Die Historikerin Barbara Tuchman geht in ihrem Buch „The March of Folly: From Troy to Vietnam“ der verwirrenden Frage nach, warum Länder manchmal eine Politik verfolgen, die ihren eigenen Interessen grundlegend zuwiderläuft.

Ein brennendes Fahrzeug in der Ukraine, Februar 2022
Diese Frage hat zuletzt wieder an Aktualität gewonnen, da Europa sich momentan in eine immer tiefere und irrsinnigere Spirale in Sachen Ukraine einreiht.
Wenn dieser Marsch des Wahnsinns nicht beendet wird, wird das schwerwiegende Folgen für Europa haben, doch das ist eine große politische Herausforderung. Es muss erklärt werden, wie Europa durch seine eigene Ukraine-Politik geschädigt wurde; wie Europa durch eine Verdoppelung dieser Politik weiter geschädigt werden könnte; wie der Marsch der Torheit politisch verkauft wurde; und warum das politische Establishment darauf beharrt.
Die politisch-ökonomischen Kosten der Torheit
Auch wenn Europa (insbesondere Deutschland) nicht direkt in den Ukraine-Konflikt involviert ist, gilt es als ein großer Verlierer des Konflikts, da die Wirtschaftssanktionen auf die europäische Wirtschaft zu-rückgeworfen haben.
Billige russische Energie wurde durch teure Energie aus den USA ersetzt. Dies hat den Lebensstandard gesenkt, die Wettbewerbsfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes untergraben und zu einer höheren europäischen Inflation beigetragen.
Europa hat auch Russlands riesigen Markt verloren, auf dem es Industriegüter verkaufte und der auch Investitions- und Wachstumsmöglichkeiten bot. Darüber hinaus hat sie die verschwenderischen Ausgaben der russischen Elite verloren. Diese Kombination erklärt die stagnierende europäische Wirtschaft. Darüber hinaus ist die wirtschaftliche Zukunft Europas erheblich gefährdet, da sein Marsch des Wahnsinns diese Auswirkungen dauerhaft machen wird.
Auch der massive Zustrom ukrainischer Flüchtlinge hat negative Folgen gehabt. Das hat den Lohn-wettbewerb nach unten verschärft und die Wohnungsknappheit verstärkt, was zu einem Anstieg der Mieten geführt hat. Er hat auch Schulen und soziale Dienste belastet und die Sozialausgaben erhöht.
Diese Auswirkungen betrafen alle europäischen Länder, am größten waren sie jedoch in Deutschland. In Kombination mit den negativen wirtschaftlichen Auswirkungen hat dies zu einer Verschlechterung der politischen Stimmung beigetragen, was den Aufstieg der protofaschistischen Politik, wiederum vor allem in Deutschland, erklärt.
Die große Lüge und der Verkauf der Torheit
Die „Große Lüge“ ist eine Idee, die Adolf Hitler in „Mein Kampf“ einführte. Die Behauptung ist, wenn eine grobe Verzerrung von Tatsachen, die mit populären Vorurteilen zusammenhängt, wiederholt behauptet wird, wird sie schließlich als Wahrheit geglaubt werden.
Die Große Lüge wurde in der Praxis von dem Nazi-Propagandisten Joseph Goebbels perfektioniert. Viele Gesellschaften nutzen es jedoch bis zu einem gewissen Grad, und das politische Establishment Europas hat es großzügig benutzt, um den aktuellen Marsch des Wahnsinns zu verkaufen.
Eine große Lüge ist die Wiederbelebung des Narrativs vom Appeasement von München 1938, in dem behauptet wird, Russland werde in Mitteleuropa einmarschieren, wenn es in der Ukraine nicht besiegt wird. Diese Lüge greift auch auf die Überreste der Dominotheorie des Kalten Krieges zurück, die behauptete, dass der Vormarsch der Sowjetunion in einem Land eine Welle des Zusammenbruchs in anderen Ländern auslösen würde.
Das Appeasement-Narrativ ermutigt auch zu grotesk unangemessenen Vergleichen von Präsident Putin mit Adolf Hitler, was eine zweite große Lüge des manichäischen Moralismus nährt, die Russland als böse und Europa als gut darstellt. Dieser Rahmen schließt aus, dass der Westen für die Provokation des Konflikts durch die NATO-Osterweiterung und das Schüren antirussischer Stimmungen in der Ukraine und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken verantwortlich gemacht wird.
Eine dritte große Lüge betrifft Russlands militärische Macht. Das Argument lautet, Russlands Macht stelle eine existenzielle Bedrohung für Mittel- und Osteuropa dar, was dann dem Vorwurf des rus-sischen Expansionismus Glaubwürdigkeit verleihe.
