„Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte“

Wurde der Westen durch die Erweiterung der NATO und der EU in Europa nach dem Fall der Sowjetunion in ein falsches Gefühl der Sicherheit gewogen?

Battle of Hostomel, 04.03.2021, Stuck Russian BMD-4
Zerstörter russischer Luftlandepanzer BMD-4 in Hostomel, Ukraine, März 2022

„Ein Mensch, der es gewohnt ist auf eine Weise zu handeln ändert sich nie; er muss in den Ruin gehen, wenn die Zeiten die sich ändern nicht mehr im Einklang mit seinen Wegen sind“ – Niccolo Machiavelli

Es versteht sich von selbst, dass Russlands Invasion in der Ukraine eine ungerechtfertigte Travestie ist, eine Verletzung der Menschenrechte und dass Putin ein verrückter Diktator ist. Aber in diesem Artikel geht es nicht darum, wie schlimm / ungerechtfertigt / verwerflich der Krieg gegen die Ukraine ist – es ist eine Analyse der Situation und was sie möglicherweise verhindert hätte, indem man durch eine Linse der Realpolitik schaut.

Lassen Sie uns zunächst in der Zeit zurückgehen. Am Abend des Weihnachtstages 1991 senkten die Wachen die sowjetische „Hammer und Sichel“-Flagge auf dem Roten Platz und ersetzten sie durch die russische Trikolore. Als die Sonne unterging, sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinne über dem Russischen Reich, wurde auch Russlands globale Vormachtstellung ausgelöscht.

Vor ihrer Auflösung war die Sowjetunion die zweit- oder drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Ihr Militär war nach den Vereinigten Staaten an zweiter Stelle und übte erheblichen politischen Einfluss aus, vom kommunistischen Kuba bis nach Nordkorea.

1999 auf dem Washingtoner Gipfel, einige Monate bevor Wladimir Putin amtierender Präsident Russlands wurde (am 31. Dezember)traten Polen, Ungarn und die Tschechische Republik der NATO bei, trotz des russischen Widerstands. Das Baltikum und mehrere andere osteuropäische Länder folgten 2004 und brachten somit das mächtigste Militärbündnis der Welt direkt vor die Haustür Russlands.

All dies geschah während Russland am schwächsten war, sein BIP etwa halb so hoch war wie das Deutschlands (heute sind sie weitgehend gleich groß), seine Wirtschaft aus dem sowjetischen System umstrukturiert wurde und das Militär infolge der Wirtschaftskrise unterfinanziert war. An der Spitze dieser geschwächten Nation stand ein Mann, der 2005 die Auflösung der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ bezeichnete.

„Wenn einem Mann eine Verletzung zugefügt werden muss, sollte sie so schwerwiegend sein, dass seine Rache nicht befürchtet werden muss“ – Niccolo Machiavelli

Aus realpolitischer Sicht war die Zeit nach 1990 der günstige Zeitpunkt um die NATO zu erweitern. Russland war am schwächsten und konnte relativ wenig tun, um diese Expansion zu verhindern – es hatte mit zu vielen internen Problemen zu kämpfen.

Ungeachtet dessen lohnt es sich zu beobachten, dass schon zu diesem Zeitpunkt bestimmte Elemente innerhalb Russlands die Erweiterung der NATO insgesamt als Bedrohung wahrnahmen. Es gibt einige Hinweise darauf, dass der Westen Russland die Zusicherung gegeben haben könnte, dass die NATO nicht so stark expandieren würde, wie sie es letztendlich getan hat. US-Außenminister James Baker soll Gorbatschow versichert haben, dass die NATO „keinen Zentimeter nach Osten“ expandieren werde.

Dieses Argument ist jedoch etwas theoretisch. Aus realpolitischer Sicht war es der richtige Zeitpunkt, um zu expandieren und sicherzustellen, dass Russland, ein von Natur aus mächtiges Land aufgrund seiner Bevölkerung und Ressourcen es viel schwieriger finden würde, jemals wieder zu einer Bedrohung zu werden. Fäden der Realpolitik und des Eigeninteresses finden sich in der Politik der damaligen US-Regierungen.

