Beunruhigender Nebeneffekt der Einkommensungleichheit: die Mordrate

Einkommensungleichheit kann im gesamten ökonomischen Spektrum zu allen möglichen Problemen führen – aber am erschreckendsten ist dabei der Mord.

Actor lying behind caution tape
Schauspieler als Mordopfer hinter einem Absperrband liegend

Nach Ansicht von Martin Daly, dem emeritierten Professor für Psychologie an der McMaster University in Ontario, der diese Verbindung seit Jahrzehnten untersucht, prognostiziert die Ungleichheit – die Kluft zwischen den Reichsten und Ärmsten innerhalb einer Gesellschaft – Mordraten besser als jede andere Variable.

Sie ist enger an Mord gebunden als beispielsweise die direkte Armut oder der Drogen-missbrauch. Für die Weltbank durchgeführte Untersuchungen zeigen zudem, dass sowohl zwischen als auch innerhalb von Ländern etwa die Hälfte der Varianz der Mordraten auf das häufigste Maß für Ungleichheit zurückgeführt werden kann, den Gini-Koeffizienten.

Die Morde, die am meisten mit Ungleichheit in Verbindung gebracht werden, sind offenbar von mangelndem Respekt geprägt. Wie die meisten Tötungen werden diese meist von Männern begangen – und in Gesellschaften mit geringer Ungleichheit gibt es nur sehr wenige Morde.

Für einen Außenstehenden erscheinen diese Todesfälle, die mehr als ein Drittel der dem FBI gemeldeten Tötungsdelikte mit bekannten Motiven ausmachen, sinnlos: Ein Mann schaut jemanden falsch an, macht eine respektlose Bemerkung oder soll angeblich der Frau oder Freundin eines anderen Mannes zugezwinkert haben. Diese Vorfälle erscheinen eigentlich zu unbedeutend, um über Leben und Tod zu entscheiden.

„Als wohlhabender Typ kann ich, wenn mich jemand in einer Bar beleidigt, mit den Augen rollen und gehen“, sagt Daly. „Aber wenn es Ihre örtliche Kneipe ist, und Sie arbeitslos oder unterbeschäftigt sind und Ihre einzige Quelle für Status und Selbstachtung ihr Standing in ihrer Umgebung ist, erscheint es als Schwäche, die andere Wange hinzuhalten. Jeder weiß dann schnell, dass Sie ein leichtes Ziel darstellen.“

Einige Experten argumentieren, dass in diesen Fällen das eigentliche Problem die Armut darstellt, und nicht die Ungleichheit. Zum Beispiel sagt William Pridemore, Dekan für Kriminologie an der Universität von Albany, dass die Ungleichheitskorrelation ein methodologisches Artefakt ist. Er gibt ein theoretisches Beispiel für ein Land, in dem jeder sinnvoll beschäftigt ist, sich Urlaub und andere kleine Luxusgüter leisten kann und in einer sicheren Nachbarschaft mit kostenloser Gesundheitsfürsorge lebt – doch einige von ihnen sind Milliardäre.

Er fragt sich dabei, ob ein solcher Ort das gleiche Maß an Gewalt erleben würde wie die Gegenden, in denen die Menschen ganz unten in äußerster Armut leben. Während die Lücken zwischen den Sprossen auf der finanziellen Leiter in beiden Fällen identisch sein könnten, ist das Ausmaß der relativen Benachteiligung, das die Menschen an der untersten Stufe erleiden, möglicherweise nicht gleich. Es gehe vor allem darum, wie ein solch niedriger Status wahrgenommen werde.

Dies aber ist genau der Fakt, so Daly, der Statusunterschiede tödlich machen kann. Der Lebensstandard armer Menschen in den Industrieländern wäre heute aufgrund der Technologie jenseits der Träume früherer Könige – doch wir bewerten unseren sozialen Status nicht, indem wir uns mit mittelalterlichen Herzögen vergleichen. Wir schauen uns vor allem die Menschen um uns herum an.

Diese spezifische und meist lokale Ebene des Vergleichs kann wiederum eines der größten Rätsel der Mord- und Ungleichheitsforschung erklären. Warum ist die Mordrate in den USA in den letzten Jahren immer noch weiter zurückgegangen, obwohl die Ungleichheit gleichzeitig in die Höhe geschossen ist?

Eine Erklärung wäre die Zeitverzögerung: Es dauert eine Weile, bis die Menschen ihren Statusverlust erkennen, während die Mittelschicht erodiert, und sie stürzen entweder nach unten oder treten der kleinen Minderheit an der Spitze bei. Tatsächlich sind die Mordraten in letzter Zeit nicht mehr gefallen und könnten sogar steigen. Und wir haben Anstiege bei dem ausgemacht, was als „Todesfälle aus Verzweiflung“ bezeichnet wird, wie Selbstmord und Überdosierungen von Opioiden, die von der Forschung auch mit Ungleichheit in Verbindung gebracht werden.

Eine andere mögliche Erklärung ist, dass, wenn sich reichere Menschen in immer exklusivere Gemeinschaften zurückziehen, ihr virtuelles Verschwinden ein lokales Ansteigen der Ungleichheit verdeckt, welches aber von früheren Nachbarn so empfunden wird. Eine Gesellschaft, in der Millionen Probleme haben ihre Studentendarlehen zu bezahlen und ein vernünftiges Einkommen zu erzielen, während sie die US-Bildungsministerin Betsy DeVos – eine Frau mit enormem Reichtum – dabei beobachten, wie sie das Bildungsbudget senkt und gleichzeitig ausbeuterische gewinnorientierte Schulen schützt, kann wahrscheinlich nicht sicher und stabil sein.

Wenn Männer wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich selbst oder ihre Kinder haben, erhalten Kämpfe darum, welchen Status sie noch haben eine übergroße Bedeutung. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen muss jeder erkennen, dass niemand ein Interesse daran hat solche Leiden weiter eskalieren zu lassen.

(Eigene Übersetzung eines Beitrages der amerikanischen Journalistin Maia Szalavitz)