Es gibt keine Algebra, die das widerlegen kann, aber die Aufzeichnungen auf dem Schlachtfeld legen etwas anderes nahe. Das Gleiche gilt für die Bewertung der wirtschaftlichen Basis Russlands, die im Vergleich zu der der NATO-Länder klein ist, und Russland hat auch eine alternde, schrumpfende Bevölkerung.
„Münchner Appeasement“, „russischer Expansionismus“, „Russland als Böses“ und „Russlands militärische Bedrohung“ sind fiktive Klischees, die darauf abzielen, Russland jede Legitimität abzusprechen und gleichzeitig die westliche Aggression zu rechtfertigen und zu verschleiern.
Es gab nie einen Beweis dafür, dass Russland Westeuropa kontrollieren wollte, weder im Kalten Krieg noch heute. Stattdessen wurde Russlands Intervention in der Ukraine vor allem von nationalen Si-cherheitsängsten angetrieben, die durch die westliche NATO-Erweiterung hervorgerufen wurden, über die sich Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion immer wieder beschwert hat.
Die Große Lüge vergiftet die Möglichkeit des Friedens, da es fast unmöglich ist, mit einem Gegner zu verhandeln, der eine böse existenzielle Bedrohung darstellt. Doch obwohl die Lügen falsch sind, haben sie Anklang in der Öffentlichkeit.
Das liegt daran, dass sie in der langen Geschichte antirussischer Stimmungen mitschwingen, zu der auch der Kalte Krieg und der Rote Schrecken der 1920er Jahre gehören. Darüber hinaus appellieren sie an den Dünkel der „Selbstgerechtigkeit“, der oft ein Kennzeichen des Marsches der Torheit ist.
Wag the dog: Die zunehmende Umarmung der Torheit durch das politische Establishment Europas
Die Große Lüge hilft zu erklären, „wie“ das politische Establishment Europas den Marsch der Torheit verkauft hat, aber das wirft die Frage nach dem „Warum“ auf. Die Antwort ist sowohl einfach als auch kompliziert. Der einfache Teil ist, dass das politische Establishment Europas innenpolitisch versagt hat und nun auf den Abgrund zusteuert. Seine zunehmende Umarmung der Torheit ist ein Versuch, sich selbst zu retten.
Das zeigt sich in Frankreich, wo Präsident Macron sehr unbeliebt ist und die demokratische Legitimität geschwächt hat. Eine auswärtige Kriegsstrategie lenkt die Aufmerksamkeit vom innenpolitischen Versagen auf einen ausländischen Feind. Das ermöglicht es Macron, an militaristischen Nationalismus zu appellieren und sich als Verteidiger von „La France“ zu positionieren.
Eine ähnliche Logik gilt für den britischen Premierminister Keir Starmer, der die politische Strategie der „Triangulation“ verdoppelt hat, bei der die Labour Party die Konservative Partei imitiert. Starmer hat diese Strategie so weit getrieben, dass Labour nur noch dem Namen nach Labour ist, und er hat die Konservativen sogar übertroffen, wenn es um die Kriegslust in der Ukraine geht. Das hat ihn jedoch in ein tiefes politisches Loch gestürzt.
Da nur Konservatismus angeboten wird, bevorzugen rechte Wähler das Echte, während Mitte-Links-Wähler zunehmend abwesend sind. Starmers Reaktion darauf war, das britische Engagement in der Ukraine weiter zu verstärken und sich an militärischen Fototerminen zu beteiligen, in der Hoffnung, Ähnlichkeiten mit Winston Churchill und Frau Thatcher hervorzurufen.
Generell erweisen sich die europäischen Sozialdemokraten als noch militaristischer als die Konser-vativen. Das liegt zum Teil an dem mimetischen Phänomen der Triangulation, bei dem die Sozial-demokraten versuchen, ihre Rivalen zu übertreffen.
Es ist auch auf die beschämende Aufgabe der Opposition gegen den militaristischen Nationalismus zurückzuführen, der die Linke seit den Schrecken des Ersten Weltkriegs geprägt hat. Diese Abkehr hat dazu geführt, dass viele Sozialdemokraten zu Freunden der Torheit geworden sind.
Europas antirussische Feindseligkeit: die langen und verworrenen Wurzeln der Torheit
Der komplizierte Teil des „Warum“ Europa die Torheit angenommen hat, betrifft die langen und ver-worrenen Wurzeln der Torheit, die tief in die Geschichte reichen. Diese Geschichte hat eine institu-tionalisierte antirussische Feindseligkeit gesät, die nun Europas Marsch des Wahnsinns antreibt.
