Das durchaus erklärbare Geheimnis der US-Staatsschulden

Amerikas aktuelle „Staatsverschuldung“ beläuft sich auf immerhin 21,5 Billionen US-Dollar.

6 Av 44 St debt clock Feb 2017
US-Staatsschuldenuhr an der Kreuzung 6th Avenue und 44th Street
in Manhattan, New York, Februar 2017

Wenn Politiker und Wirtschaftsexperten über diese „Schulden“ reden (sich sorgen, ärgern, die Hände reiben, mit den Zähnen knirschen oder wie auch immer), nehmen sie implizit – gemeinsam mit ihren Zuhörern, Lesern und potenziellen Wählern – an, dass diese fantastische Summe letztendlich auch zurückgezahlt werden muss.

Das ist es doch was mit Schulden passiert, oder? Denn irgendwann werden sie ja doch fällig! Ebenso geht jeder davon aus, dass der amerikanische Steuerzahler dafür gerade stehen muss. (Schnelle Berechnung dazu: Jeder US-Bürger steht dafür mit 65.950 $ in der Kreide!)

Je nachdem, welcher politischen Mainstream-Ansicht man glauben mag, ist diese „Staatsverschuldung“ entweder eine Krise, die unbedingt zuerst angegangen werden muss (bevor etwas anderes bezahlt werden kann!). Oder etwas, das wir einfach ignorieren können – bis es zum versprochenen „Wirtschaftswachstum“ kommt, mit dem die Bundes-regierung es irgendwie schafft, diese zusätzlichen 65K $ von jedem Bürger einzusammeln.

Solange wir ja versprechen, sie eines Tages bezahlen zu werden, können wir uns gut damit fühlen, noch einen Tag, einen Monat oder ein Jahr ins Land gehen zu lassen, ohne es aber tatsächlich zu tun. In der Zwischenzeit wächst natürlich die „Staatsverschuldung“ irgendwie trotzdem weiter! Zumindest das muss aufhören, erklären wir überzeugt! Unsere Regierung muss aufhören, immer noch mehr Kredite aufzunehmen!

Also beschließen wir, die „Staatsverschuldung“ zu begrenzen. Solange fühlt sich jeder gut damit, bis der Bundesregierung anfangen die Steuergelder auszugehen, um die Ausgaben zu decken, die der Kongress bereits zugesagt hat. Wenn das passiert, wird die Regierung – oder entscheidende Teile davon – in schmerzhafter Weise geschlossen. Und Schuld daran sind natürlich alle, die für diese Ausgaben gestimmt haben – oder aber für all jene Steuersenkungen waren, die dann diese Ausgaben unmöglich gemacht haben. Am Ende, nachdem allesamt ordentlich beschuldigt wurden, ist die Obergrenze für die „Staats-schuld“ notwendigerweise wieder etwas höher in die Wolken gehoben worden, wie Hans‘ Bohnenranke.

Unterdessen ist es natürlich unmöglich, überhaupt über die Notwendigkeit zu diskutieren, neue Dollars auszugeben, um sich mit den schlimmen und kritischen Dingen, die Amerika als eine kollektive Gesellschaft konfrontiert sieht, zu befassen. Wir können unsere gefährlich beeinträchtigten Autobahnbrücken nicht reparieren. Wir können unser Flugverkehrskontrollsystem nicht modernisieren. Wir können unsere mangelhaften, mit Blei verschmutzten Wassersysteme nicht ersetzen. Wir können die Super-Fund-Standorte, in denen Giftstoffe in unser Grundwasser gelangen, nicht aufräumen. Wir können keiner Mutter, die sich einen Job sichern möchte, eine kostenlose Vorschulbetreuung anbieten.

Wir können unser nationales Stromnetz nicht modernisieren und vor Cyberangriffen schützen. Wir können keine gesunde Nahrung und sichere Unterkunft für obdachlose Familien zur Verfügung stellen. Wir können Medicare nicht für jeden Amerikaner bereitstellen. Wir können keine erschwinglichen Wohnungen für Familien bauen, die den Mindestlohn verdienen. Wir können keine Nachschulbildung für die Arbeitskräfte unseres Landes bereitstellen. Wir können keine modernen Verkehrssysteme bauen, die die Überbelastung und den Stillstand in unseren städtischen Zentren und Transitkorridoren beenden.

Wir können nicht einmal damit beginnen, die Verlegung und / oder den Wiederaufbau von Millionen von Quadratmeilen menschlicher Infrastruktur und Siedlungen zu planen, die in den nächsten Jahrzehnten vom steigenden Meeresspiegel überflutet werden. Es gibt einfach nicht genügend Geld, um überhaupt daran zu denken, all diese Dinge zu tun – und die Tatsache, dass wir nicht einmal anfangen können, unsere „Staatsschuld“ abzu-bezahlen, ist eine ständige Erinnerung an diese „Realität“.

