ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen“.

Diese (Teil-)Würdigung der Marx’schen Lehre schrieb Wolfgang Stützel 1981 übrigens nicht als Arbeitnehmervertreter oder gar Kommunist, sondern als zukünftiges Mitglied des heute als neoliberal geltenden Kronberger Kreises und treuer FDP-Parteigänger. Aus heutiger Sicht nahezu unvorstellbar.

Weiter geht es in Teil 2 mit den Gewerkschaften als Schutzwall gegen menschenunwürdige Unterbietungskonkurrenz.