In den letzten siebzig Jahren hat es in Europa an einer eigenständigen außenpolitischen Vision gefehlt. Stattdessen ergab sie sich der US-Führung und besetzte ihr militärisches und außenpolitisches Esta-blishment mit Personen, die eine US-freundliche Perspektive vertreten.
Diese Kapitulation erstreckte sich auch auf die zivile Elite (z. B. Denkfabriken, Eliteuniversitäten und Mainstream-Medien), und Europas militärisch-industrieller Komplex und Wirtschaftsführer schlossen sich ebenfalls an, in der Hoffnung, das US-Militär zu beliefern und Zugang zu den US-Märkten zu erhalten.
Das Endergebnis war, dass Europas außenpolitisches Denken gehackt wurde und Europa sich selbst in einen Satrapen der US-Außenpolitik verwandelte, ein Zustand, der immer noch anhält.
Der Mangel an außenpolitischer Unabhängigkeit führte dazu, dass Europa die von den USA angeführte Osterweiterung der NATO nach dem Kalten Krieg bereitwillig unterstützte. Das Ziel der USA war es, eine neue Weltordnung zu schaffen, in der die USA hegemonial sein würden und kein Land sie herausfordern könnte, wie es die Sowjetunion getan hatte.
Nach dem Masterplan, den der ehemalige Nationale Sicherheitsberater der USA, Zbigniew Brzezinski, skizzierte, umfasste dies einen dreistufigen Prozess. Der erste Schritt war die NATO-Osterweiterung um die ehemaligen Länder des Warschauer Pakts. Der zweite Schritt war die weitere Erweiterung der NATO um die ehemaligen Sowjetrepubliken. Der dritte Schritt würde den Prozess mit der Teilung Russlands in drei Staaten abschließen.
Die Kapitulation Europas vor der US-Führung erklärt auch die parallel überstürzte Osterweiterung der Europäischen Union (EU). Etwaige wirtschaftliche Gewinne aus dem Handel hätten über Freihandels-abkommen leicht zugänglich sein können, was es der europäischen Wirtschaft auch ermöglicht hätte, die billigen Arbeitskräfte Ost- und Mitteleuropas zu ernten.
Die EU-Erweiterung wurde jedoch bevorzugt, obwohl sie finanziell enorm kostspielig war und es in Osteuropa an einer gemeinsamen demokratischen politischen Tradition mangelte. Das liegt daran, dass die Erweiterung die Länder in eine westliche Umlaufbahn einsperrte und Russland unter Druck setzte, wodurch die Osterweiterung der NATO ergänzt wurde.
Schließlich erklären auch idiosynkratische Länderfaktoren, warum Europa sich der Torheit zuwendet. Ein Beispiel dafür ist Großbritannien, das seit langem eine historische Abneigung gegen Russland hegt. Diese Feindseligkeit geht auf das 19. Jahrhundert zurück, als Großbritannien befürchtete, dass die rus-sische Expansion in Zentralasien den britischen Einfluss auf Indien bedrohen würde.
Sie wurde auch von der Angst vor einem zunehmenden russischen Einfluss auf das untergehende Osmanische Reich angetrieben, was den Krimkrieg motivierte. Die moderne britische Feindseligkeit gegenüber Russland wurzelt in der bolschewistischen Revolution von 1917 und der Gründung eines kommunistischen Staates, der Hinrichtung des Zaren und seiner engen Familie sowie dem Zah-lungsausfall der Sowjetunion bei den Krediten aus dem Ersten Weltkrieg aus Großbritannien.
1945, weniger als sechs Monate nach dem Abkommen von Jalta mit der Sowjetunion, schlug Winston Churchill die „Operation Undenkbar“ vor, bei der Deutschland wieder aufgerüstet und der Zweite Welt-krieg gegen Russland fortgesetzt werden sollte. Glücklicherweise lehnte Präsident Truman diesen Vorschlag ab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sponserte der britische Geheimdienst auch einen Aufstand in der Sowjetukraine, der von dem ukrainischen faschistischen Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera angeführt wurde. Diese Geschichte illustriert das Ausmaß der Feindseligkeit gegenüber Russland innerhalb der herrschenden Elite Großbritanniens, und diese Feindseligkeit besteht in der britischen Politik und im Denken der nationalen Sicherheit fort.
Die oben beschriebene lange und verworrene Geschichte ist nun mit dem Ukraine-Konflikt nach Hause gekommen. Angesichts seines Satrapenstatus schloss sich Europa sofort der Reaktion der USA an, trotz der enormen wirtschaftlichen und sozialen Kosten und trotz des Konflikts, in dem es um die Hegemonie der USA und nicht um die europäische Sicherheit ging.