Das Seltsame dabei scheint die Tatsache zu sein, dass während all diesem ewigen Feilschen und Händewringen niemand an Amerikas Tür klopft und um Rückzahlung bittet. Im Gegensatz zu Griechenland und Italien, die ständig von der Zentralbank der EU und dem IWF gedrängt werden, ihre Schulden zurückzuzahlen, scheint niemand die USA deshalb unter Druck zu setzen. Im Gegensatz zu Spanien, welches sofort aus Deutschland ermahnt wird, wenn es nur über die Erhöhung seiner nationalen Kreditaufnahme flüstert, hört die USA von niemandem (außer seinen eigenen Politikern und Experten) etwas, wenn sie die Bohnenranke um einige Äste höher wachsen lässt. Wie aber kann das sein? Es sieht tatsächlich fast so aus, als ob – seltsamerweise – niemand da draußen erwartet, dass die Schulden zurückgezahlt werden.

Könnte das wirklich wahr sein?
Diese Verwirrung kann tatsächlich erklärt werden. Wichtiger ist aber, dass diese Erklärung – wenn Sie sie denn akzeptieren – Ihr Verständnis davon verändern wird, was die amerikanische Wirtschaft zu leisten vermag. Und das ist eben exponentiell mehr, als Sie sich das jemals vorgestellt haben.

Das Geheimnis liegt in der Verwendung des Begriffs „leihen“. Allgemein wird er so verstanden, dass etwas, was man ausleiht, vorübergehend von seinem Besitzer (dem Kreditgeber) in eigenen Besitz übergeht – und wenn man „zurückzahlt“, was man ausgeliehen hat, gib man es wieder zurück. Was bei dieser Transaktion oft nicht in Betracht gezogen wird, ist die Tatsache, dass der Besitz des Kreditgebers immer – entweder implizit oder explizit – durch ein „Versprechen“ ersetzt wird (d.h. dem Versprechen, den Besitz zurückzugeben, oft mit einer zusätzlichen Prämie, um den Kreditgeber für seine Umstände zu entschädigen).

Was an der „Kreditaufnahme“ der US-Regierung einzigartig ist – und was den in diesem Zusammenhang verwendeten Begriff seine verwirrende Mehrdeutigkeit gibt – ist die Tatsache, dass das „Versprechen“, das einen geliehenen Dollar ersetzt, einfach eine andere Art von „Dollar“ darstellt. Die Regierung leiht sich einen Dollar von der Wirtschaft und ersetzt diesen durch eine „Schatzanweisung oder -note“, die in der Tat eine spezielle Form von „Dollars“ ist, die verzinst wird. Die Staatsanleihe hat in der Wirtschaft die gleiche Liquidität / Handelbarkeit wie die regulären Dollar, die sie ersetzt hat; daher fällt die Menge an „Geld“ im privaten Sektor nicht um den Betrag, der ihm durch die „Kredit-aufnahme“ entnommen wurde, sondern bleibt gleich wie vor der „Kreditaufnahme“.

Bei der konventionell verstandenen „Kreditaufnahme“ wird das „Versprechen“, welches vom Kreditgeber (entweder implizit oder explizit) gehalten wurde einfach annulliert, wenn das geliehene Ding zurückgegeben wird. Durch die US-Regierung wird das geliehene Ding jedoch NIEMALS zurückgegeben, weil das Versprechen, das an seiner Stelle getreten ist, der Logik nach ja bereits dasselbe darstellt wie das, was ausgeliehen wurde. So bedeutet etwa eine 1.000-Dollar-Staatsanleihe dasselbe wie 1.000 Dollar in bar – nur noch besser, weil mit ihr Zinsen verdient werden! Wenn die Staatsanleihe „fällig“ ist, werden die Dollars, die sie „enthält“, einfach in „normale“ Dollars umgewandelt, oder sie werden generell in eine neue Staatsanleihe konvertiert.

Deshalb gibt es niemanden, der die US-Regierung dazu zwingt, das zurückzuzahlen, was sich die Regierung „geliehen“ hat. Sie wurden bereits durch die Staatsanleihen zurückgezahlt, die sie im Austausch für die „verliehenen“ Dollars erhalten haben. Wie man sieht, hat der für diese Transaktion verwendete Begriff „Kredit“ dieselbe paradoxe Mehrdeutigkeit wie der Begriff „leihen“. Was wirklich passiert ist, dass eine Art von Geld einfach für ein anderes Geld gehandelt wird.