Beamte der Bush-Regierung (1989-1993) schienen daran interessiert zu sein den Einfluss der USA auszuweiten. Unter der Clinton-Regierung scheint Außenministerin Madeline Albright die zukünftige Bedrohung zu erkennen, die Russland darstellen könnte, und die Rolle, die die NATO bei der Verringerung dieser Bedrohung spielen könnte, und stellte in einer Zeugenaussage vor dem US-Senat fest, dass die Vereinigten Staaten:

„die Möglichkeit nicht ausschließen können, dass Russland zu den Mustern der Vergangenheit zurückkehren könnte. Daher trug die Erweiterung der NATO dazu bei, den Weg zu noch zerstörerischeren Alternativen in Russlands Zukunft zu versperren“.

Wenn das der Plan war, dann hat es funktioniert. Die Aussicht, dass Russland jemals zu einem Land wird, das sich der militärischen und wirtschaftlichen Macht der Sowjetunion annähert erscheint ziemlich unwahrscheinlich, angesichts des Grades der politischen und wirtschaftlichen Integration der meisten Länder der ehemaligen Einflusssphäre Russlands in der NATO und der EU.

Was haben Georgien und die Ukraine gemeinsam?

Vier Dinge:
1. eigene Bestrebungen, der NATO beizutreten (im laufenden Dialog),
2. eigene Grenzen zu Russland,
3. den Nichtbeitritt zur NATO vor 2004 und
4. anhaltende territoriale Streitigkeiten mit Russland

Es ist offensichtlich, dass diese Faktoren alle zusammenhängen, wobei einer zum anderen beiträgt. Die Ukraine und Georgien versuchten beide, der Party sozusagen erst spät beizuwohnen, was die NATO betrifft. Georgien „wandte sich nach der Rosenrevolution 2003 nach Westen“ und verfolgte eine pro-westliche Außenpolitik und die NATO-Mitgliedschaft.

Russland marschierte fünf Jahre später im Jahr 2008 ein und schreibt dem Krieg zu, dass er die Aussicht auf einen NATO-Beitritt Georgiens beseitigt hatte. Die Situation in der Ukraine (Euromaidan-Aufstand, 2013-2014), gefolgt von der Eroberung der Krim, kann im selben Kontext gesehen werden.

Nach den frühen 2000er Jahren befand sich Russland an einem wesentlich anderen Ort als in den 1990er Jahren – als Polen, das Baltikum und andere wichtige osteuropäische Nationen Gespräche über den Beitritt zur NATO aufnahmen. Bis 2008 hatte Russland einen langen, blutigen Krieg / Aufstand in Tschetschenien weitgehend gewonnen, und seine Wirtschafts- und Verteidigungsausgaben waren seit 2000 um das Fünffache gestiegen.

Der russische Handel mit Europa hatte ebenfalls zugenommen, wobei die kritischen Kraftstoffexporte zwischen 2000 und 2008 fast um das Siebenfache gestiegen sind und seitdem weiter zugenommen haben. Es genügt zu sagen, dass Russland in einer viel stärkeren Position war, um seine nationalen Interessen durchzusetzen (gerechtfertigt oder nicht) und es erscheint klar, dass der Kreml die pro-westliche Ausrichtung der georgischen und dann der ukrainischen Regierungen nicht als im nationalen Interesse Russlands ansah.

Es lohnt sich festzuhalten, dass Russlands Handeln um „seine Interessen zu schützen“ (zu Recht oder zu Unrecht) in den nahe gelegenen Ländern, für ein Land wie die USA kein unbekanntes Thema ist. Die US-Außenpolitik hat sich oft genug darauf konzentriert, Amerika als Teil der „Einflusssphäre“ der USA zu zählen. Ein Begriff, der durch langjährige und häufig neu interpretierte Grundsätze wie die Monroe-Doktrin immer wieder untermauert wurde.