Schlimmer noch, die frühere Osterweiterung der NATO und der EU bedeutet, dass diese Institutionen jetzt Länder (z. B. Polen und die baltischen Republiken) umfassen, die Russland gegenüber tief aktiv abgelehnt sind, was sie zu eifrigen Befürwortern des Marsches der Torheit macht.
Innerhalb der NATO begrüßte Polen bereits vor der russischen Militärintervention in der Ukraine die Stationierung von Raketenanlagen, die möglicherweise eine ernste Bedrohung für die nationale Sicherheit Russlands darstellten. Ebenso haben sich die baltischen Republiken schon vor der Intervention in der Ukraine beharrlich für die Stationierung verstärkter NATO-Truppen auf ihrem Territorium ausgesprochen.
Was die EU betrifft, so hat sie gezielt Russfeinde wie EU-Präsidentin Ursula von der Leyen ernannt. Die jüngste Ernennung in diesem Sinne ist die estnische extremistische Nationalistin Kaja Kallas, die mit der Leitung der Außen- und Sicherheitspolitik der EU betraut wurde. Kallas hat offen die Auflösung Russlands gefordert, und sie war eine eifrige Verfechterin einer antiethnischen russischen Politik, als sie Ministerpräsidentin Estlands war.
Royalistischer als der König selbst: die bitteren politisch-ökonomischen Früchte der Torheit
Ironischerweise sind es die USA unter Präsident Trump, die mit der überparteilichen Strategie des nationalen Sicherheitsestablishments der USA gebrochen haben, sich schrittweise einzukreisen und gegen Russland zu eskalieren.
Dieser Bruch bot Europa die Möglichkeit, sich aus der Falle zu befreien, die durch seinen Mangel an politischer Vision in der Vergangenheit entstanden war. Stattdessen hat sich Europa als plus royaliste que le roi (royalistischer als der König) erwiesen und ist dem Tiefen Staat der USA für nationale Sicherheit treu geblieben.
Sowohl Präsident Macron als auch Premierminister Starmer sprechen nun von einer einseitigen Entsendung französischer und britischer Streitkräfte in die Ukraine. Das verspricht eine massive Eskalation des Konflikts und spiegelt die Dummheit der Ereignisse wider, die Europa in den Ersten Weltkrieg geführt haben.
Auch die Labour-Regierung von Starmer spricht von einer „Koalition der Willigen“, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass sich die Sprache auf die illegale US-geführte Invasion des Irak bezieht.
In der Zwischenzeit drängt die Europäische Union mit dem Segen des politischen Establishments Europas auf einen riesigen Militärausgabenplan in Höhe von 800 Milliarden Euro, der durch Anleihen finanziert werden soll. Die Leichtigkeit, mit der diese Gelder auf den Tisch gebracht wurden, spricht Bände über den Charakter der EU.
Geld für den „militärischen Keynesianismus“ ist leicht verfügbar, aber Geld für die Bedürfnisse der Zivilgesellschaft ist aus Gründen der fiskalischen Verantwortung nie verfügbar. Großbritannien, Deutschland, Dänemark und andere haben ebenfalls eine Erhöhung der Militärausgaben vorge-schlagen.
Die militärisch-keynesianische Wende wird positive makroökonomische Auswirkungen haben und wird vom militärisch-industriellen Komplex Europas unterstützt, der ein großer Nutznießer sein dürfte. Allerdings werden hier Waffen und keine Butter hergestellt.
Schlimmer noch, sie verspricht, eine kriegsgetriebene Wirtschaft zu sichern, die den fiskalpolitischen Spielraum erschöpft und keinen Spielraum für höhere öffentliche Ausgaben für Wissenschaft und Technologie, Bildung, Wohnungsbau und Infrastruktur lässt – die wahren Wohlstand schaffen.
Darüber hinaus wird die militärisch-keynesianische Wende negative politische Folgen haben, da sie das politische Ansehen und die Macht des militärisch-industriellen Komplexes und derjenigen, die den Militarismus unterstützen, stärken wird. Die Feier des Militarismus fließt auch in das Denken der Wähler zurück und fördert breitere reaktionäre politische Entwicklungen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die politisch-ökonomische Frucht des Marsches der Torheit bitter und giftig zu werden verspricht. Um dieses Schicksal zu vermeiden, müssen die europäischen Liberalen und Sozialdemokraten wieder zur Besinnung kommen. Leider sind diese Aussichten düster.
(Eigene Übersetzung eines Blogbeitrages des US-amerikanischen Ökonomen Thomas Palley)