Das überraschende Ergebnis dieser Transaktion ist, dass, wenn die Regierung anschließend die „geliehenen“ Dollars in die Wirtschaft zurückgibt, eine Nettozunahme der monetären Vermögenswerte im privaten Sektor gleich der Anzahl der „geliehenen“ Dollars erfolgt. Der Prozess der Schatzanleihen-Auktion erzeugt „neue“ Dollar, die zuvor nicht existierten – Dollar, die die US-Regierung jetzt besitzt und die sie somit auch ausgeben darf. Und genau das tut sie dann: Sie gibt die neuen Dollars aus um damit für Dinge zu bezahlen, die nach Ansicht des Kongresses der amerikanischen Gesellschaft zugute kommen.

Die Konsequenzen aus dieser Erklärung
Erstens ist die „Staatsverschuldung“ der USA funktional gesehen überhaupt keine Schuld. Es ist einfach eine Aufstellung der US-Staatsanleihen, die die Regierung ausgegeben und dann für US-Dollar gehandelt hat, die bereits im privaten Sektor existierten. Diese Schatzanweisungen sind in der Tat zinsbringende Festgeldkonten für die Anleiheinhaber. Sie persönlich haben möglicherweise einige Ihrer Ruhestandsdollars gegen eines dieser „Sparkonten“ eingetauscht und Sie wissen aus erster Hand, dass sie definitiv echtes Geld enthalten! Die „Staatsschuld“ ist also in Wirklichkeit ein „nationales Sparkonto“.

Dies stellt, gelinde gesagt, eine überraschende aber auch befreiende Perspektive dar. Es bedeutet, dass all das politische Drama und die Aufregung darüber, wie wir unsere „Staatsschulden“ zurückzahlen werden, einfach unnötig sind. Noch besser, das ganze Feilschen kann durch eine völlig andere Konversation ersetzt werden: Wofür soll unsere Regierung die neuen Dollars, die durch den Treasury Bond-Auktionsprozess geschaffen wurden, ausgeben? Die bereits weiter oben erwähnte kurze Liste der aufgeschobenen Bedürfnisse könnte dafür ein Anfang sein.

Die außergewöhnlichste Konsequenz ist jedoch, dass die Erklärung, die wir gerade skizziert haben, eine übergeordnete Sichtweise auf die moderne US-Wirtschaft aufstellt, die noch nie zuvor so klar ausfiel:

Die Wirtschaft – das heißt, die Schaffung und das Ausgeben von Dollars, um von Menschen definierte Ziele anzustreben und zu erreichen – besteht nicht nur aus einem, sondern gleich zwei Geldschöpfungsprozessen. Der erste (und am häufigsten verstandene) Prozess ist das US-Bankensystem: Banken „erschaffen“ neue Dollar, wenn sie Kredite vergeben. Dies ist der Motor des amerikanischen Kapitalismus, und die neuen Dollars, die vom Bankensystem in Umlauf gebracht werden, sind speziell (und ausschließlich) darauf ausgerichtet Ziele zu erreichen, die mit der Generierung von persönlichen oder korporativen finanziellen Profiten in der Marktwirtschaft verbunden sind.

Der zweite Prozess der Geldschöpfung ist, wie unsere obige Erklärung deutlich gemacht hat, der Vorgang, den wir gewöhnlich als „Kreditaufnahme durch die Regierung“ bezeichnen. Die Emission und Versteigerung von US-Schatzanleihen, wie wir gerade festgestellt haben, bedeutet kein „Leihen“ von Geld, sondern dessen Neuerschaffung. Am wichtigsten ist dabei aber, dass die durch diesen Prozess erzeugten und dann von der US-Regierung ausgegebenen Dollars nicht für die Verfolgung persönlicher oder geschäftlicher finanzieller Profite verwendet werden. Sie sind stattdessen vorgesehen, um die kollektiven Ziele – und die kollektiven Bedürfnisse – der gesamten Gesellschaft zu verfolgen.

Das Problem, mit dem wir heute zu kämpfen haben, ist, dass wir, während wir weiterhin den ersten geldschaffenden Prozess – das Bankensystem – ermutigen, so viele Dollars zu „schaffen“ wie amerikanische Unternehmen und Verbraucher rentabel ausgeben können, wir gewohnheitsmäßig den zweiten Geldschöpfungsprozess einschränken, indem wir ihn unsere „Staatsschuld“ nennen und fälschlicherweise glauben, dass er uns belasten würde. Indem wir dies tun, begrenzen und beschränken wir stark – und unnötig – das, was wir zu Gunsten dessen tun, was man unsere kollektive „Sozialwirtschaft“ nennen könnte. Dies ist ein Fehler, den wir ab jetzt nicht mehr machen sollten.

(Eigene Übersetzung eines Blogbeitrages des amerikanischen Architekten und wirtschaftswissenschaftlichen Quereinsteigers J.D. Alt)