Den USA war es auch nicht fremd, demokratisch gewählte Regierungen zu stürzen, um ihre Interessen zu schützen – während des Kalten Krieges handelten die Vereinigten Staaten, um eine Reihe demokratisch gewählter marxistischer Regierungen in Südamerika zu stürzen, und schienen rechte Diktatoren linksdemokratisch gewählten Führern vorzuziehen. Der Punkt ist – die USA hätten die Gefahr, die von Russland ausgeht, angesichts ihres eigenen historischen Verhaltens erkennen müssen.

„Weisheit besteht darin, zu wissen, wie man die Natur des Problems unterscheidet und das kleinere Übel wählt“ – Niccolo Machiavelli

Die obige Diskussion, die sich speziell auf den aktuellen russisch-ukrainischen Krieg konzentriert, legt nahe, dass die NATO (und übrigens auch die EU) die Situation nach dem Wiederaufstieg Russlands als mächtiges Land in den frühen 2000er Jahren vielleicht anders hätten handhaben können oder müssen.

Die Aussicht auf eine NATO/EU-Mitgliedschaft der Ukraine zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem 17. Februar 2022 auszusetzen, hätte die ukrainischen politischen Eliten dazu zwingen können, einen ausgewogenen Ansatz zu verfolgen, die Beziehungen zum Westen so weit wie möglich zu verbessern und gleichzeitig Moskau zu beschwichtigen. Mit der Aussicht auf eine NATO- oder EU-Mitgliedschaft vom Tisch hätte die Ukraine zu einer Art Pufferstaat werden können und ein Krieg hätte abgewendet werden können.

Wir könnten noch einen Schritt weiter gehen und davon ausgehen, dass die NATO der Ukraine (und Georgien) einen schlechten Dienst erwiesen hat, indem sie die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der Art und Weise in Aussicht stellte wie sie es getan hat.

Auf dem Bukarester NATO-Gipfel 2008, an dem Putin teilnahm begrüßte die NATO die Aussicht auf eine Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine und vereinbarte, dass „diese Länder Mitglieder der NATO werden“. Auf dem Brüsseler Gipfel 2021 bekräftigten die Staats- und Regierungschefs der NATO, dass die Ukraine letztendlich Mitglied des Bündnisses werden würde.

Um es noch einmal klar zu sagen – auf keiner Ebene stimmt der Autor der russischen Invasion der Ukraine aus einer moralischen oder geopolitischen Perspektive zu. Alle Länder haben das Recht auf Selbstbestimmung und die Bemühungen von Selenskyj und dem ukrainischen Volk verdienen den höchsten Respekt.

Aber… um noch ein weiteres Machiavelli-Zitat in diesem Artikel zu verwenden – „Politik hat nichts mit Moral zu tun.“ Gerade nach dem Georgienkrieg 2008 hätte die NATO vielleicht sehen müssen, dass ein weiterer Ausbau des Bündnisses dazu dienen würde, Russland zu verärgern und die Aussicht auf einen Krieg in Europa zu erhöhen.

In diesem Zusammenhang war es wohl unverantwortlich, der Ukraine öffentlich eine Mitgliedschaft weiterhin in Aussicht zu stellen, in Ermangelung einer anderen Lösung, mit der auch Russland glücklich geworden wäre.

Schließlich hätte die NATO niemals Tatsachen schaffen dürfen, um mitzuhelfen die Ukraine zu verteidigen, ohne dass sie die Mitgliedschaft erhalten hätte, und es erscheint im Rückblick klar, dass Russland immer vor der Erlangung der Mitgliedschaft einmarschiert wäre.

Vielleicht waren im geopolitischen Kontext der damaligen Zeit die Bemühungen der Ukraine, der NATO beizutreten immer umsonst und dienten nur dazu, einen Krieg unvermeidlich zu machen.